„Viel Ungeheures ist, doch nichts so ungeheures wie der Mensch.“ (Sophokles)
18. April 2011 von Thomas Hartung
Nach diversen Artikeln und Debatten – im Gefolge von Guttenberg, Fukushima, FDP & Co. – hat jetzt Matthias Matussek auf SPON einen Artikel publiziert, dessen Überschrift fast der Science Fiction entnommen sein kann: „Der neue Mensch“; zusammengeschrieben aus Äußerungen von Dahrendorf, Weimer und Sloterdijk. Quintessenz: „Vielleicht sind einschneidende Ereignisse nötig, um zukunftsfähiges Handeln zu befördern. … Es geht um Werte wie Bedürfnisaufschub, Disziplin, Dienst, Pflicht.“ Hm.
All das kann und will ich jetzt (Montag) nicht kommentieren, sonst verpasse ich Mittwoch meine Vorlesung… Aber „neuer Mensch“ – das heißt mindestens Mentalitätswandel und ist ein spannendes Feld, denn gerade jetzt reicht das publizistische Spektrum vom „Lob des Mittelmaßes“ über den „neuen Liberalisten“ oder den „homo credens der neuen Bescheidenheit“ bis zum „großen Einzelgänger… Nichtmitmacher … neuen Menschen in der Tradition Nietzsches“. Starker Tobak. Welcher verspricht „Weltgesundung“? Ich beschränke mich auf die Extreme.
Der Mittelmäßige ist es sicher nicht. Dass jener, dessen Ehrgeiz größer ist als seine Fähigkeiten, schon immer der schlimmste Feind ist, wusste schon Goethe. Das Problem scheint heute zu sein, dass die breite Masse des Mittelmaßes immer „besonderer“, Superstar, Topmodell oder was auch immer werden will – und dies nicht leisten kann. Es gibt Bessere und im Gegensatz dazu viele Gute, mit ein bisschen Gelassenheit sollten wir es schaffen, jedem das Seine zu gönnen. Das ist das eine. Das andere ist komplizierter: wie gut muss man sein, um nicht nur als intelligent zu gelten, sondern sich mit dieser Intelligenz auch als Machtfaktor und damit gesellschaftsleitend, eben „zukunftsfähig“ zu positionieren? Hier kommt sie wieder durch, die ewige Metapher ohne realitere Entsprechung: den Zusammenhang zwischen „Eliten“ und „Intelligenz“ gibt es nicht. Eliten sind soziale Konstrukte, die sich über Macht und Herrschaft herstellen, nicht über Intelligenz – mitunter reicht dafür ja sogar die kreatürliche Bauernschläue völlig aus (leider, bin ich oft versucht zu ergänzen). Weil die Intelligenteren nicht automatisch „Elite“ sind und weil innerhalb von Eliten nicht automatisch die „intelligenteste“ Idee handlungsleitend ist, wird immer Nivellierung stattfinden. Und zum zweiten Male: leider. Soll also der fröhliche Dilettantismus hochleben? Heißt das für das „Mittelmaß“, dass mittelmäßige Anstrengung, mittelmäßiger Einsatz, Feigheit oder „lass andere mal“ doch sehr ehrenwert sind? Ich glaube nicht, dass wir uns auf Dauer in einer Gesellschaft einrichten wollen, die unsere schlechtesten Eigenschaften kultiviert – das will ich ausdrücklich auch in den sog. „Liberalen“ verstanden wissen.
Was ist dann also mit dem „über sich Hinausgreifenden“, der die Egoismen von Nationen und Unternehmen ablehnt? Sloterdijk führt an Athleten, Künstlern und Mönchen vor, was er „Anthropotechnik“ nennt: der Mensch wird zum Übenden, und als Übender ist er ein Spezialist der Askese. Wir lebten in einer Situation, so Sloterdijk, in der die Siege des Eigenen nur mit der Niederlage des Fremden zu bezahlen waren. Doch nun habe die Weltgesellschaft den „Limes“ erreicht. Statt Kommunismus empfiehlt Sloterdijk: „Ko-immunismus“. Ein gemeinsames Abwehrsystem gegen das Abkippen in die Barbarei, die durchaus in Sichtweite liegt. Ko-Immunismus: „Eine solche Struktur heißt Zivilisation. Ihre Ordensregeln sind jetzt oder nie zu verfassen. Unter ihnen leben zu wollen würde den Entschluss bedeuten: in täglichen Übungen die guten Gewohnheiten gemeinsamen Überlebens anzunehmen.“
Hehre Worte. Das Problem dieser Übenden: sie sollen üben, was das Mittelmaß sich längst anmaßt zu können. Einzelgänger, Nichtmitmacher… eben alle mit jenem Schuss Genie sind ungesellig und unkommunikativ, haben oft wenig Freunde, selbst wenn sie gute Kumpels sind. Denn es kann kaum einer mit ihnen mithalten, und ihre herausragende Stellung erregt Neid. Unkommunikativ sind sie oft auch, weil sie von den meisten einfach nicht verstanden werden – im Gegensatz zum äußerst geselligen Mittelmaß, das eine Art Vogelschwarmprinzip beinhaltet: der Mittelmäßige schafft es stets, im Schwarm mitzuhalten, mit dem Schwarm zu kommunizieren. Wahre Exzellenz langweilt sich in der täglichen Routine bspw. eines Angestelltendaseins schnell zu Tode. Das gesunde Mittelmaß hingegen freut sich an seinen täglichen kleinen Triumphen über die Tücken des Alltags. (Nebenbei: entsprechend werden auch nicht die „besten Köpfe“ in der Wissenschaft gefördert, sondern nur jene, die in ihrem Mittelmaß immerhin gelernt haben, Antragsprosa so zu verfassen, dass sie den Wünschen des Förderers zu entsprechen scheint – immerhin, auch das eine fast genialische Leistung.)
Und weiter, schon Lukács erkannte: „Bürgerlicher Beruf als Form des Lebens bedeutet in erster Linie das Primat der Ethik im Leben, dass das Leben durch das beherrscht wird, was sich systematisch, regelmäßig wiederholt, durch das, was pflichtgemäß wiederkehrt, durch das, was getan werden muss ohne Rücksicht auf Lust oder Unlust. Mit anderen Worten: die Herrschaft der Ordnung über die Stimmung, der Dauernden über das Momentane, der ruhigen Arbeit über die Genialität, die von den Sensationen gespeist wird.“
Sensationen – soso. Aber ist die Welt derzeit nicht voll davon? Wie also könnte ein Kompromiss aussehen? Ich weiß es nicht. Ich finde, es gibt eine Art soziales Koordinatensystem: x ist die Erotik-, y die Machtachse. Der Mittelmäßige kann sich hochdienen oder hochschlafen. Der Geniale kann sich hochdenken oder hochkaufen. Aber – zum dritten Male „leider“ – während das Denken in der Renaissance noch funktionierte, ist es heute kaputt. Allenfalls bekommt man so – wenn überhaupt – ein wenig Einfluss. Wer Geld hat, hat meistens Macht. Wer Macht hat, ist Elite. Wer Elite ist, bestimmt. Und bestimmt damit auch die Zukunftsfähigkeit. Aber gilt heute wirklich noch Hölderlins „Hyperion“, wonach diejenigen die Erde zur Hölle gemacht haben, die vorgaben, aus ihr ein Paradies machen zu wollen – kippt dieses Verdikt nicht in sein Gegenteil? Denn in diesem Mechanismus kommt seit ca. einem Jahrzehnt mehr und mehr Mittelmaß in Positionen, die es nicht ausfüllen kann. Und damit schließt sich der Kreis zu Dahrendorfs Forderung der „einschneidenden Ereignisse“. Wir lernen offenbar wirklich nur durch Versuch-Irrtum. Leider.
Eine aktuelle Betrachtung moniert nun – aus reziproker Perspektive – dass eine Trias aus Nichtrauchen, Nichttrinken und Nichtfleischessen am deutlichsten jene Abstinenzmentalität repräsentiere, die sich wachsender gesellschaftlicher Zustimmung erfreut. Ergo erhebe sich die Frage, was es für die Emotionslage einer Gesellschaft bedeutet, wenn sie Abstinenz, also das Nichttun von etwas, das Unterlassen kultureller Gewohnheiten zur letzten realisierbaren Utopie erhebt. Man könne die Frage auch zuspitzen: liegt in der Vorstellung einer Gesellschaft, die sich den individuellen und sozialen Innendruck beständiger Verzichtsdisziplin zumutet, nicht etwas ausgesprochen Bedrohliches? Kann man nicht die Uhr danach stellen, wann sich dieser Druck, der den Einzelnen zum Feind seiner selbst, zum immerzu nicht genügend verzichtsfähigen Ich-Gegner macht, ein Außenventil sucht? Als besäße Abstinenz, wie ihr Gegenteil, der Überkonsum, eine Tendenz zum Zwanghaften…
Schlechte Karten für Sloterdijk…