Wutbürger war gestern, Dumpfbürger ist heute
6. Februar 2013 von Thomas Hartung
Direktor Uwe Kammann hat auf der Internetpräsenz seines Instituts die Nominierung des DC versucht zu verteidigen. Halbherzig, wie ich finde, mit teilweise hanebüchenen Argumenten. Aus diesem Grund habe ich ihm geantwortet – in Form eines offenen Briefs.
Sehr geehrter Herr Kammann,
auf der Internetpräsenz des Grimme-Instituts haben Sie eine Rechtfertigung publiziert, mit der Sie die Nominierung des Formats „Dschungelcamp“ (DC, ich nenne es der Kürze halber so) für den Grimme-Preis 2013 in der Kategorie „Unterhaltung“ verteidigten. Als Direktor des Grimme-Instituts sollen Sie das auch, ja müssen es vielleicht sogar. Ich kenne Sie außer von vielerlei klugen Äußerungen vor allem beim Leipziger „Medientreffpunkt Mitteldeutschland“ nicht persönlich. Umso mehr empört mich Ihre Argumentation: teilweise hanebüchen, teilweise die von der Medienkritik vor allem im Netz aufgeworfenen Probleme ignorierend, teilweise auch schlicht falsch. Daher diese Entgegnung in Form eines Offenen Briefs. Ich publiziere ihn auch auf meiner Internetseite und den angeschlossenen sozialen Netzwerken; denen sowie vielen weiteren Internetquellen ich Argumente und Inspirationen verdanke, ohne diese im Folgenden explizit nachzuweisen.
Zunächst: wenn sich der Grimme-Preis um „ernsthafte Auseinandersetzung“ abseits des „Herrschaftsanspruchs der Quote“ zu bemühen vorgibt, ja um den „Diskurs über Qualität“, ist das hochlöblich. Aber: ist es da angemessen, ein qualitätsstrittiges Format zu nominieren und zu warten, was passiert? Wäre es nicht wirkungsvoller, die Auseinandersetzung dadurch zu befördern, indem man es nicht nominiert – und begründet, warum es trotz „Kandidatur“ für eine Institution wie den Grimme-Preis – Stichworte „vorbildlich“ und „modellhaft“ – nicht infrage kommen kann? „Jedes Ding hat drei Seiten: eine gute, eine schlechte und eine komische“ wusste schon Karl Valentin. Sie haben sich leider für die schlechte entschieden, die gleichzeitig für viele anfangs ironisch, bei tieferem Nachsinnen allerdings nur noch zynisch wirkte. Dieselbe Wirkung übrigens, die die beiden nominierten Moderatoren eher bewusst (man denke an jene denkwürdige, Dirk Bach zugeschriebene Aussage, wonach das „Dschungelcamp das Gorleben der Medienlandschaft“ sei) denn unbewusst verwechseln: Unzulänglichkeiten der Kandidaten bloßzustellen bei kalkulierter Überschreitung ethischer und moralischer Grenzen war auch Kalkül bei den Inszenierungen eines Dieter Bohlen. Mit dem Unterschied, dass dessen Format (noch?) nicht nominiert ist, sondern Bohlen im Gegenteil 2007 von der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen wegen „Verletzung der Menschenwürde“ ebenso scharf kritisiert wurde wie vom Vorsitzenden des Rats der evangelischen Kirche, Bischof Wolfgang Huber. Von den Kirchen übrigens war 2012/13 zum Dschungelcamp noch gar nichts zu hören…
Es mutet also seltsam an, dass Sie sich von der „Quote“ abgrenzen wollen und zugleich die um die „acht Millionen pendelnde“ Zuschauerzahl ins Feld führen. Das ist bei 82 Millionen Einwohnern – richtig – eine „große Anzahl“ von Menschen. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Eine – überdies hochgerechnete – Zahl, die daneben – und das ist auch Ihnen bewusst – nur den Fakt „eingeschaltet“ misst. Über das rezeptive „Wie“ (etwa Fernsehen als Hintergrundkulisse bei diversen anderen Primärtätigkeiten…) und erst recht das „Warum“ (Wetter, mangelnde konkurrierende Freizeitangebote, für unattraktiv erachtete Konkurrenzprogramme, individuelle Prädispositionen wie Krankheit, Einsamkeit, Kulturfaulheit…) trifft diese gemessene Zahl keinerlei Aussagen. Oder sollte damit das Klischee bedient werden, dass öffentlich-rechtliche Sender quotenschwaches Intelligenz-TV machen, dessen qualitative Intention sowieso gewürdigt werden muss, und private quotenstarkes Proll-TV, dessen quantitativen Erfolg man nicht (mehr) umhin kommt zu würdigen? Auf die Gefahren der Verwechslung von Demokratie und Demoskopie verwies u.a. Christoph Stölzl bereits zum Tutzinger Mediendialog 2004.
Qualität also – ein Schlüsselbegriff. Der deutsche Normwille definierte in der DIN EN ISO 8402 diesen Begriff als „Gesamtheit von Merkmalen einer Einheit bezüglich ihrer Eignung, festgelegte und vorausgesetzte Erfordernisse zu erfüllen“. Im Eignungsfall des Produkts DC reduzieren sich getreu der Logik privatwirtschaftlichen Fernsehens, dessen Oberziel die Gewinnmaximierung ist, diese Erfordernisse auf zwei: als primäres Leistungsziel die Produktion mindestens zielgruppen-, besser massenattraktiver Programme, um als primäres Sachziel der Werbewirtschaft ebenso maximale wie zielgenaue Rezipientenkontakte zur Verfügung zu stellen. Da bislang der Grimme-Preis m.E. nicht die Erfüllung von Sach-, sondern von Leistungszielen gewürdigt hat, geht es also um die Eignung des Formats, zugleich massenattraktiv und preiswürdig in der Grimme-Kategorie „Unterhaltung“ zu sein. Genauer: um die Eigenschaften, „die für viele Menschen den Unterhaltungsreiz ausmachen“. Richtig ist, dass diese Eigenschaften „nicht aus einer Tabelle abgelesen werden“ können. Und gut ist der Vorsatz, „Kerneigenschaften“ einzukreisen. Aber solche interindividuell abstrahierbaren Kerneigenschaften von Medienprodukten und deren Nutzung werden schon seit langem in der Scientific Community gebraucht, bspw. in Form „respektiver Gratifikationen“ (McQuail 1983, um nur eine und eine der nachhaltigsten Publikationen zu nennen). Danach ist das Unterhaltungsbedürfnis nur eins in einem Bedürfnisensemble, das daneben auch noch Information, Integration und Identität umfasst. Wenn die Grimme-Kategorie „Unterhaltung“ nun schon jenes Bedürfnis verabsolutiert, ist u.a. zu fragen, in welchem Maße Kerneigenschaften ausgeprägt sind wie „Wirklichkeitsflucht“, „Ablenkung von Problemen“, „Entspannung“, „kulturelle oder ästhetische Erbauung“, „Zeit füllen“, „emotionale Entlastung“ oder „sexuelle Stimulation“ (McQuail ebd.). Kerneigenschaften, die bspw. Schenk 2002 noch ergänzte um u.a. „Geselligkeit“, „Gewohnheit“ oder „Eskapismus“ (dessen Spektrum auch von Wirklichkeitsentpflichtung bis paralleler Wirklichkeitsherstellung reicht). Kerneigenschaften, deren Gewichtung im einzelnen Format zu ermitteln ist, um unterhaltende Qualität aus Rezipientensicht zu extrahieren. Leider fand ich bislang keinerlei Diskurs, der diese Aspekte auch nur ansatzweise thematisiert. Ich fand aber auch keinerlei andere Kerneigenschaften expliziert, die die Nominierung rechtfertigten. Insofern ist dieses Verfahren nicht nur intransparent, sondern indiziert auch eine offenbar zu umfänglich eingeflossene Subjektivität, die nicht allein mit dem Prinzip des „authentischen, freien Urteils“ erklärt werden kann und mich am Sachverstand der Jury mindestens zweifeln lässt.
Die neue Qualitätsnorm DIN EN ISO 9000 nun geht einen Schritt weiter und beschreibt Qualität als „Vermögen einer Gesamtheit inhärenter Merkmale eines Produkts, eines Systems oder eines Prozesses zur Erfüllung von Forderungen von Kunden und anderen interessierten Parteien.“ Wäre dem so, verböte sich die o.g. Vereinseitigung; dann müsste auch aus der Perspektive mindestens der Werbewirtschaft diskutiert werden – vom Einbezug der Politik, der Pädagogik, der Philosophie… ganz zu schweigen. Das lässt nun mehrere Schlüsse zu. Unter anderem den, dass der diesjährigen Nominierung ein vermutetes Raster politischer Erwünschtheit unterlegt wurde bei gleichzeitigem Ausblenden jeglicher philosophischer, pädagogischer… Aspekte. Oder anders: unter kritikloser Übernahme von „Tabubrüchen“ oder konstatiertem Wertewandel. Chance verpasst zur Wertsetzung, zum (Um)denkanstoß, zum Sprung über Teppichkantenniveau, ja zu neuem Benchmarking – im Gegenteil. Und hier, Herr Kammann, wird es kreuzgefährlich.
Worum geht es? Um eine betrauernswerte Minderheit, deren Wertlosigkeit akzeptiert wird, ja deren gruppendynamische Prozesse sich kaum von einer Reality-Show mit Laiendarstellern auf RTL 2 unterscheiden, wie Daniel Martienssen im „Freitag“ erkannte. Das kann auch nicht anders sein, denn von Dramaturgie immerhin verstehen die Formatmacher etwas; Aristoteles‘ Figurenlehre wird blendend umgesetzt: neben der Êthê, der Charakterisierung einer Figur durch Physis, Status… umfasst sie ja auch die Diánoia, die autorgewollte Intention der Figuren innerhalb der Handlungsanordnung in Form bestimmter „Rollen“: als Haupt-/Nebenfiguren, als Charaktere oder Typen… Wir haben den abgehalfterten Fußballstar ebenso wie die abgehalfterte Schauspielerin, den Ex-Kinderstar und die Ex-Sängerin, das Erotik-Model und das Lipgloss-Model… Als ob Shirley MacLaine dieses Format antizipierte, als sie erklärte: „Das Fernsehen sorgt dafür, dass man in seinem Wohnzimmer von Leuten unterhalten wird, die man nie einladen würde.“
Aber wer ins DC geht, hat Probleme: finanzieller, karrieristischer, exhibitionistischer, sozialer… Art. Problembehafteten Mitmenschen mit eher minder denn mehr Promistatus zu unterstellen, sie wüssten, worauf sie sich (gegen Entgelt) einließen; und im Gegenzug „Normalsterblichen“ diese Entscheidungsfähigkeit abzusprechen, zeugt von einem gelinde geschrieben dubiosen Menschenbild. Den kalkulierten Gaffereffekt jener Normalsterblichen als „Unterhaltung“ nun gegen die „Eigenschaften“ hochzurechnen, die den „Unterhaltungsreiz“ der Vorgeführten ausmachen, ist perfide. Schon Sloterdijk wusste, dass sich die Gesellschaft selbst an der Produktion von Verlierern beteiligt. Genau das trifft auf die Telefonabstimmung bei RTL zu, mit teuren Servicenummern übrigens, was vor Jahren auch noch als mindestens unseriös galt. Ich halte es für absolut unstatthaft, die subjektive Sportunterrichts-Erfahrung des aus einem Fußballteam herausgewählt Werdens (die höchstens eine Schulklasse betrifft) mit dem medial millionenfach vorgeführten und – illusionär – selbst beeinflussbaren Wahlakt zu vergleichen, dem sich Personen freiwillig aussetzen. Damit haben Sie die Nominierung nicht ansatzweise erklärt.
Wofür aber sollen diese Vorgeführten Vorbilder sein? Für darwinistische Rollensozialisation, bislang unerlebte Realitätsbewältigung, ekelbehaftete Verpflegungsextreme… Nein, vor allem für zelebrierte und damit als erstrebenswert dargestellte Dummheit: ein paar „Promis“, die keiner kennt, veranstalten in einer Gegend, in die niemand hin will, Dinge, die keinen Sinn haben, reden über Themen, die keinerlei Niveau aufweisen, und werden dafür auch noch bezahlt. Mit honoriertem Ruhigstellen erkaufte geistige Erosion in Reinkultur, die im Gegenzug die Abwertung sinnvollen, dabei oft unhonorierten Tuns intendiert. Die bewundernswerte Katrin Sass hat genau diese Ambivalenz zu ihrem Ausbruch vor laufender Kamera getrieben, der zwar den nicht unbedingt Richtigen traf – aber der falscheste war Kusmagk („Das ist eine Grimme-Preis-nominierte Sendung!“) auch nicht. Erst-, zweit-, selbst drittklassige Schauspieler haben keinen Job oder spielen für wenig Gage an Theatern, für die kein Interesse und vor allem kein Geld da ist und die ständig vom Damoklesschwert der Schließung bedroht sind. Andererseits produziert RTL mit viert-, fünft- und sechstklassigen madenfressenden Unbekannten, die selbst „Darsteller“ zu nennen sich meine Tastatur sträubt, sowie viel Aufwand eine sinnentleerte Show, die Millionenreichweite und Millionenbeträge generiert. Das ist das eine.
Das andere – hier ist eine klare Richtung erkennbar: weniger Empathie, mehr Gnadenlosigkeit. Logisch, Ekel, Erniedrigung, Zurschaustellung… ertragen bereits die meisten Zuschauer brav in Betrieben, Büros, Ämtern… Nicht mehr „Empört Euch“, sondern „Erniedrigt Euch“. Und erfreut euch, ja gewöhnt euch daran. Ist eh alternativlos. Und gesundheitsschonend. Wutbürger war gestern, Dumpfbürger ist heute. In Agambens „Homo sacer“ (2002) ist von „Orten“ zu lesen (vom Asylbewerberheim bis Guantanamo), an und in denen Personen für vogelfrei erklärt werden: Exklusion und Inklusion von Menschen wirken gesellschaftsstabilisierend. Es sind die emergenten Wechselwirkungen zwischen sozial Gelebtem, medial Gezeigtem und politisch Gewünschtem, die hier in erschreckender Weise instrumentalisiert sind. Damit wird einem in der Tendenz mehrfach menschenverachtenden Format jene gesellschaftliche Relevanz verliehen, die die gegenwärtige Neoliberalität, die uns vorregiert wird, perfekt televisionär ergänzt und bestätigt. Und nicht nur Menschenwürde, auch Tierschutz, Ehrlichkeit, Bildung, ja sogar Intelligenz sind nichts mehr als nur noch Worthülsen. Was zählt: sich immer und überall mit allen Mitteln durchzusetzen. Struktur statt Inhalt. Wer Dschungelkönig wird, hat sicher das Potenzial zum Bundeskanzler. Ich gebe mein Abi, mein Diplom und meine Promotion zurück, braucht man ja in der Welt von heute nicht mehr… Ganz abgesehen davon, dass man mit einer regulären Promotion gerade zu zeigen scheint, dass man sogar zum Abschreiben zu dumm war…
Ein Kommentator auf „Stern.de“ attestierte dieser Nominierung prompt Passgenauigkeit „im Land des niveaulosen Herumpöbelns, fehlenden Anstands und Respekts, im Land der Analphabeten und des Mittelmaßes, in einem Land, wo man Dieter Bohlen und Heidi Klum für nachahmenswert erachtet und bewundert, in einem Land, wo Jugendliche kaum wissen, wer sie regiert…“ Eine Relevanz in Form eines Ritterschlags, von der es bis zu Suzanne Collins „Hunger Games“ nicht mehr weit ist, wie auch Daniel Martienssen (ebd.) beschrieb: „Ein solches Fernsehformat hat nun alle Möglichkeiten zu expandieren, sich zu verselbstständigen und fortzuentwickeln. Wer nicht erkennt, dass sich menschenfeindliche Strukturen nicht über Nacht bilden, wer nicht erkennt, dass sich Ekel und Faszination immer steigern müssen und bei der Genitalverspeisung von irgendwelchen Tieren keinen Halt machen, der darf sich auch nicht wundern, wenn am Ende dieser Entwicklung die Tribute von Panem mit ihren Hunger Games die bittere Normalität widerspiegeln. Die Gesellschaft verfällt immer schleichend.“ Noch drastischer Tomasz Konicz (heise.de): „Der Erfolg des Dschungelcamps verweist somit auf ein sich immer stärker aufstauendes autoritäres Potenzial in der Bevölkerung.“
Hinzu kommt, dass dieser Ritterschlag im Handstreich alle medienethischen Debatten der letzten Jahre ad absurdum führt. Was habe ich Anfang der 2000er in meinen Magdeburger Seminaren „Deutsche Fernsehgeschichte unter soziologischen Aspekten“ mit den Studenten noch über „Big Brother“ und dessen Grenzwertigkeit diskutiert – Stichworte „Zurschaustellung privaten Lebens in der medialen Öffentlichkeit“ oder „Eingriff eines Fernsehsenders in das Privatleben der Kandidaten“! Das innerhalb eines Jahrzehnts (!) als Moralverschiebung nicht nur distanzlos und unkritisch zu akzeptieren, sondern mit artifiziellen Phänomenen wie Koons (Pop Art), de Sade (Literatur; sowohl „Justine“ als auch „Juliette“ erschienen, wenn auch anonym, 1797 in 10 Bänden) oder gar einer Händel‘schen „Xerxes“-Adaption (Oper!) zu erklären, übersteigt die Konnotationen von Zynismus. Blasphemie einzig ist erklärungsgeeignet – Herr Kammann, ich dachte, es geht Ihnen um ein Showformat eines Privatsenders? Wen wundert’s also noch, dass die „NYT“ jüngst fragte, warum Deutschland mit seinen großartigen Traditionen in Literatur, Theater und Film kein „herausforderndes, komplexes Fernsehen“ mehr zustande bringt? Jedem guten Film, Buch, Theaterstück… wohnt – selbst wenn das Schrecklichste gezeigt wird – stets eine Aussage inne, eine Moral, die den Rezipienten aus der miterlebten Realität des Geschehens wieder zurückholt und ihn, Sinnfragen stellend, über das Warum des Gezeigten aufklärt, ja erhebt. Doch Unterhaltung heißt so, weil sie nichts mit Ober- oder gar Überhaltung zu tun hat. Denn solchen Sinnfragen ist dieses wie auch alle anderen „Reality“-Formate völlig enthoben; im Gegenteil: die Verhältnisse werden umgekehrt. Konnte man sonst bei Shows vielleicht mal einen Blick hinter die Kulissen werfen, so präsentiert uns dieses Format nur den Blick hinter die Kulissen. Ein Nachdenken darüber, was noch authentisch ist und was schon gespielt, erweist sich dabei als sinnlos, setzte es doch voraus, es gäbe ein Sein hinter dem Schein. Micaela Schäfers ständige Nacktheit in der für preiswürdig erachteten Staffel lässt es offenbar werden: ich bin Oberfläche, nicht mehr.
Und – nur erwähnt, aber in Semantik und Semiotik nicht gewürdigt haben Sie in Ihrem artifiziellen Argumentationsversuch die Rolle der medialen Allgegenwart. Zur originären Rezeption von Koons, de Sade, „Xerxes“ & Co., ja zum „Erleben von Welt“, muss der Rezipient einen bewussten Akt des Aufbruchs nach Außen tätigen, etwa in Form eines Buchkaufs, Opernbesuchs etc. Für massenmediale Formate dagegen braucht er solche Exploration nicht mehr, er betätigt einen Schalter, und die Welt kommt zu ihm ins Haus. „Aber wenn der Mensch nicht mehr aufbrechen muss, liegt eine soziale Pathologie vor“ (Barloewen 1995). Und dieser Pathologisierung leistet das Format gleich doppelt Vorschub: aufgebrochen sind andere, Stellvertreter quasi, die dafür bestraft werden – und vor dem Fernsehapparat ergötzt sich der passive Rezipient über die Stellvertreter und die Strafen, womit der Kreis zum Dumpfbürger geschlossen ist. Diese medialen und sozialen Modalitäten der Akzeptanz von Pathologisierung von 8 auf 82 Millionen hochzurechnen halte ich für ebenso anmaßend wie hilflos. Denn dann hätte das Format sein Ziel erreicht. Die einen schauen es, die anderen analysieren es, die dritten kritisieren das Analysieren… und alle sind beschäftigt. Euro, Energiewende, BER…? Man sieht vor lauter Dschungel den Wald nicht mehr. Wenn es noch eines Beweises für Seeßlens Theorie der „Blödmaschinen“ bedurft hätte – deutlicher könnte er nicht sein. Im Kontext der „10 Strategien der Manipulation“ von Noam Chomsky indiziert das gleich die erste, die da lautet „Kehre die Aufmerksamkeit um“. Entsprechend lesen wir: „Das Schlüsselelement zur Kontrolle der Gesellschaft ist es, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Ereignisse umzulenken, damit man von wichtigen Informationen über tatsächliche Änderungen durch die politischen und wirtschaftlichen Führungsorgane auf unwesentliche Nachrichten ablenkt… Jene Strategie ist der Grundstein, der das Basisinteresse aus den Bereichen Bildung, Wirtschaft, Psychologie, Neurobiologie und Kybernetik verhindert. Somit kehrt die öffentliche Meinung den wirklichen gesellschaftlichen Problemen den Rücken zu, berieselt und abgelenkt durch unwichtige Angelegenheiten…“
Wer so kurzschrittig denkt, im Hodengenuss außer „Show-Wert“ nichts weiter zu entdecken, hat die Hoden perfekt verdaut und damit den Fleischern (um nicht Schlächtern zu schreiben) ein breites Grinsen beschert. Und das halte ich für das eigentlich Bedenkliche. Und mit mir eine Reihe von Kommentatoren, von denen es einer auf „Spiegel online“ auf den Punkt bringt: „Wer am Abend Schaben und Anderes vorgesetzt bekommt, wem in Folge der “Nährwert“ durch begleitende Magazinsendungen eingeimpft wird, wer dann die eigentliche Inhaltslosigkeit der meisten Sendungen auf allen Privatkanälen nicht mehr erfassen kann, bei dem hat die Medizin volle Früchte getragen. Realitätsverweigerung wird durch traumhafte Wunschwelten kompensiert, selbst die letzte Hohlnuss hat die Chance etwas zu werden – reich, nicht intelligent. Klappt es im Dschungel nicht, geht man eben zu Dieter und wird Superstar, oder versucht es als Topmodel bzw. hüpfender Gröhleimer mit bisher unentdeckten Talenten. Wer braucht da noch Schulbildung, chillen und konsumieren ist das Lebensmotto. Sollte es auf diesem Wege einmal klemmen, “Mitten im Leben“, so steht jederzeit Rat und Tat zur Seite: “Verklag mich doch“ einfach, wirst schon sehen!”… – Fernsehen als „Realitätspräservativ zur Verhinderung von Lebenszwischenfällen“ (Bernd Guggenberger).
Bei all dem wird fast marginal, dass Ihr verlinktes Gutachten am Ende Ihrer Rechtfertigung den Titel trägt „Zur Qualitätsdiskussion öffentlich-rechtlicher Fernsehprogramme“. Mehr Ehre kann RTL wohl kaum zuteil werden… Und da Sie mit Kafka schließen: man kann sich auch seine Kino-Interpretationen anschauen (Fernsehen als Massenmedium gab es damals noch nicht, andernfalls hätte er sich sicher auch dazu Gedanken gemacht). Und stößt dabei auf den nach einem Kinoabend hingeworfenen Satz „Bin ganz leer und sinnlos, die vorüberfahrende Elektrische hat mehr lebendigen Sinn.“
Was bleibt, ist Unbehagen. Gewaltiges Unbehagen. Zunächst ein Unbehagen ob des Textes des Direktors einer renommierten Einrichtung. Eines Direktors, der mit vielerlei schwammiger und bemühter Rhetorik eine Entscheidung seiner Einrichtung halbherzig zu positivieren sucht. Dann ein Unbehagen ob potentieller Prognosen privater TV-Formatentwicklung – von Antarktis- oder Weltraumshows (mit Red Bull-gesponserter Rückkunft der Herausgewählten) unter räumlicher Perspektive bis hin zu Kampfspielen unter inhaltlicher, wegen späteren Promimangels geführt von jobcenterfinanzierten Umschülern zum Berufsbild „Gladiator“ – wer sich weigert, bekommt Harz 4 gestrichen. Die Einschaltquoten solcherart Deintellektualisierungs-Programme, prophezeie ich, sind sicher höher als die eines bundesdeutschen Kanzlers Neujahrsansprache. Und da auch aller schlechten Dinge drei sind: ein Unbehagen über Wert und Unwert von Preisen, Medienpreisen zumal. Vielleicht wird bald „Grimme“ mit „Bambi“ und „Goldener Kamera“ zusammengelegt: Zwegat erhält das Tier, Katzenberger das Gerät, und in 10 Jahren freuen sich über den Büchnerpreis die Scriptschreiber von „Frauentausch“…
Ich glaube nicht, dass man sich in einem solchen Land noch wohlfühlen geschweige das genießen mag, was in diesem Land unter Kultur firmiert.
„Damit wir sehen, was wir hören,
Erfand Herr Braun die Braunschen Röhren.
Wir wär’n Herrn Braun noch mehr verbunden,
Hätt‘ er was anderes erfunden.“ (Heinz Erhardt)
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Thomas Hartung