Götterdämmerung für unsere Bildung?
9. Juli 2013 von Thomas Hartung
Nach einiger Abstinenz haben mich mehrere Publikate (wohlbemerkt: das ist immer noch mein privater Blog) zu einem Kommentar herausgefordert – wen wundert‘s: zur Bildungspolitik. Aber die Schere zwischen antinationaler, realitätsverleugnender Ignoranz und angeblich internationaler Anbiederung ist zu einem leider nicht mehr wahrnehmbaren politischen Skandal verkommen, den man anprangern muss.
Worum geht es? Die „Akademischen Monatsblätter“ vom Mai haben unter dem Top-Thema „Die deutsche Bildungswüste“ den Erfahrungsbericht des Geschäftsführers eines der weltweit führenden Hersteller von Wärmebehandlungsanlagen publiziert. Jener Dieter Schäufler, selbst Dipl.-Ing., beschreibt – bezeichnenderweise in fünf „Jeremiaden“ – die Modi, wie er zu Firmennachwuchs kommt. Und vergleich sich dabei mit Oliver Hardy: „In typischen Szenen versucht Olli Stan etwas zu erklären, die Reaktion von Stan besteht aus absolutem Unverständnis, und das wiederum treibt Olli in den Wahnsinn. In den Bewerbungsgesprächen versuche ich, die Eskalationsstufe des Wahnsinns zu vermeiden, aber ich fühle mich oft, als wäre ich Olli.“
Sein Wahnsinn beginnt bereits beim Lesen der Bewerbungsunterlagen: „Ist die Adresse richtig geschrieben, hat das Anschreiben Sinn, sind die Rechtschreibfehler vernachlässigbar? Dabei fielen vor noch fünf Jahren fast 70 Prozent durch. Heute lassen wir die Kriterien sein und konzentrieren uns nur noch auf die richtige Adresse, um festzustellen, ob wir auch wirklich Ziel der Bewerbung sind. Ansonsten hätten wir überhaupt keine Kandidaten mehr.“ Und bereits an dieser Stelle kann und muss abstrahiert werden, wie es um die Deutsch-Kenntnisse nicht nur von Absolventen technischer Studiengänge bestellt ist, sondern offenbar der meisten Berufsanfänger dieses Jahrzehnts. So ergab die Umfrage „Kommunikationsbranche 2010 – Fakten, Erwartungen und Trends“, für die die Wirtschaftspsychologische Gesellschaft München 477 Unternehmen befragte, dass auf einer Liste mit 17 Indikatoren für „Mitarbeiter-Auswahlkriterien“ die Kriterien „Studium“ und „Abschlussnoten“ gerade noch auf den Plätzen 12 und 13 landeten. „Deutschkenntnisse“ dagegen rangieren nach „Leidenschaft“ an zweiter Stelle, gefolgt u.a. von Sozialkompetenz und Kreativität. „Deutschkenntnisse der Bewerber sind von herausragender Bedeutung für die Entscheider. Das deckt sich mit den Meldungen aus anderen Branchen, die ebenfalls desaströse Deutschmängel bei Bewerbern beklagen“ (ebd.) Im Oktober 2012 dann schreckte ein „SPIEGEL“-Interview mit dem Bayreuther Altphilologen Gerhard Wolf die Republik auf. Wolf hatte andere Professoren zur Studierfähigkeit ihrer Studenten befragt – und von 70 Kollegen vernichtende Urteile wie die folgenden erhalten:
– „Die mangelnde Studierfähigkeit zeigt sich vor allem in der stark unterentwickelten Fähigkeit, kompetent und souverän mit der (deutschen) Sprache umzugehen.“
– „Konjunktive schwinden aus den schriftlichen Arbeiten ebenso wie zunehmend alle Zeitformen jenseits des Präsens.“
– „Der aktive Wortschatz schrumpft auf wenige hundert Ausdrücke, die penetrant wiederholt werden.“
Für Schäufler ist ein wesentlicher Grund dieses Versagens der Institution „Schule“ das Gesamtschulkonzept: „Wenn ich das richtig verstanden habe, besteht das Konzept aus der Hoffnung, dass die Besseren die Schlechteren nach vorne ziehen. Ich selbst kenne keine Kolonne, die schneller fährt als ihr langsamstes Mitglied.“
Aber selbst wenn die Hürde „Anschreiben“ gemeistert ist und der Kandidat dann eingeladen – die eigentlichen Nachwuchsprobleme fangen jetzt erst an: „Meine typische Eingangsaufgabe an den taufrischen Maschinenbauingenieur mit gerade erhaltenem Diplom (oder ist es neuerdings ein Masterbrief?) besteht in der Aufforderung, eine Welle mit zwei Lagern zu konstruieren. Dafür erhält der Kandidat ein weißes Blatt und einen Bleistift. Für die Nicht-Maschinenbauer: Die Aufgabe ist Erstsemesteraufgabe Mechanik und Zweitsemesterübung Konstruktion. Sie erzwingt eigentlich die Frage nach der Art der Lagerung. Das ist absolutes Basiswissen. Von vier Bewerbern fragt höchstens einer (!), ob er eine Fest-Los-Lagerung konstruieren soll. Einer ist absolut überfordert und versteht die Aufgabenstellung nicht. Die beiden anderen beginnen sofort mit der Zeichnung. Der Frager bekommt in der Regel eine Zeichnung hin, auf der man erkennt, was es sein soll. Die anderen beschäftigen sich als frei schaffende Künstler. Verschärfe ich das Ganze noch mit der Frage, wie eine Schraubenverbindung berechnet wird, sind die Grenzen jeglichen Wissens überschritten. Ich hatte in den letzten sieben Jahren einen einzigen Kandidaten (von schätzungsweise über hundert), der mir eine saubere Konstruktionszeichnung erstellte … Nochmals zur Verdeutlichung: Bei meinen damaligen Consemestern (sogar bei den Wirtschaftsingenieuren Maschinenbau) konnte das jeder nach dem Vordiplom und auch noch nach dem Hauptdiplom im Schlaf. Heute kann es anscheinend nur noch einer von Hundert. Das Ganze lässt sich noch unendlich fortsetzen, aber eines noch als Sahnehäubchen: Auf meine Frage, was man denn im Studium heutzutage so lernt, höre ich die Begriffe Projektmanagement, Management, 3DKonstruktion, etc. Ingenieursinhalte sind dagegen rar.“
Die andere Seite der Medaille: Ingenieure aus China und Osteuropa sind inzwischen ebenso gut, ja teilweise besser ausgebildet. Für Schäufler „liegt dies nicht überwiegend an der immer besser werdenden Ausbildung in den genannten Staaten, sondern fast ausschließlich an unseren hausinternen Entwicklungen.“ Und genau darum muss es gehen! Die Mär vom Fachkräftemangel ist nichts anderes als die Angst der Regierenden, zum einen in Bildung investieren und zum anderen die so Gebildeten gut bezahlen zu müssen! Da lässt man Deutschland lieber brach liegen und setzt auf billige, willige, weil in ihren Heimatländern perspektivlose Ausländer. Und das ist der eigentliche Skandal.
„Ich war viel und lange im Ausland und habe erlebt, wie hochgeachtet der deutsche Ingenieur und der deutsche Meister sind. Aber ich sehe, wie das zerstört wird: von der Politik, von den Medien, von den Lobbyisten, von den fortschrittlichen Eltern, von Lehrern der antiautoritären oder antikonservativen oder antitraditionellen oder sonst irgendwelchen Anti-Richtungen. Oder aber auch von Eltern und Lehrern, die es nie besser erlebt und erlernt haben. Ich sehe keine Bemühung, irgendetwas zu ändern. Ich sehe noch nicht einmal, dass andere es ebenfalls sehen“ erklärt Schäufler fast resignativ. Und sein Credo ist wenig ermutigend: „Hört Ihr im Hintergrund nicht auch die Ouvertüre der „Götterdämmerung“?“
PS: Auch Hersteller diverser Produkte scheinen der Institution „Schule“ die Kompetenz zur Wissensvermittlung abzusprechen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass in einer hessischen Pension dem Toilettenpapier diese Aufgabe übertragen wird 🙂 ; Screenshots dieser Art „Lernen in der Freizeit“ haben das Posting hoffentlich angenehm aufgelockert…