„Da stelle mer uns ma janz dumm“
20. Januar 2019 von Thomas Hartung
Mitte Januar 1944 entsteigt ein kleiner Mann mit spitzbübischem Gesicht und fünf Kartons unter dem Arm dem Nachtzug nach Ostpreußen und steht Minuten später am Schlagbaum des Führerhauptquartiers: Heinz Rühmann, Produzent und Hauptdarsteller der „Feuerzangenbowle“, deren Filmrollen er im Gepäck hat. Am Tag zuvor hatte er erfahren, dass Reichserziehungsminister Bernhard Rust die Freigabe des Streifens verhinderte, weil durch den Krieg Lehrer an den Schulen fehlten und die ordnungsgemäße Schulerziehung dadurch ohnehin schon erschwert sei: Ein solcher Film würde die Autorität der Schule und der Lehrer geradezu gefährden. Nicht mit Rühmann, der prompt beginnt, seine Beziehungen spielen zu lassen.
Ein Adjutant von Reichsmarschall Hermann Göring nimmt dem Starschauspieler den Film ab und weist ihm eine Unterkunft in den Offiziersquartieren zu. Nach zwei Tagen erhält er die Nachricht, dass Göring den Film im Kreise seines Stabes sich angesehen, darüber köstlich ergötzt und mit Hitler gesprochen habe. Der soll lakonisch gefragt haben: „Ist dieser Film zum Lachen?“ Als Göring bejahte, erwiderte Hitler nur: „Dann ist dieser Film sofort für das deutsche Volk freizugeben.“ Propagandaminister Joseph Goebbels notiert am 25. Januar in sein Tagebuch:
„Der neue Rühmann-Film ‚Feuerzangenbowle‘ soll unbedingt aufgeführt werden. Der Führer gibt mir den Auftrag, mich nicht durch Einsprüche von Lehrerseite oder von Seiten des Erziehungsministeriums einschüchtern zu lassen.“

Tauentzienpalast. Quelle: http://photos.cinematreasures.org/production/photos/165150/1461081144/large.jpg?1461081144
Nur drei Tage später feiert der Pennälerklamauk in den beiden Berliner UFA-Kinos „Tauentzienpalast“ und „Königstadt“ Premiere; letzterer war mit 1500 Plätzen eins der größten Lichtspielhäuser Deutschlands. Die Zahl der Premierenbesucher ist nicht überliefert, könnte aber durchaus stattlich gewesen sein: Wurden 1939 bereits erstaunliche 624 Millionen Besucher gezählt, lösten 1943 – dem Jahr, in dem der Krieg mit Stalingrad seine Wende erlebt – insgesamt 1,116 Milliarden Zuschauer eine Kinokarte. Während deutsche Städte im Bombenkrieg in Schutt und Asche gelegt werden, schöpfen die Zuschauer Hoffnung in der heilen Kinotraumwelt. Auch in Berlin, wo in der Nacht zuvor 1077 englische Flugzeuge 3715 Tonnen Bomben abwarfen.
Nach dem Krieg sollte es Jahrzehnte dauern, bis der Streifen wieder aufgeführt und auch im Fernsehen gespielt werden konnte: zu Weihnachten 1964 im DDR-Fernsehfunk, zu Weihnachten 1969 im ZDF. Dort erreichte er eine Einschaltquote von 53 %, das entsprach damals 20 Millionen Zuschauern. Nach einem umstrittenen Deal der Murnau-Stiftung, die seit 1966 das „reichseigene Filmvermögen“ der 1953 aufgelösten deutschen Filmproduktionsgesellschaften auswertet, mit Medienmogul Leo Kirch behielt der zwar Fernseh- und DVD-Rechte, lizenzierte den Film aber für öffentliche Aufführungen an Dr. Cornelia Meyer zur Heyde, eine Kleinunternehmerin aus dem westfälischen Münster – die hier im Kreisvorstand der AfD sitzt. Ihre „Goldie-Film“ verleiht den Streifen pro Stadt nur einmal im Jahr, weil sie „ihren Schatz nicht verschleißen“ wolle, so zur Heyde in der WELT. „Warum jede Vorführung des Klassikers einer AfD-Politikerin Geld bringt“, schlagzeilt prompt der verärgerte juvenile SPIEGEL-Ableger Bento. Inzwischen ist er der meistgezeigte deutsche Film der Vierzigerjahre.

Studentenparty. Quelle: https://scontent-lhr3-1.cdninstagram.com/vp/079435848414dbac3e111b99d30e1edb/5CCA8C49/t51.2885-15/e35/46616780_374398819994877_2736351767328113577_n.jpg?_nc_ht=scontent-lhr3-1.cdninstagram.com
Und Geld bringt er besonders in Hochschulstädten: Der Klamaukstreifen gilt noch immer als absoluter Studi-Kult. Jahr für Jahr finden sich in der Vorweihnachtszeit zehntausende Studenten in Hörsälen der ganzen Republik zusammen, um den Film zu sehen. Diese Vorführungen sind Event-Kino im „Rocky Horror“-Format: Zeigt Pfeiffer verkleidet als Professor Crey anhand eines Feuerwerks, wie Radium im Dunkeln leuchtet, entzündet auch die Studentenschaft Wunderkerzen. Verschläft Pauker Schnauz, weil Pfeiffer seine Uhren verstellt hat, klingeln im Auditorium die mitgebrachten Wecker. Wird im Chemieunterricht die Vergärung von Alkohol anhand von selbstgebrautem Heidelbeerwein behandelt („Aber jähder nohr einen wähnzigen Schlock“), knallen im Publikum die Sektkorken. Und taucht der zackige Geschichtslehrer Dr. Brett auf, wird er als Nazi ausgebuht.
„Vertreter einer verlorenen Individualität“
„Das seltsame Glück dieses Films steckt in der vollständigen Rückkehr des Helden in eine unschuldige Kindheit. Stellvertretend für sein Publikum unternimmt er den Rückzug aus der Wirklichkeit, indem er noch einmal jenen magischen Ort aufsucht, an dem alles noch einmal beginnen und sich vielleicht ganz anders entwickeln könnte“, versucht sich Georg Seeßlen in epd Film der Faszination zu nähern, die dem Streifen bis heute innewohnt. Ein Faktor ist die Präsenz des Hauptdarstellers, dem sein enger Freund Heinrich Spoerl das Drehbuch nach seinem eigenen Roman „auf den Leib“ schrieb. Ein weiterer ist die Geschichte an sich, die in einer undatierten „guten alten Zeit“ um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert spielt und Schülermützen, Pickelhauben und Kutschen kennt.

Rühmann als Pfeiffer. Quelle: https://www.prisma.de/cdn/img/default/13/120298_b51194fb0606bcb73ff1c6b2d7777c69_1280re0.jpg
In der Rahmenhandlung tauscht eine Herrenrunde bei einer Feuerzangenbowle gerührt und amüsiert Erinnerungen an Schülerstreiche aus. Einer der Herren, der 41jährige Schriftsteller Dr. Johannes Pfeiffer („Mit drei F – ein F vor dem Ei, zwei F hinter dem Ei“), lernte allerdings als Privatschüler die Freuden des öffentlichen Schullebens nie aus eigener Anschauung kennen: „Der arme Pfeiffer, er hat den besten Teil seiner Jugend verpasst.“ Die Runde beschließt, ihn in die Oberprima eines Kleinstadtgymnasiums einzuschleusen. Hier darf er dann, so die Binnenhandlung, in steter Auseinandersetzung mit kauzig-komischen Lehrern seinen Nachholbedarf an Streichen und Pennälervergnügungen befriedigen.
Der unzeitgemäße Klassenclown bekommt am Ende, zur Belohnung für die Rückkehr in die Wirklichkeit, quasi zur Versöhnung mit dem Leben noch die minderjährige Tochter des Direktors zur Braut, der nicht zufällig „Zeus“ genannt wird und genau wie der Göttervater aussieht. Diese Passgenauigkeit der Schauspieler zu ihren Typen ist ebenfalls ein Erfolgsfaktor des Films, allen voran die drei Sachsen Erich Ponto als Professor Schnauz („Sätzen Se säch“), Hans Leibelt als Direktor Knauer und Walter Werner als Pfeiffers Hausdiener. Hier spielt unbedingt das gezeichnete Pädagogenbild mit hinein: die Lehrer als unheldische, von altmodischer Väterlichkeit bestimmte Sachwalter einer vom Nationalsozialismus nicht infizierten Generation, die zugleich verspottet und geliebt werden. „Sie sind Vertreter einer verlorenen Individualität; jeder zelebriert seine gestischen, logischen und vor allem sprachlichen Macken mit einer Reinheit, die sozusagen bereits die vorweggenommene Parodie ist“, meint Seeßlen.

Erich Ponto als Schnauz. Quelle: https://media1.faz.net/ppmedia/aktuell/2813190580/1.3812157/article_multimedia_overview/professor-schnauz-und-sein.jpg
Der Film stammt von einem „Regisseur, dessen großes Verdienst es wohl war, den Schauspielern nicht im Weg zu stehen“, mokiert sich Seeßlen: Helmut Weiß, ein guter Freund von Rühmann. Der Streifen war Weiß‘ Regiedebüt und ist bis auf den heutigen Tag seine bekannteste und erfolgreichste Arbeit geblieben. Er war auch der erste Regisseur, der nach Kriegsende in Westdeutschland wieder einen Film drehen durfte: „Sag’ die Wahrheit“, ebenfalls ein Rühmann-Projekt, das dieser 1945 begonnen hatte, wegen des Krieges jedoch nicht zu Ende bringen konnte. Sein erfolgreichster Nachkriegsfilm als Regisseur war das Lustspiel „Drei Mann in einem Boot“, in dem Hans-Joachim Kulenkampff, Heinz Erhardt und Walter Giller drei Freunde spielen, die für ein paar Tage Reißaus vor dem Alltag und ihren Frauen nehmen: in Seeßlens Augen „belangloser Unfug“.
Und die „Feuerzangenbowle“ wurde gefilmt von Ewald Daub: Ihm ist es zu verdanken, dass Heinz Rühmann überhaupt die Rolle Pfeiffers spielte, denn der fand sich zu alt, um einen Primaner glaubhaft darstellen zu können. Erst Daubs Probeaufnahmen überzeugten ihn. Der Braunschweiger hatte eine Fotoausbildung absolviert, war Kriegsberichterstatter an der französischen Front und arbeitete zwischen 1927 und 1934 mit dem Sensationsdarsteller und Regisseur Harry Piel zusammen. Nach dem Krieg führte er in Berlin ein Fotogeschäft, seine Filmographie zählte über 140 Filme. Da er Vollwaise war, unterstellen ihm Branchenkenner eine aktive Sehnsucht nach „schönen Bildern“, die sich im Film durchaus vermittelt und auch zu seinem Erfolg beigetragen haben dürfte.
„Sehnsucht nach Frieden und Versöhnung“
Die nostalgische Rückkehr in die Jugendzeit hat dem Film freilich eine Debatte nicht erspart, die Mitte der Siebzigerjahre mit einem provozierenden Aufsatz Karsten Wittes begann. „Wie faschistisch ist die ‚Feuerzangenbowle’?“ fragte Witte, der später als Erster die neu geschaffene Professur für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin übernahm und die gesammelten Schriften Siegfried Kracauers herausgab. Mitte der Neunziger folgte Georg Seeßlens Verdikt, sie sei kein guter und kein böser Film, aber „leider auch kein unschuldiger“.
So heißt es im Begleittext des Deutschen Historischen Museums: „Nur wenige Wochen nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad begannen die Dreharbeiten für ‚Die Feuerzangenbowle‘. Während immer neue Jahrgänge von Schülern zur Armee mussten, die Juden Europas deportiert und ermordet wurden und Bomben auf deutsche Städte fielen, flüchtete der Film aus der Gegenwart“. Für Seeßlen gehört er
„zu jenen schizophrenen Filmen aus der Spätzeit des Nationalsozialismus, die zugleich dem Regime dienen und über sein Ende hinausblicken wollen, die voller offener oder unterschwelliger Nazi-Ideologeme sind, und zugleich von einer Sehnsucht nach Frieden und Versöhnung zeugen, die sozusagen schon mit der Verdrängung der Schuld beginnt, während sie noch geschieht.“

Brett und Bömmel. Quelle: http://3.bp.blogspot.com/-CKAKnlILjxs/UV1mJL8bAzI/AAAAAAAAFdk/aCYqsxOMujQ/s1600/vlcsnap-2013-04-04-13h19m48s143.png
Als ein solches „Nazi-Ideologem“ benennt Hanns-Georg Rodek vor sechs Jahren in der WELT die Erziehungsmethoden, wie sie Oberlehrer Dr. Brett Lehrer Bömmel („Da stelle mer uns ma janz dumm“) erläutert: „Junge Bäume, die wachsen wollen, muss man anbinden, dass sie schön gerade wachsen, nicht nach allen Seiten ausschlagen, und genauso ist es mit den jungen Menschen. Disziplin muss das Band sein, das sie bindet – zu schönem geraden Wachstum!“ Allerdings, so der Autor unter der bezeichnenden Schlagzeile „Schmunzelt! Lacht! Aber denkt nicht an Stalingrad!“, ließe sich das Ideal vom „schönen geraden Wachstum“ nicht nur mit der NS-Ideologie assoziieren, welche die Arier als überlegen propagierte: Es ließe sich auch assoziieren mit einem „geraden Wirtschaftswachstum“, in dessen Namen junge Leute „vom Sprachenlernen im Kindergarten über das Zwölfjahresabitur bis zum durchreglementierten Studium“ wieder rigoros angebunden würden.
Benjamin Maack hatte sich im SPIEGEL schon fünf Jahre zuvor mit der Rolle Heinz Rühmanns auseinander gesetzt, der 1940 zum Staatsschauspieler ernannt worden war und für den während der Herrschaft Hitlers – obwohl er nie in die NSDAP eintritt – die Zeit seiner größten Erfolge anbricht, während andere wie Billy Wilder und Marlene Dietrich dem Reich längst den Rücken gekehrt haben. Rühmann selbst, so betonte er später stets, wollte immer nur Filme machen, die das Publikum erfreuen. Einige der jungen Schauspieler, die seine Klassenkameraden gespielt hatten, erlebten die Premiere nicht mehr – sie waren nach dem Dreh direkt an die Front geschickt worden und gefallen. Um das zu verhindern, hatte Rühmann noch versucht, die Dreharbeiten möglichst lange hinauszuzögern – vergeblich.

Im Chemieunterricht. Quelle: https://static.kino.de/wp-content/gallery/die-feuerzangenbowle-1944/feuerzangenbowle-die-heinz-rhmann-8-rcm950x0.jpg
„Vielleicht hat sich Rühmann damals wirklich manchmal gewünscht, noch einmal wie in der ‚Feuerzangenbowle‘ einfach ein Schüler zu sein, in einer heilen, überschaubaren Welt und frei von jeder Verantwortung“, mutmaßt Maack. Für ihn hat der Schülerklamauk seinen glaubwürdigsten und wehmütigsten Moment in seiner letzten Szene, da sich Pfeiffers Ausflug zurück in die Schulzeit als Traum entpuppt: „Wahr sind nur die Erinnerungen, die wir in uns tragen, die Träume, die wir spinnen, und die Sehnsüchte, die uns treiben. Damit wollen wir uns bescheiden.“ Solche Bescheidenheit hätte auch den Urhebern gut gestanden, die sich 1970 an einer Neuverfilmung und 2004 an einem Musical versuchten – beide Werke blieben ebenso uncharmant wie erfolglos.