Diktatur der Entzauberung – Lohn der Profillosigkeit?
11. Juli 2011 von Thomas Hartung
Wir befänden uns am höchstmöglichen Punkt der gesellschaftlichen Entzauberung, las ich kürzlich in der „Zeit“. Es gäbe nichts mehr, das man bewältigen oder nach dem man streben müsse. Wenn das Morgen wahrscheinlich genau so ist wie das Heute, wozu darum kämpfen? Weil man nirgendwo ankommen will, wirkt jeder Aufbruch und jedes Anstoßnehmen unglaubwürdig.
Ich denke, dass die sogenannten Volksparteien Union, SPD und FDP einen Großteil ihrer Anhänger auch darum verloren haben, weil sie sich – wenn überhaupt – nur noch verschämt darum scheren, was ihren Anhängern wichtig ist. Die Funktionseliten fürchten sich vor ihren eigenen Programmen, wenn sie nur ansatzweise in eine Richtung tendieren, in die es aufzubrechen gelte, entsprechend sträflich vernachlässigen sie ihre „Kundschaft“ und enttäuschen sie. Ihre ehemaligen Anhänger sind ganz offensichtlich nicht in Scharen zum politischen Gegner übergelaufen, sie wollen nur nicht Merkel, Gabriel und Rösler für deren Profillosigkeit auch noch belohnen.
Und nicht nur das – genau diese profil- und damit ahnungslosen Funktionseliten haben sich spätestens seit der großen Koalition auch auf allen Gebieten breitgemacht, in denen sie nichts zu suchen haben, sondern die ureigenstes Terrain von Leistungseliten sind. Das Resultat erleben wir täglich: eine Aushöhlung des Leistungsbegriffs, seine Reduktion auf kreatürliches Sein. Und wer das am besten – sprich am egoistischsten – lebt, ist erfolgreich: als Grand-Prix-Gewinnerin, die nicht singen kann, als Dr., der nicht promovieren, sondern nur abschreiben kann, als Minister, der nicht regieren, sondern nur Klientelwünsche erfüllen kann…
Diese gefährliche Entwicklung wurde jetzt auf absurde Weise an einer lagerfremden Kritik am Atomausstieg deutlich: RWE-Manager Fritz Vahrenholt (SPD) kritisierte in einem Artikel für die „Welt“ den ökologischen „Jakobinismus“ als menschenfeindlich, als er schrieb, dass die energetische Transformation der Gesellschaft ein „Höchstmaß an Idealismus, Altruismus und Opferbereitschaft“ von den Bürgern verlange, was „auf demokratischem Weg nicht zu verwirklichen“ sei. Warum nämlich, so Vahrenholts rhetorische Frage, „sollten die Menschen weltweit freiwillig auf ihre Ansprüche an materielle Wohlfahrt und Sicherheit verzichten?“
Moment mal – was für Ansprüche sind das, und vor allem wessen??? Der gefühlte Anspruch auf einen Lebensstandard mit mehreren Urlaubsreisen, mehreren Autos pro Familie und dem täglichen Wegwerfen von Nahrungsmitteln? Dem „Spiegel“ scheint eher das „Höchstmaß an Opferbereitschaft“ heute vor allem darin zu bestehen, bis zu zwölf Monate auf die Auslieferung des bestellten Porsche Cayenne warten zu müssen.
Klar, so soll es sein in einer Wachstumswirtschaft: sie funktioniert nur, wenn sie über die Befriedigung der vitalen Bedürfnisse hinaus pausenlos neue erfindet und Verbraucher in dumpfe Befriediger von Wünschen verwandelt, von denen sie kurz zuvor noch gar nicht wussten, dass sie sie hatten. All das mit sich machen zu lassen, seine Welt mit Plunder vollzustellen darf in unserer Gesellschaften als gefühltes Menschenrecht gelten? So tief verwurzelt ist die Vorstellung, dass einem einfach zustehe, was die Benutzeroberfläche der Konsumgesellschaft feilbietet…
Ja, damit würde Vorschub geleistet Sloterdijks Forderung nach „neuer Askese“, die ich auch schon mal diskutierte. Aber eine Askese, die aus sich selbst kommen muss, aus jener Tiefe, die nichts mit Benutzeroberflächen zu tun hat. Aber medieninkompetent wie wir sind, wissen wir ja nicht mehr, wie PC (und Welt) aufgebaut sind; und dass das Oberflächliche nicht das Eigentliche ist. Aber wie, womit und wodurch ist dieser Zusammenhang heute vermittelbar?