Jung. Erfolgreich. Orientierungslos?
7. April 2011 von Thomas Hartung
Es ist schon seltsam: da lasse ich mich gelegentlich Guttenberg über die Generation der Bübchenkultur aus, gelegentlich Fukushima über Halbwertszeiten, gelegentlich Texthonorare über Ethik… und plötzlich geht die „Welt“ in die Offensive und fragt: „Ist die Welt nicht völlig durchgedreht?“
1. Beispiel FDP: 49jährige werden Frührentner, ein 38jähriger soll den Generationenwechsel vollziehen und hat angekündigt, das selbst nur bis 45 zu machen… in einem Land, das die Rente ab 67 diskutiert. Wo, wie und warum ist die Zwischengeneration der Vierziger abhanden gekommen? Jene Zwischengeneration, die sich während und nach der Wiedervereinigung mit den Erfahrungen zweier Systeme mit Stärken und Schwächen daranmachen wollte, das Land zu verändern – und dann, chancenlos, aufgesogen wurde? Wenn ich jetzt mit 49 in Rente ginge, könnte ich gerade mal meine Warmmiete nebst Handy und Internet bezahlen. Prompt passiert, was seit Jahren diese halbwegs normalen und vor allem anständigen Denker anmahnten, was aber bis letzte Woche nicht gehört wurde – jetzt heißt das ganze „Lebenswirklichkeit“, die mehr in den Blick genommen werden müsse. Ja gehts noch? Wenn laut Silvana Koch-Mehrin die Partei stärker auf die Verbindung zwischen ihrer Politik und der Lebenswirklichkeit setzen müsse, weil beides nicht auseinanderklaffen dürfe, frage ich mich, was für eine irreale Politik in diesem Land bis dato gemacht wurde! Das fängt an bei der Forderung, mehr Netto vom Brutto zu wollen, aber gleichzeitig die Kindergartengebühren zu erhöhen, und hört nicht auf beim Mindestlohn, hier schicken sich ja seit gestern die Liberalen an, sogar die Linken zu überholen… Hier fehlt ein Stück Geschichte, hier wurde übersprungen, was uns irgendwann einholt – mit bösem Erwachen.
Peter Sloterdijk hat das jetzt höchst zynisch unter der Überschrift „Liberalismus steht zur Stunde eher für Habsucht – und nicht für Generosität“ in der „Zeit“ kommentiert und zunächst befunden: „Ohne Zweifel haben die Freien Demokraten ihr ideologisches Eigenkapital im Rausch eines spekulativen Jahrzehnts verspielt. Sie haben den psychopolitischen Markt nicht mehr verstanden und sich in gefährliche Derivatgeschäfte mit den Enttäuschungen der anderen gestürzt, ohne sich ernsthaft auf die Aufgabe einzulassen, die eignen Werte zeitgerecht zu aktualisieren.“ Kernsätze sind für mich: „Sollte es je zu einer intellektuellen Regeneration des politischen Liberalismus kommen, sie müsste von der Erkenntnis ausgehen, dass Menschen nicht nur habenwollende, giergetriebene, süchtige und brauchende Wesen sind, die freie Bahn für ihre Mangelgefühle und ihren Machthunger fordern. Sie tragen ebenso das Potenzial zu gebenwollendem, großzügigem und souveränem Verhalten in sich.“
Das politische Amt aber ist zum Erfüllungsgehilfen des Wirtschaftsfeudalismus verkommen. Es werden die egomanen Bedürfnisse einer verschwindend kleinen Gruppe auf Bestellung politisch umgesetzt. Das Blochsche „Prinzip Hoffnung“ pervertiert: Wir machen das, was nötig wäre, uns aber weh täte, nicht und verschieben es auf morgen – in der Hoffnung, dass wir es dann (aus welchen Gründen auch immer) nicht mehr machen müssen…
Jürgen Habermas hatte das mit primär europapolitischem Blick schon in der „Süddeutschen“ bitterböse auf mehrere Punkte gebracht:
- man könne nicht mehr erkennen, worum es geht, ob es überhaupt noch um mehr geht als den nächsten Wahlerfolg
- eine demokratische Wahl soll ein naturwüchsiges Meinungsspektrum nicht bloß abbilden; vielmehr das Ergebnis eines öffentlichen Prozesses der Meinungsbildung wiedergeben
- die politischen Eliten setzten unverfroren die Entmündigung der Bürger fort, auch die deutsche Politik folgt schamlos dem opportunistischen Drehbuch der Machtpragmatik
- Politik befände sich heute allgemein in einem Aggregatzustand, der sich durch den Verzicht auf Perspektive und Gestaltungswillen auszeichnet, die wachsende Komplexität der regelungsbedürftigen Materien nötige zu kurzatmigen Reaktionen in schrumpfenden Handlungsspielräumen: als hätten sich die Politiker den entlarvenden Blick der Systemtheorie zu eigen gemacht, folgten sie schamlos dem opportunistischen Drehbuch einer demoskopiegeleiteten Machtpragmatik, die sich aller normativen Bindungen entledigt habe
- Talkshows richteten mit ihrem immer gleichen Personal einen Meinungsbrei an, der dem letzten Zuschauer die Hoffnung nimmt, es könne bei politischen Themen noch Gründe geben, die zählen
2. Beispiel Atomkraft: aufgrund ihre Prinzipientreue gelten die Grünen inzwischen als konservativ, die Koalition sieht sich als „Manager der Energiewende“? Haben eben die Liberalen die Linken überholt, überholen jetzt die Christdemokraten die Grünen? Wer steht in dieser Republik eigentlich für was? Wer hält zu wem? Und vor allem: Wem will man noch glauben? „Alles ist gleich gültig und also gleichgültig“ klagte schon Peter Turrini. Hier wird Profillosigkeit als Profil verkauft. Wenn Politiker nachhaltig deutlich machen, wofür sie stehen, können die Wähler nach Inhalten entscheiden. Wenn alle Politiker dasselbe versprechen, entfällt dieses Entscheidungskriterium, und den Wählern bleibt nichts anderes übrig, als nach Glaubwürdigkeit zu wählen.
3. Beispiel Tourismus: das Volk muss, fordert die „Welt“, zu den abgebrannten Brennstäben ins Abklingbecken, um sich zu erholen. Da fühle ja selbst ich mich bei DeLillos Interpretation, dass Orte der nuklearen Endlagerung eines Tages zu wichtigen Gedenkstätten werden könnten, um Lichtjahre überholt. Sind wir wirklich alle „ein bisschen überfordert“?
Aber – glaubt man den Schlagzeilen – wer ist das heute nicht? Laut der jüngsten „Bitkom“-Studie überfordert die Informationsflut Deutschland, laut „Handelsblatt“ überfordert die FDP-Krise Guidos Erben, laut „Focus“ fühlen sich deutsche Richter überfordert, laut „Berufsverband Deutscher Psychologen“ sind Familien überfordert, laut „FTD.de“ überfordert der AKW-Stresstest die deutschen Altmeiler…
Hallo Erde? Was hier los ist, weiß ich auch nicht. Noch nicht. Lichtenberg fällt mir ein, eins seiner Sudelbüchlein – wie sehr sich doch die Ansichten wiederholen: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber soviel kann ich sagen: es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“ Aber selbst in Wendezeiten meinten sensible Köpfe, dass es damit nicht so weit her sein dürfte. „Alles wird besser, aber nichts wird gut“, sang „Silly“ nach Karma–Text. Derzeit meine ich: „Alles wird anders, aber nichts wird besser“.
Schade eigentlich.