Von der Bildungselite zum Bildungsprekariat
21. Dezember 2012 von Thomas Hartung
Vielleicht geht das Jahr 2012 in die bundesdeutsche Geschichte ein als jenes, in dem sich die Bundes- als Bildungsrepublik selbst begrub. Meine Prognose ist geschuldet vor allem dem fortwährenden Diskurs aus Plagiatsverharmlosung, Doktorschwemme und Befristungswahn auf universitärer; Lehrermangel, sinkendem Notenniveau und Unterrichtsverweigerung auf schulischer sowie macht- wie marktgestörter Realitätssicht, nichtakademischem Ämterschacher und finanzieller Verteilungsarroganz auf politischer Seite. Schon beim Sachverhalt der marktgestörten Realitätssicht fällt es mir schwer, ruhigzubleiben: das blaugelbe Bübchenwesen um P. Rössler hat es tatsächlich geschafft, den vorläufigen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung um entscheidende Passagen zu „glätten“: so sind aus dem Ursprungsdokument weder der Satz „Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt“ noch der Satz „Allerdings arbeiteten im Jahr 2010 in Deutschland knapp über vier Mio. Menschen für einen Bruttostundenlohn von unter sieben Euro“ übernommen worden! Als ob Politik wie Produkte, Dienstleistungen… dadurch besser wird, dass man deren Fehler verharmlost/verschweigt…
Ein Resultat ist das sogenannte Bildungsprekariat, das sich aus Wegwerfakademikern rekrutiert und vorletzte Oktoberwoche gleich mehrfach in den Focus geraten ist. Und da ich langsam Gefallen an der Form finde, meine Betrachtungen in Form einer subjektiven (geordnet schwarmintelligenten?) Collage diverser Kommentare aus dem Netz zu montieren (diesmal vor allem Facebook, Stern.de sowie zeit.de), soll diese Form auch mit folgendem Text bedient werden, für den ich mir – wie man am Publikationsdatum bemerkt – sehr viel Zeit gelassen habe (es ist auch mein bislang längster); aber es gab auch noch berufliche und weitere private Dinge zu erledigen.
Drei Auslöser waren es, die meine Wegwerfperspektive nahelegen: A) ein ernsthafter, B) ein ironischer und C) ein trauriger. Den ernsthaften lieferte der jüngst vorgelegte „Innovationsindikator“ der Deutschen Telekom Stiftung und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) zum Innovationsklima in 26 Industriestaaten. Trotz milliardenteurer Investitionen (welcher eigentlich? Stuttgart 21, Berlin International usf.?) leide die Zukunftsfähigkeit Deutschlands unter den Problemen an Schulen und Universitäten, heißt es da: „Die größte Schwäche im deutschen Innovationssystem ist weiterhin die Bildung“. Ein Grund: „Die Strukturen des Wissenschaftssystems stehen einer effizienteren Mittelverwendung im Wege und treiben viele junge Wissenschaftler ins Ausland, wo sich ihre Karrieren sicherer planen lassen.“ (Hervorhebung von mir) Resultat: Deutschland liegt im internationalen Vergleich mit seinem Anteil an Hochqualifizierten weit hinten – als Schlusslicht aller 36 OECD-Staaten. Die Bildungsausgaben liegen in Deutschland nach internationalen OECD-Kriterien immer noch deutlich unter dem Schnitt der anderen Industrienationen.
„Wissen an sich produziert keinen Mehrwert, aber es ist eine sachliche Notwendigkeit für das Kapital unter dem Diktat der Produktivkraftentwicklung. Da aber jeder Aufwand in der Form des Geldes erscheinen muss, handelt es sich beim gegenwärtigen Bildungssystem um ‚tote Kosten‘, also um einen Abzug vom gesellschaftlichen Mehrwert“, meinte Robert Kurz vor anderthalb Jahren. Deshalb werde überall im Namen der Standortkonkurrenz die Notwendigkeit von Bildungsinvestitionen beschworen, gleichzeitig aber die Produktion und Verteilung von Wissen unter enormen Kostendruck gesetzt. Der resultierende Teufelskreis zeitigt nach seiner Einschätzung zwei wesentliche Resultate:
- zum einen dünne dieselbe Produktivkraftentwicklung, die jene Expansion von Wissen und Bildung erzwingt, den real Mehrwert produzierenden Sektor (insbesondere der industriellen Basis) aus, indem dort in wachsendem Ausmaß Arbeitskraft überflüssig gemacht werde. Also wüchsen die großenteils „unproduktiven“ neuen Mittelschichten des Bildungs- und Wissenssektors an.
- zum anderen führe die Vermassung der höheren Qualifikationen (in der BRD macht heute etwa die Hälfte eines Jahrgangs Abitur) nach den Gesetzen des Arbeitsmarkts zu einer Entwertung der qualifizierten Arbeitskraft. In Verbindung mit dem Kostendruck auf das „unproduktive“ Bildungssystem habe sich daraus eine fortschreitende Prekarisierung auch der akademisch gebildeten Schichten entwickelt: das alte Bildungsbürgertum sei dem Untergang geweiht.
Als sekundären Aspekt dieser Entwicklung sieht Kurz die Diskrepanz zwischen Qualifizierung und konjunkturellen Anforderungen. Da der gesellschaftliche Zusammenhang keiner gemeinschaftlichen Planung unterläge, sondern der blinden Dynamik des „Marktes“, würden die einen Qualifikationen plötzlich überflüssig oder zum Überangebot, während andere fehlten. Ausbildung gehe aber nur langfristig, während die Anforderungsprofile in der globalen Konkurrenz sprunghaft wechselten.
B) Den ironischen lieferte ein vorgezogener Aprilscherz der VHS Osterode. Das publizierte Programm der niedersächsischen Bildungsschelme offerierte einen (am 1.4.2013 startenden) 320 Stunden umfassenden „De-Qualifizierungskurs“ des ansässigen Job-Centers: „Ein akademischer Abschluss oder gar eine Promotion kann beim Zugang zu bestimmten Berufen, beispielsweise als Bauhelfer, eine große Einstellungshürde sein. In diesem Kurs versuchen wir, durch Erlernen eines zielgruppenspezifischen Vokabulars, angepasste Kleidung und gezielte Verhaltensänderungen auch aus promovierten Geisteswissenschaftlern wieder echte Männer zu machen…“ Das Problem ist nicht der Aprilscherz, sondern dass viele sich dessen nicht sicher waren.
„Ich hab mich richtig erschrocken. Mit den Kommentaren kam dann Erleichterung. Hoffentlich zu Recht.“ war zu lesen, oder auch „Wer den Artikel gleich als Ironie erkannt hat, ist mit dem Jobcenter noch nicht in Berührung gekommen.“ Alarmierend. Aber wäre das heutzutage mit dem Maß an sozialer Apartheid und dem Grad der Menschenverachtung so unwahrscheinlich? Ein anderer Kommentator erklärte „Ich kenne manche Firmen, da muss man sich inzwischen sogar im Vorstellungsgespräch rechtfertigen, warum man seine wertvolle Lebenszeit ausgerechnet mit einer Promotion verplempert hat.“
Ganz schlimm lesen sich Erfahrungsberichte. So gab jemand die Geschichte eines nach 20 Jahren stellungslos gewordenen Bibliothekars wieder, der mit Ungelernten durch einen 3-monatigen Bewerberkurs gejagt werden sollte, in dem „der promovierte und arbeitslose Bibliothekar nach Auffassung der Arbeitsagentur hätte lernen sollen, wie Lebenslauf und Bewerbungen abzufassen sind. Erst die Einschaltung eines Rechtsanwalts und die Drohung, die Medien hierüber zu informieren, konnten die Agentur für Arbeit von ihrem schändlichen Treiben abbringen.“ Ein anderer resignierte: „…in NRW, wo sich ein ‚Ü-50er‘ über das 3. Bewerbungstraining in einem Interview beschwert hat und der Leiter des Jobcenters kühl reagiert hat, er habe ja immer noch keine Arbeit gefunden, das zeige doch, wie wichtig die Wiederholung der Maßnahme sei. Das alles führt zusammen mit Ignoranz und häufig stur weiterlaufenden Verstößen gegen bereits anderslautende Rechtsprechung zu einer ständigen Ohnmachts- und Abwertungserfahrung und nimmt selbst qualifizierten, motivierten und kreativen Arbeitslosen jede Gestaltungsmöglichkeit. … Die juristische, demokratische und menschenrechtliche Ebene wurde völlig ausgeblendet. Sie wurde sogar ersetzt durch eine neue Ethik, nach der es gegen die Menschenwürde verstoße, wenn jemand Geld ohne eine entsprechende Gegenleistung bekommt, was man aber aparterweise nur auf Arme und Erwerbslose beschränkte.“
C) Unsichere Karrieren, unfähige Jobcenter, Promotion als verplemperte Lebenszeit… der traurige Auslöser nun illustriert all diese Aspekte – und einige darüber hinaus. Ein verheirateter promovierter Mathematiker von 40 Jahren veröffentlichte auf „zeit.de“ eine subjektive Beschreibung, wie er sich mit Nachhilfe- und Gelegenheitsjobs als Lehrbeauftragter ohne akademische Perspektive fühlt: als Bildungsprekarier, der so gar nicht den Klischees „Arbeitsloser“ entspricht. Ursachen sieht er vor allem außerhalb seiner Person: fehlende öffentliche Aufmerksamkeit, weil man sich der zweckfreien Einsicht und Erkenntnis widme, weil die Forschungsgebiete nicht in Mode seien… „oder wir haben es versäumt, vor einflussreichen Professoren zu katzbuckeln.“ Das liefe auf Langzeitarbeitslosigkeit hinaus und viel freie Zeit, in der man seine humanistische Bildung vervollkommnen, auch publizieren könne… und doch als Empfänger staatlicher Transferleistungen ständig mit Armut und mangelnder Anerkennung kämpfen müsse. Er schließt: „In manchen Augenblicken hilft mir nur zu hoffen, … dass sich die gesellschaftlichen Werte endlich ändern. Die Hegemonie der Wirtschaft in Politik und Gesellschaft muss ein Ende finden.“ Nicht nur, dass ich diesen Satz sofort unterschreibe, ich finde auch manche Parallelen zu meiner „Karriere“ seit 2002.
Bis Dezember waren allein 66 Seiten mit über 520 mehr oder weniger langen Kommentaren aufgelaufen. Die Schwerpunkte lassen sich so zusammenfassen; ich werde sie dann in dieser Reihen- (nicht Rang)folge diskutieren (lassen) – auch wenn sie natürlich vielfach verwoben sind:
- Inwieweit darf der Einzelne in einer Gesellschaft Neigung und Kreativität ausleben?
- Inwieweit kann es sich eine Gesellschaft leisten, Ressourcen zu verschleudern, will sie das sogar, und wenn ja, warum?
- Inwieweit sind Akademiker nichts als Fachidioten, ja (über)lebensunfähig in einem Wirtschaftssystem, verhalten sich beide Sphären antagonistisch?
- Inwieweit sind Wissenschaftler „elitär“, und Eliten eine schützenswerte Art?
I) Neigungs- vs. Geldberuf
Vorab: wer Mathe studiert, weiß, dass er später ein eingeschränktes Betätigungsfeld hat. Also ein Neigungsstudium, das dennoch (bspw. in der Versicherungswirtschaft) zu durchaus nichtuniversitären Berufsbildern führen kann. Dass er sich also ambivalent fühlt und folglich beide Perspektiven mehr oder weniger parallel und damit kräfteraubend verfolgt, ist für mich nachvollziehbar. Ich hatte für meine Traumberufe Journalist und Germanist in der DDR weder die fachlichen noch ideologischen Voraussetzungen – also blieb Germanistik im Lehramt. Und nach der Wende nutzte ich natürlich die Chance, doch noch meinen Traum zu leben (auch wenn er zehn Jahre später platzte und ich seitdem auch zweigleisig fahre). Der Tenor der Kommentare ist eindeutig. Abgesehen von der fehlenden Glaskugel bei jeder Generation („Verlangt wird, dass man als Abiturient die Irrungen und Wirrungen der Weltwirtschaft 5 bis 10 Jahre zu antizipieren hat, um die ‚richtige‘ Berufs- bzw. Studienwahl zu treffen. Solche paranormalen Fähigkeiten werden weder an den Gymnasien noch an den Universitäten vermittelt, im Gegenteil.“), fallen zunächst mitleidige Töne auf: „Es ist enttäuschend, nach einem schweren Studium von der Angestellten der Arbeitsagentur zu erfahren, dass man das ‚Falsche‘ studiert hätte, wobei sich mir die Frage stellt, ob man das Studienfach nach dem Kriterium der zukünftigen finanziellen Situation aussucht oder aus seiner Berufung heraus.“
Andere weisen das Primat der „künftigen finanziellen Situation“ energisch zurück: „Wenn wir unsere Kapazitäten und Möglichkeiten rein auf den Broterwerb ausrichten, dann werden wir wirklich eine sehr arme Gesellschaft werden!“ ist da zu lesen, oder auch „Was hat denn unsere Gesellschaft und Wirtschaft davon, wenn alle Leute nur das lernen, was gerade angesagt ist? Hat man etwas davon, wenn man einen gut ausgebildeten Ingenieur, der keine Lust auf Elektrotechnik hat, in einer Firma beschäftigt? Ich glaube nicht! Also warum sollte jemand, der gut in Mathe ist, Mediendesign studieren, weil Red Bull oder BASF Marketingexperten suchen?“ Die Schlüsse scheinen, zunächst, ermutigend – „Zum Glück gibt es noch Menschen, die sich ihr Studium nach ihren Interessen aussuchen und nicht nach dem Diktat von Unternehmen und Wirtschaft. Das letzte, was dieses Land braucht, sind noch mehr arschleckende BWLer und Juristen… Hier läuft was ganz gewaltig falsch in diesem Land…“ – bis visionär: „Jeder hat ein Recht auf eine (bezahlte) Arbeit, die seinen Neigungen und Begabungen entspricht. Dies in der Verfassung zu verankern würde ich für human halten.“
II) gewollte? Ressourcenverschwendung
Studiert, promoviert, unnütz? Der Tenor bewegt sich zunächst in einem Spektrum von wiederum Bedauern/Mitleid bis zur sozialen Verlustrechnung. „Es ist doch nur noch eine Schande für ein Land, dass gut ausgebildete Menschen wie Sie sich mit irgendwelchen Aushilfsjobs über die Runden bringen müssen“ ist da zu lesen, oder: „Sicher hat man nicht studiert, um als Taxifahrer sein Dasein zu fristen. Das ist eine Verschwendung von Ressourcen.“ Andererseits wird zu Recht kritisiert, „dass die BRD (und damit der Steuerzahler) 10 Jahre in die Ausbildung eines promovierten Hochschulabsolventen gesteckt hat, sich hinterher aber nicht darum kümmert, aus der Investition Gewinn zu schöpfen.“
Und spätestens jetzt fällt auf, dass genau dieser Gewinnschöpfungswille sowohl dem Staat als auch erst recht der Wirtschaft in teilweise drastischen Worten abgesprochen wird. „Wer nicht auf nützlichen Idioten macht, wird aussortiert; egal auf welcher Bildungsstufe“ giftet einer, ein anderer meint: “Willkommen im Land der Dichter und Denker… bitte nicht dichten und denken, sondern katzbuckeln, das ist hier die Devise. Denken macht schlau, das macht Sie zu einer Gefahr für den Wohlstand der Gutbetuchten. Die brauchen Arbeitskraft, keine Innovation und Selbstbestimmung.“ Und ein nächster bekräftigt: “ Wir sind hier in Deutschland, hier werden keine (womöglich noch selbstdenkenden) Mitarbeiter gesucht und benötigt, sondern nur willenlose Lohnsklaven.“
Wenn man Foucault zugrundelegt, muss man „Nützlichkeit“ als Kategorie nach Herrschaftsinteressen definieren. Ein Kommentator trieb das auf die Spitze: „Van Gogh verkaufte zu Lebzeiten kein einziges Bild; Mozart endete im Armengrab … Beide waren also ‚unnütz‘.“ Die Hypothese – oder der erschreckende Schluss – liegt für mich nahe: Je dümmer der Arbeitnehmer, desto brauchbarer ist er; oder umgekehrt: je klüger, desto unbrauchbarer – selbst für das „Wissenschaftsbusiness“ hatte das jüngst Fischer-Lescano konstatiert. Viele Kommentare beschäftigen sich also mit dieser Ambivalenz, bspw. „Zumindest ist m.E. einem nicht unerheblichen Teil der Unternehmen genau daran gelegen. Daher versucht die ‚Wirtschaft‘ natürlich die Angebotsseite stets so groß wie möglich zu halten. Preisgünstige ‚Top-Performer‘ (O-Ton eines Ex-Chefs), die nicht aufmucken.“ Ein anderer wettert „Das absolute Reizwort für mich ist „Fachkräftemangel“ geworden, es gibt diesen nicht, das einzige woran ein Mangel herrscht sind Akademiker, die für 30.000p.a. 60 Stunden die Woche arbeiten.“ Und ein nächster geht noch weit darüber hinaus und bestätigt implizit Robert Kurz: „Menschen mit einer grundlegenden humanistischen und naturwissenschaftlichen Bildung sind in der Wirtschaft nicht mehr erwünscht. Dazu gehört auch die Diskriminierung älterer Menschen, wobei das ‚Alter‘ schon mit 40 beginnt. Es muss alles stromlinienförmig der Wirtschaft untergeordnet werden. Unsere neoliberal angehauchten Politiker und Wirtschaftsführer vergessen, dass sich Erfolg und Sinn von unabhängiger Forschung immer erst danach zeigen – sie sind nicht vorher planbar.“
Das muss ich inzwischen aus eigener Anschauung bestätigen: Pädagoge und Germanist mit Prädikatsdiplom/Promotion, jahrzehntlanger Radio- und TV-Journalist mit vier Fernsehpreisen und Erfahrungen aus dem Aufbau zweier Radio- und eines Fernsehsenders; daneben Erfahrungen als Pressesprecher sowie seit fast 30 Semestern gut- und bestevaluierter hochschulischer Mediendozent mit Modulverantwortung, fast 70 (überwiegend Diplom-)Betreuungen, einigen Publikationen, darunter vier Lehrheften, und Erfahrungen aus der Entwicklung von Medienstudiengängen bis zur Akkreditierung, nicht zu vergessen Medientrainer, Referent … und bundesweit umzugswillig – man sollte meinen, dass ein Generalist wie ich auf eine FH-Medienprofessur oder einen Job in PR, Wissenschaft, Bildung… gute Chancen hätte. Irrtum. Nach 224 Ablehnungen/Absagen/ Nichtberufungen (übrigens alle gesammelt) habe ich 2011 aufgehört zu zählen; es kamen noch mehr. Darum unterscheidet sich auch für mich ein Dasein als Lehrbeauftragter, der von Semester zu Semester denken muss, kaum von verdeckter Arbeitslosigkeit; so wurde ich nicht sozialisiert.
Und da schließt sich der Kreis zum o.e. „Innovationsindikator“, laut dem (junge) Wissenschaftler ins Ausland gehen, „wo sich ihre Karrieren sicherer planen lassen“. Aber woran liegt das? „Die Anzahl der Studienplätze muss sich nach dem Bedarf richten. Was soll der Staat denn machen? Planwirtschaft einführen, damit jeder Physiker, Chemiker und Mathematiker weiterhin seine Forschung betreiben kann? Oder einfach eine halbe Million Stellen für Geistes-, Kultur- und Betriebswirtschaftler schaffen, damit diese ihrem erlernten Beruf nachgehen können?“, so ein Kommentar – der übrigens verkennt, dass „geplante“ Forschung nicht automatisch „Beschäftigung“ bedeutet.
Aber wie kommt man zur Berechnung eines Bedarfs? Es kann ja wohl auch nicht Sinn und Zweck einer Marktwirtschaft sein, dass jeder Promovend, der nach drei Jahren keine Festanstellung inner- oder außerhalb des Wissenschaftsbetriebs gefunden hat, seine eigene Privathochschule gründet? „Das ist mehr ein Problem der Struktur unseres Bildungssystems. Es gibt wesentlich mehr Doktoranden als offene Stellen an den Universitäten für Promovierte, denn Doktoranden werden als billige Arbeitskräfte geschätzt.“ erkennt einer; ein anderer klagt prompt: „Aber niemand macht sich einen Kopf, was mit den Doktoranden nach Promotion passieren soll. Hauptsache man hat billige Lehrkräfte für die Unis. Das Problem lässt sich nur lösen, indem ein vernünftiger akademischer Mittelbau mit festen Stellen aufgebaut und die Anzahl an Doktorandenstellen erheblich reduziert wird. Wir müssen endlich damit aufhören, ‚Wegwerfakademiker‘ zu produzieren (Hervorhebung von mir).“ Das sehe ich exakt ebenso. Aber hier kommen die im Innovationsindikator kritisierten „Strukturen des Wissenschaftsbetriebs“ ins Spiel – mit und innerhalb dieser sind weder Wissenschaft noch Personal planbar.
Leider aber scheint schon das Substantiv „Plan“ in Deutschland so inkriminiert zu sein, dass „Planwirtschaft“ niemand mehr ernsthaft in Erwägung zieht. Aber ohne ein Mindestmaß an Planung ist jedes Bildungskonzept, das über den Tag hinausgeht, zum Scheitern verurteilt. Ein Kommentator resigniert „Aber schon traurig, dass viele Denker hier kein Platz finden… wer weiß, wie viel dadurch verloren geht.“ Ein guter Bekannter, Ex-Mitarbeiter mehrerer sächsischer Ministerien in durchaus hoher Stellung, meinte schon vor Jahren zu mir, dass er mich auch nicht einstellen würde – mit meinem Wissen würde ich ja viele andere beschämen… Aha. Ob ich sie dadurch aber nicht auch voranbringe??? Allerdings ist auch dies sozial, wenn nicht gar politisch gewollt, wie eine weitere Kommentatorin bestätigt: „Ich habe mich in einer Firma beworben und erhielt eine Absage mit der Begründung ich sei ‚überqualifiziert‘. Auf die Nachfrage, warum das ein Nicht-Einstellungsgrund sei, wurde mir gesagt, ich sei zu intelligent und würde die anderen ‚aufmischen'“.
Ein anderer fasst die Probleme perfekt zusammen, seine Zustandsbeschreibung hat nichts Lichtes: „Akademikerarbeitslosigkeit trifft KEINESWEGS nur Orchideenfächler oder diejenigen, die außer Professor nichts anderes werden wollen oder diejenigen, die so vergeistigt sind, dass sie zwar die abstrusesten mathematischen Beweise aus dem Gedächtnis aufs Papier werfen, sich aber keine Mahlzeit selbst kochen können. Sie betrifft SEHR WOHL sehr viele Leute, die engagiert und flexibel wären (wenn man sie nur ließe), weiterbildungswillig und auch (ja, da staunt man!) sozial kompatibel. Nur kann es sich dieses Land eben leider anscheinend immer noch leisten, Kompetenz und Intelligenz auf dem gesellschaftlichen Abfallhaufen liegen zu lassen. Und die Bewerber, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben, fasst erst recht keiner mehr an. Die sind nämlich nicht mehr so ‚formbar‘ wie die Jungen (authentischer O-Ton eines Personalers), sondern fragen nach dem Sinn der Aufgaben, die man ihnen gibt. Das ist natürlich vielen Unternehmen einfach zu subversiv. Armes Deutschland.“
III) akademische vs. Wirtschaftssphäre
Ein Einzelfall blieb die Meinung: „Hätten Sie es geschafft und eine Anstellung an einer Uni bekommen, wäre ihr Gehalt gut und die Arbeit befriedigend, würden Sie diese Hegemonie auch sehen und anprangern?“ Weit in der Überzahl dagegen sind Kommentare wie dieser: „Es geht darum, dass wir mehr unabhängige Forschung brauchen, nicht wirtschaftsgetriebene. Hieraus speiste sich nämlich unser Standortvorteil. Da aber in Hochschulen und Universitäten immer mehr mit der neoliberalen Doktrin des ‚Marktes‘ überhäuft werden, fehlt die Forschung in den Bereichen, die die Wirtschaft als nicht wichtig erachtet. Ein Paradebeispiel dafür ist das Bachelorstudium, was nicht viel mehr als eine erweiterte Form der Schule ist. Vom Humboldtschen Bildungsideal ist nicht mehr viel zu sehen.“
An die Kehrseite gerade des Bachelors mahnt ein Kommentator, der es „schon sehr komisch [findet], wenn genau dieselbe Wirtschaft, die sich so für Bologna eingesetzt hat, inzwischen die Ergebnisse beklagt – durchgeschulte Absolventen, die prima Anweisungen durchführen können, aber kein eigenes Denken entwickeln (durften), weil die frühere Ausbildung ja viel zu ‚theorielastig‘ war.“ Dieses Verhältnis – wie sich die primären Probleme doch auf wenige und immer gleiche reduzieren lassen – diskutierte ich schon in meiner Collage zum verwässerten Studium: ein Politikwissenschaftsstudent hatte hier gegen eine Dozentin gewettert, weil sie nichts „Nützliches“ in ihren Lehrveranstaltungen vermittle…
Schon 1942 forderte Robert K. Merton bspw., dass die Wissenschaften universalistisch und unparteilich, allgemein zugänglich und durch «organisierten Skeptizismus» geprägt sein müssen. Heute postuliert dagegen einer: „Wissenschaft ist immer dem Primat der Ökonomie untergeordnet gewesen, und wo es verschleiert wurde und wird, entstehen die ärgsten Ideologien.“ Ein anderer verweist darauf, dass „das doch sehr zwiespältige Verhältnis der ‚Wirtschaft‘ zur ‚intellektuellen Elite‘ – wobei zu hinterfragen wäre, ob Akademiker diesem Anspruch grundsätzlich genügen können – dort eine ethische Dimension bekommt, wo man junge Menschen zunächst auf einen bestimmten, differenzierten Bildungsweg lockt, der nicht zuletzt mit hohen Kosten (auch für das Allgemeinwesen) verbunden ist, sie aber dann als unbequem beiseite schiebt. Mit dem Begriff der ‚Überqualifikation‘ will die Wirtschaft doch eigentlich nur darüber hinwegtäuschen, dass gebildete Leute vielleicht unbequemere Arbeitnehmer sind und höhere Ansprüche stellen (in jeder Hinsicht, vor allem auch finanziell), als man von Seiten der Arbeitgeber einzulösen bereit ist.“ Und ein dritter ironisiert zynisch, dass man mit 20 zwei Master und 15 Jahre Berufserfahrung haben und ein Gehalt von 800 Netto für eine 60-Stunden-und-mehr/Woche in Ordnung finden soll. Wohl darum von der Leyens Werbekampagne um ausländische Fachkräfte: billig, willig, fremd?
Hier kristallisierten sich zwei Argumentationslinien heraus. Die eine zielt auf die Rolle wirtschaftlicher (De-)Regulierung durch die Politik ab, wobei, so Michael Sandel, „die Marktgläubigkeit der letzten drei Jahrzehnte … eine moralische Leere der Politik geschaffen“ habe. Das sieht auch der folgende Kommentar: „Ein Heer von Lobbyisten regiert uns, merken Sie nicht die Auswirkungen? Bildung schadet da nur, den Titel kann man sich schenken bzw. kaufen. Das führt zur Degeneration und dann zur Barbarei… Wie lange dauert es, bis Kultur und Bildung tot gespart sind? Politiker sind der Meinung, BILDung ist besser, denn verdummtes Volk wählt seine Schlächter selber.“ Hat also Habermas Recht, wenn er sagt, dass Politik als Mittel der demokratischen Selbsteinwirkung ebenso unmöglich wie überflüssig geworden ist? Ein anderer fordert prompt: „Die Politik muss natürlich sinnvolle Rahmenbedingungen für die Menschen schaffen – erst an zweiter Stelle kann es um den Profit gehen. Allerdings wird es stets ein paar Unvermittelbare in jedem Teilbereich geben – es ist dabei unerheblich, wer daran ‚schuld‘ ist: Die Würde des Menschen bleibt in jedem Falle zu wahren.“
Das erscheint manchem unabhängig aller (wirtschaftlichen) Umstände geradezu selbstverständlich: „Aber ich finde, wenn ich schon geistiges Potenzial besitze, sollte ich es doch auch nutzen dürfen.“ Mancher aber erkennt eben auch: „Akademikerstellen sind falschbesetzt mit Nichtakademikern… Siehe Politik, aber auch die gutbezahlten Beamtenstellen (auch im Umweltamt o.ä.) oder Stellen in Versicherungen werden von Leuten besetzt, die an ihren Stellen kleben, gleiches gilt für viele andere Posten.“ Und es gilt auch für Sachsen, füge ich hinzu. Die Ursache dafür sieht die überwältigende Mehrheit der Kommentatoren in politischen und/oder sozialen Hierarchien: „Ich sage nur: Männerbünde. Die Herkunft ist wichtiger als der Abschluss. Wer nicht Mitglied der ‚Familie‘ ist, hat keine Chance“ oder: „Vitamin B, Netzwerke und eiserner Wille zur Macht, Ellenbogengebrauch gehören auch dazu. Ein Talent zur Schauspielerei, um soziale Kompetenz vorzutäuschen, ist unumgänglich. Die Stillen, Ruhigen, Fleißigen und Bescheidenen bleiben auf der Strecke.“
Ein Kommentator resigniert nach der Darstellung seiner persönlichen Leidensgeschichte: „Alter geht vor Qualifikation. Ein anderes Kriterium scheint das ‚Netzwerk‘ zu sein. Mehrmals habe ich erlebt, dass Personen, die sich die Mühe gegeben hatten (und die Gelegenheit dazu erhielten), statt viel zu arbeiten, fleißig am Aufbau eines firmenübergreifenden Netzwerks zu basteln, innerhalb kurzer Zeit eine ‚neue Herausforderung‘ fanden. Also, Beziehung geht vor Alter und erst recht vor Qualifikation. Etwas am ‚Menschenausleseprozess‘ dieser Gesellschaft kann nicht stimmen.“ Damit schließt sich einer von vielen Kreisen zu meinen beiden Plagiatseinträgen: es geht nicht mehr um (wissenschaftliche) Inhalte, sondern strukturelle. Ein Kommentar meint sarkastisch „Dieser und viele andere Vorgänge zeigen, dass sich Deutschland vom Leistungsprinzip schon lange verabschiedet hat.“
Die andere Argumentationslinie insistiert zum Teil drastisch darauf, dass Akademiker nicht nur hochgeeignet, sondern geradezu prädestiniert seien, wirtschaftliche Aufgaben zu lösen: „Für die Befähigung, Aufgaben zu erledigen, kann ‚theoretische‘ Bildung (nicht nur direkt aufgabenbezogen, sondern solche Sekundärfähigkeiten wie abstrakte Analyse, kritisches Denken usw.) weitaus wertvoller sein als die Frage, wie oft man schon einem Kunden die Hand geschüttelt hat. Ich denke, man macht es sich hier von Arbeitgeberseite zu einfach. Die wirkliche Qualifikation und Fähigkeiten zu prüfen wäre ja auch aufwändiger…“
Ein anderer meint: „Wer ein Hochschulstudium erfolgreich absolviert hat, der verfügt über nachgewiesene Fähigkeiten, sich Wissen anzueignen. Ein gutes Unternehmen weiß, dass es aus einem lernenden Prozess besteht. In vielen Personalabteilungen aber sitzen Menschen, die sich selbst nicht in diesem Prozess sehen, weil sie selbst nicht daran teilhaben. Unternehmensleitungen täten gut daran, sie regelmäßig in den Betrieb zu schicken und stattdessen diejenigen auswählen zu lassen, die an beständigem Fortschritt wirklich interessiert sind.“ In dasselbe Horn stoßen Formulierungen wie „Auch theoretische Arbeiten trainieren nämlich, ein Problem zu analysieren, sich Lösungsstrategien zu überlegen und systematisch der Sache auf den Grund zu gehen. Ganz im Gegenteil also – die Wirtschaft würde durchaus davon profitieren.“
Eine Zusammenfassung utopisiert dann dieses Verhältnis und dämonisiert es zugleich unter Gegenwartsperspektive: „Erst wenn ‚die Wirtschaft‘ resp. ‚wirtschaftlich‘ wieder nur noch eine von vielen Arten ist, die Menschen zu betrachten, erst wenn Wirtschaftler wieder nur noch gleichberechtigte Mitdiskutanten sein dürfen bei rein politischen Fragen nach Verteilung, Gesellschaftsstrukturen und Bildungsgrundlagen, erst wenn wir das derzeitige, teilweise durchaus faschistoide Diktat fiktiver ‚Wirtschaftlichkeit‘ noch der letzten Lebensbereiche überwunden haben werden, erst dann kann sich wieder eine breit und diversifiziert gebildete, meinetwegen auch bürgerliche Mittelschicht entwickeln wie die, welche der neofeudale Geldadel mit seinem ebenso zügellosen wie sichtlich für die Mehrheit grob nachteiligen Globalkapitalismus seit etwa 1990 blindwütig zerstört hat. Allerdings sieht’s derzeit leider nicht wirklich danach aus, als wären die politische Intelligenz und der gesellschaftliche Mut derart verteilt unter den Menschen, als dass das noch demokratisch vonstatten gehen könnte…“
IV) schützenswerte? Elite
Dieser Punkt hat quantitativ am meisten polarisiert. Die Extreme lesen sich einerseits so “‚Geistige Elite‘ – Wer sich so bezeichnet, dem fehlt es an Achtung vor Anderen, von denen er ausgerechnet Achtung einfordert. Dieser Satz zeigt, wie er denkt: Die Hegemonie der Wirtschaft in Politik und Gesellschaft muss ein Ende finden. Er will gar nicht in die Wirtschaft, sondern an der Uni weiter ausgehalten werden. Sorry, dann bitte auch Handwerker staatlich beschäftigen und verbeamten.“ Andererseits so: „Ich will nicht wissen, wie der Mann sich fühlen muss, wenn ihn auf dem Amt jemand mit niedrigerer Bildung zu unsinnigen Maßnahmen verdonnert.“
Hier schließt sich zunächst der Kreis zur Bildungsdiskussion. So wird an einer Stelle verwiesen „Einerseits werden öffentliche Mittel, die in die Hochschulen fließen, und andererseits wird qualifizierte Arbeitskraft verschwendet. Die Opportunitätskosten eines Studiums können schnell 80.000 Euro erreichen. Jahrelanger Lohnverzicht und geringere Rente sind die Ursachen. Diese Aufwendungen in Kauf zu nehmen, um später als Gärtner zu arbeiten ist ein Hohn. Bitte nicht falsch verstehen: Ich will keine wertenden Aussagen über Jobs treffen – wir brauchen schließlich alle – aber jeder sollte seine Qualifikation dementsprechend ausleben dürfen. Ein Bäckermeister, der bei LIDL den Backautomaten bedient, ist damit genauso bedauernswert.“
Das sehen viele Kommentatoren ähnlich. So meint einer „Man kann Gehalt und Arbeitsplatzsicherheit nicht komplett voneinander trennen. Das eine kann das andere teilweise ausgleichen… Manche Leute investieren viele Jahre und viel Geld in Bildung und wünschen sich, dass sich das danach mit einer besseren Arbeitsplatzsicherheit und/oder mehr Geld auszahlt.“ Ein weiterer „Zumindest wäre zu erwarten, dass es jemanden mit einer umfangreichen Ausbildung nicht schlechter ergeht, als jemanden mit einer Ausbildung, die einer Teilausbildung dessen entspricht, also dass der Elektroingenieur nicht schlechter dasteht als der Facharbeiter im Elektrogewerbe, der Diplom-Physiker nicht schlechter als der Physiklaborant usw., der promovierte Chemiker nicht schlechter als der Chemisch-Technische Assistent. Tatsächlich ist dies aber nicht selten so, da ein akademischer Abschluss als entwertet gilt, wenn man länger als 1, vielleicht 2 Jahre mehr als eine Stufe unterhalb seines Ausbildungsniveaus gearbeitet hat.“ oder auch „…es werden seit der 10. Klasse Menschen dazu erzogen, intellektuelle Leistungen zu erbringen, für die man sehr wohl viel arbeiten muss, das geht dann immer weiter so bis zur Promotion, wie in einem Selbstläufer. Dann jedoch soll Schluss damit sein, und ‚Draußen‘ werden dann einem Schuldgefühle gemacht, weil man diesen Weg eingeschlagen hat, keine feste Stelle bekommt…“
Gerade diese Diskussion hat sich jüngst sogar verschärft – nicht durch einen promovierten Mathematiker von 40 Jahren, sondern eine nach dreieinhalb Jahren arbeitslos gewordene Absolventin: „Ich bin 27, habe einen Studienabschluss, meine Bachelor-Thesis mit 1,7 absolviert, Berufserfahrung, spreche neben Englisch auch noch Italienisch, Spanisch und Französisch, war im Ausland. Es geht mir nicht mehr darum, meine Träume zu verwirklichen. Eine ganz normale Arbeit würde reichen. Ich suche ein regelmäßiges Einkommen, um meine Studienschulden abbezahlen und etwas Geld zur Seite legen zu können. Mit einem Studium wollte ich die bestmöglichen Chancen – bekommen werde ich in drei Monaten Hartz IV.“ Auch die Filmwirtschaft fand es jüngst „fahrlässig, daß die Film- und Fernsehbranche den Absolventen der vielen Filmhochschulen keine Perspektive bietet, die dem Aufwand und den Kosten dieser Ausbildung angemessen ist.“
Zugleich aber spitzt dieser Punkt auch die Argumentationslinie auf einen (sozial)darwinistischen „Entweder-Oder“-Dualismus des bereits erwähnten „Menschenausleseprozesses“ zu. So war anfangs zu lesen: „Als Hochschul-Absolvent hat man das Recht auf einen Arbeitsplatz erworben. Dem ist eben nicht so, auch wenn über Jahrzehnte die Realität eine andere war. Wieso sollte ein Akademiker mehr Rechte haben auf soziale Absicherung als ein Arbeiter. Kann mir mal jemand erklären, welcher humanistische Grundgedanke das aussagt, dass der gebildete Mensch per se besser dazustehen hat?“ Da hat der Kommentator sicher ausgeblendet, dass die Formulierung und Fundierung „humanistischer Gedanken“ kaum von einem Arbeiter geleistet wird, sondern tatsächlich von gebildeten/gebildeteren Menschen – und dass diese handlungsleitende Formulierung/ Fundierung eben auch dem Tun von „Arbeitern“ mindestens ethische Richtung gibt: allein das sollte wohl doch bewahrenswert sein.
Nichtsdestotrotz wurde dann diskutiert, ob folglich die reziproke Perspektive anzustreben sei – einerlei, wie gebildet oder erfahren jemand ist, es zählt einzig das „Recht des Stärkeren“. Der zwar unbeholfen formulierte, dennoch kritischste Kommentar dazu: „Ich gehe nicht davon aus, dass Sie ‚das Recht des Stärkeren‘ meinen, weil in dessen Konsequenz ein x-beliebiger, starker Arbeitsloser einem schwächeren Angestellten kurzerhand dessen Job ‚entführt‘. Also was habe ich unter ‚funktionierender Natur‘ zu verstehen, wenn nicht, aus menschlicher Sicht, die Verständigung auf ein friedliches Zusammenleben?“
Liegt da der Hase im Pfeffer? Ja, Demokratie begünstigt Mittelmaß und erzeugt es zugleich. Ja, der Gute ist des Besseren Feind. Aber ist es wirklich unerheblich geworden, wie qualifiziert jemand ist, wie erfahren, fleißig, bescheiden, wie geachtet aufgrund seiner Leistungen/seines Leistungswillens, seines Charakters … wer nicht biologistisch denkt, sich nicht den Starken, „Mächtigen“ anschließt – wes Geistes Kind die auch immer sein mögen, obwohl dieser „Geist“ ja offenbar doch Erfolge zeitigt-, weil er selbst nicht über die Mittel verfügt, es zu sein; wer nicht bewusst täuscht, nicht wieder besseren Wissens handelt, in sozialen statt ökonomischen Kategorien denkt…, ist der Dumme?
Da der „Markt“ genau jenem darwinistischen Gesetz des „Survival of the fittest“ folge und also zum Fetisch erhoben werden müsse, dem sich alles unterzuordnen habe, ist jede andere vernunftgeleitete und damit veränderungswillige Perspektive von vornherein falsch, das Bestreiten des Marktprimats im etwa Staats- oder Bildungsbereich bald strafbar? Eine „alternativlose“ homöostatische Gesellschaft, in der man sich nur noch zurechtfinden muss, die aber keineswegs aus anderen Perspektiven betrachtet geschweige denn als änderungsbedürftig angesehen werden darf; in der Freiheit mehr gilt als Verantwortung, soziale Verantwortung zumal?
Selbst der Geschäftsführer des Dresdner Studentenwerks, Martin Richter, hat anlässlich der Diskussion um den § 24 des umstrittenen sächsischen Hochschulgesetzes im jüngsten Einleger der „ad rem“ u.a. geschrieben „Vor dem … Freiheitsbegriff der völligen Bindungslosigkeit, der ohne Verantwortung für das Gemeinwohl auskommt, habe ich Angst – er ist das Ende eines gesellschaftlichen Zusammenhalts und setzt am Ende nur das Recht des Stärkeren zu Lasten des Schwachen durch“. Noch drastischer jüngst der Berliner Philosoph Dieter Thomä: „Heute müssen wir offenbar irgendwie alle Kapitalisten sein.“ Aber schon Marion Gräfin Dönhoff meinte in „Macht und Moral“, dass jede Gesellschaft ohne einen ethischen Minimalkonsens zerbröseln muss. Ohne dieses Mindestmaß an Bindungen, Spielregeln, Tradition und ethischen Normen werde “unser Gemeinwesen genauso zusammenbrechen wie das sozialistische System”. Wenn der Markt aber kritiklos idealisiert werde und keine ethischen Grenzen mehr kenne, entarte das Ganze zum catch-as-catch-can. Der Egoismus mache dann vor nichts mehr halt und unterminiere durch zunehmende Brutalität und Korruption die sittliche Grundlage der Gemeinschaft.
Wenn das die gewünschten Resultate gegenwärtigen neoliberalen Diktierens (von vernunftgeleitetem Regieren kann man schon lange nicht mehr sprechen) sein sollen, dann hätte sich Deutschland nicht nur als Bildungsrepublik begraben, sondern insgesamt als demokratisch verfasstes Staatswesen. JeremyRifkin hat das bereits 1995 im „Ende der Arbeit“ befürchtet und in einem Interview zehn Jahre später bekräftigt: „Was wir brauchen, ist eine Reglobalisierung, bei der die Bedürfnisse der Mehrheit im Vordergrund stehen, nicht die Gewinnspannen einer kleinen Minderheit. Ich sehe zwei Alternativen für unsere Zukunft. Die eine ist eine Welt mit Massenarmut und Chaos. Die andere ist eine Gesellschaft, in der sich die von der Arbeit befreiten Menschen individuell entfalten können.“ Das scheint das Grundübel: eine Mehrheit kann nicht mehr durchsetzen, was einer Mehrheit gut tut – nein, eine verschwindend geringe Minderheit setzt durch, was einer nur verschwindend größeren Minderheit auf Kosten der Mehrheit gut tut. Massenarmut, Chaos – das kann nicht die Zukunft sein.