Wer sich ziert, wird sanktioniert
4. November 2013 von Thomas Hartung
Nach diversen Zeitungsessays zu jenem pseudoreligiösen Event namens „Halloween“ und eigenen Erlebnissen am Donnerstag muss ich mal wieder Frustabbau betreiben. Der Frust richtet sich nur sekundär gegen die amerikanisierte Säkularisierung eines anfangs heidnischen, später theologisch eminent aufgeladenen Datums. Er richtet sich auch nur sekundär gegen das Konsumspektakel. Primär aber richtet er sich gegen die moralische Unsäglichkeit, mit der Kindern anlässlich dieses „Festes“ neoliberales Denken aufoktroyiert wird.
Das Datum: schon vor über 2000 Jahren feierten die „heidnischen“ Kelten neben dem Frühlingsfest „Beltane“ ein zweites großes Fest. Der 31. Oktober war bei ihnen der letzte Tag des Jahres: der Sommer wurde mit großen Feuern verabschiedet (und ihm dabei für die Ernte gedankt) und gleichzeitig der Winter begrüßt. Sie gedachten an diesem Tag auch der Seelen der Verstorbenen, da der Sonnengott nun, zu Beginn der dunklen Winterzeit, vom keltischen Totengott „Samhain“ abgelöst wurde (keltisch samos, gälisch samhuinn für „Sommer“). Die Kelten glaubten fest daran, dass die Seelen der Verstorbenen in der Nacht vom 31. Oktober als Geister auf die Erde zurückkommen, um in ihre Häuser zurückzukehren. Einige Jahrhunderte später ernannte Papst Gregor IV. den 1. November, also den Tag nach dem 31. Oktober, zum Feiertag „Allerheiligen“, an dem der christlichen Märtyrer gedacht wurde. Aus dem Samhain-Fest wurde im Laufe der Zeit „das Fest am Vorabend zu Allerheiligen“, engl. „All Hallows’ Eve(ning)“, abgekürzt Halloween.
Seine theologische Aufladung erhält das Datum dadurch, dass laut der Überlieferung Martin Luther am Tag vor Allerheiligen 1517 an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg 95 Thesen in lateinischer Sprache zu Ablass und Buße angeschlagen haben soll, um eine akademische Disputation über Recht und Unrecht des Sündenerlasses gegen Geld herbeizuführen. Damit leitete er die Reformation ein, die jene gewaltigen Veränderungen der Kirche herbeiführte, die der Menschheit mehr als dienlich waren und sind. Durch seine „reformierende“ Bibelübersetzung gelang es ihm, eine einheitliche deutsche Sprache zu etablieren. Damit schuf er den Grundstein für die Einheit der deutschen Länder und also unseres Volkes. Kurfürst Johann Georg II. von Sachsen setzte 1667 den 31. Oktober als Reformationstag fest, der sich dann in den meisten Ländern durchsetzte.
Quintessenz: einmal im Jahr soll nicht die lautstark um die eigene leere Mitte kreisende Gegenwart im Mittelpunkt stehen, sondern die sowohl sepulkral als auch national und damit doppelt semantisierte Vergangenheit. Das aber will sich eine auf eben diese Leere so stolze Jetztzeit nicht bieten lassen: dass ein einziges Mal nicht sie das letzte Wort hat, sondern die ganz unverwechselbare Seele der Verstorbenen. Also macht die Gegenwart Radau und färbt sich ganz besonders grell. Abgerechnet aber wird zum Schluss: tot bleibt tot, da helfen weder Bonbons noch Schminke.
Das Konsumspektakel: der eigentlich bedeutsame Reformationstag als Gedenktag an die Toten und an ein wichtiges Agens der gesellschaftlichen Entwicklung nun wurde ausgehend von den USA gnadenlos verkommerzialisiert – allein in Deutschland wird mit 200 Millionen Euro Umsatz gerechnet. Da vermischen sich faschingshafte Haus- und Menschmaskierung mit karnevalistischem Rudeltrinken sowie sättigungsentkoppelten Nahrungsmittelorgien: das reicht von Gruselgummis und Pechkeksen über Bluttee und Monstersuppen bis hin zum Kürbis, der nicht verspeist, sondern verschnitzt wird. Die sog. „Kürbistradition“ geht zunächst auf die irischen Kelten zurück. Am „All Hallows’ Eve“ gedachten sie ihrer Toten. Dabei etablierte es sich, den durch das Dorf Ziehenden Essen ans Fenster zu stellen. Heute dagegen zeigt Halloween die vorauseilende Bereitschaft des Einzelnen, sich in eine konsumierende Masse zu verwandeln. Das Fest für willenlose Endverbraucher ist die perfekte Einübung in eine konformistische, phantasielose Angestelltenexistenz, die sich ihre Ekstasen von der Industrie vorsagen lässt. Zuverlässig bringt der Halloween-Blödsinn die hässlichen Seiten eines Menschen zutage: seine Verschwendungssucht, seine Schadenfreude, seine Plumpheit, seine Indezenz, seinen Grobianismus, seinen wachsweichen Opportunismus.
Vor allem aber: die Moral. Der heute gefrönte Süßigkeitenbrauch mit der dümmsten aller Drohungen („Trick or Treat“ – „Süßes oder Saures!“) stammt aus längst vergangenen Zeiten (9. Jh.) Damals wanderten Christen am 2. November, dem Seelenfest, von Dorf zu Dorf und erbettelten sogenannte Seelenkuchen. Zum Dank versprachen sie, intensiv für die Spender zu beten. Damals wie heute galt also: keine Leistung ohne Gegenleistung. Eigentlich.
Denn was geschieht? Ein Dreijähriger, verkleidet als Zauberer und in Begleitung seiner Eltern, ist noch süß. Ein Briefkasten, der in Schlagsahne ertrinkt, nicht mehr. Dabei droht genau diese Strafe, denn die plärrend, schreiend, nervend von Haus zu Haus ziehenden Racker werden bei Misserfolg zum Rächer im Stile junger Drückerkolonnen, die von Tür zu Tür karawanieren und dann – mit Ketchup, Eiern, Kaugummi, Klebstoff… – Klinken und Fassaden friedlicher Bürger attackieren: wer sich ziert, wird sanktioniert. Der Grat zwischen Streich und Sachbeschädigung oder Hausfriedensbruch ist aber laut Polizei ein ganz schmaler. Ein zugeklebtes Schloss beispielsweise erfülle bereits den Straftatbestand. Längst hat das Fest seine Unschuld verloren.
Kinder werden so zu Erpressern erzogen, die auch vor Sachbeschädigung nicht zurückschrecken. Aber es geht noch schlimmer, lautet der Spruch doch heute schon oft: „Bares oder Saures“. So könnte auch das erfolgreiche Geschäftsmodell der Mafia umschrieben werden. Wahrscheinlich ist das die Einübung dieser Geschäftsmodelle auf Kleinkindebene. Es muss ja klein anfangen, denn was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Erpressung und Drohung mit Schadensfolge. Diese Kapitalistenwerdung per pseudomafiös verbrämter Schutzgelderpressung passt zwar nicht zum Alter der Klingelnden, zu Halloween aber schon; und zum Reformationstag erst recht; aus Tetzel, dem Mönch, werden Thorsten, Toni und Thusnelda…
Bei diesen Bräuchen, die wir kritiklos übernehmen, geht es um das Eindringen in die private Kommunikation, ja in Privaträume. Das halte ich für eine bedenkliche Verengung des deutschen USA-Bildes auf Ausspähen und Übergriffigkeit – als ob NSA-Gebaren salonfähig wird. Die Kleinen sollen an Halloween lernen, wie es um dieses Land bestellt ist: Untote sehen dich an. Mach Schluss mit deiner Individualität. Werde wie alle.
Wie anders dagegen ging (und geht zum Glück wenigstens teilweise auch noch) das Martinsfest vonstatten? Richtig! Damals mussten wir uns noch anstrengen und komplette Lieder singen, haben für Freude und ästhetische Erbauung gesorgt und dafür Süßigkeiten erhalten! Was für ein Menschenbild dagegen vermittelt dieses „Trick or Treat“-Spektakel? In meinem Offenen Brief an Uwe Kammann drückte ich es so aus: „Weniger Empathie, mehr Gnadenlosigkeit. Nicht mehr ‚Empört Euch‘, sondern ‚Erniedrigt Euch‘. Und erfreut euch, ja gewöhnt euch daran. Ist eh alternativlos. Und gesundheitsschonend. Wutbürger war gestern, Dumpfbürger ist heute. … Ehrlichkeit, Bildung, ja sogar Intelligenz sind nichts mehr als nur noch Worthülsen. Struktur statt Inhalt. Was zählt: sich immer und überall mit allen Mitteln durchzusetzen.“
Ich hoffe sehr, damit nur schwarz zu malen.