„Auch ich kann es schaffen.“ Aber wer noch?
21. Dezember 2014 von Thomas Hartung
„Es geht um die Herrschaft über die Diskurse, also darum, wer wen zwingen kann, politische Aussagen moralisch zu legitimieren.“ (Eckhard Fuhr )
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„Wenn es gilt, in Masse über einen einzelnen herzufallen, sind die Deutschen immer dabei, es muß nur ungefährlich sein.“ (Ernst Jünger)
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„Ich glaube nicht, dass der Shitstorm die Weiterentwicklung der Demokratie ist.“ (Wolfgang Schäuble)
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Aus aktuellem Anlass stelle ich – nach erfolgreichem Wahlkampf und gelungenen Landes-/Kreis-Parteitagen – hier endlich einen Essay ein, dessen Grundlage meine Stellungnahmen für
a) den Dekan der Philosophischen Fakultät der TU Dresden, Prof. Dr. Matthias Klinghardt, sowie
b) den Direktor der BA Dresden, Prof. Dr.-Ing. habil. Andreas Hänsel, bilden.
Er soll die bislang nur auf Krawall gebürstete Diskussion dorthin führen, wo sie – mit der Ausnahme „Handelsblatt“ – nie ankam: auf die sachliche Ebene entideologisierter, vor allem ehrlicher Argumentation, die Vorurteile durch Fakten ersetzt. Dass es leichter ist, letztere zu bestreiten als zu erklären, nehme ich gern in Kauf. Ebenso, dass ich damit bewusst gegen Paulo Coelhos Ratschlag verstoße „Erkläre dich nicht – deine Freunde verlangen das nicht und deine Feinde werden dir sowieso nicht glauben.“ Aber es kann nicht sein, für Interpretationen dessen, was man weder geschrieben noch getan hat, medial, politisch und beruflich vernichtet zu werden – obwohl genau das die neueste soziale Funktion sozialer Netzwerke zu sein scheint, wie Bettina Röhl jetzt feststellte:
Die artifiziellen Vernazifizierungen, die fatalerweise in Mode geraten sind, die Hochrechnungen von einem Wort oder einem Satz oder einer FB-Bekanntschaft oder einem zufälligen Vorbeiradeln hier oder dort auf den Menschen als Ganzes, sind ein unmenschliches und teuflisches Spiel. Diejenigen, die solcherlei, auf die Vernichtung meist wahllos ausgesuchter Menschen zielende Qualifikationen benutzen, praktizieren genau das, was sie zu bekämpfen vorgeben, nämlich Ausgrenzung und vom Spielfeld jagen.
Karl Rudolf Korte meint, und ich stimme zu: „Nur das leidenschaftlich vorgetragene Argument führt vielleicht auch zum leidenschaftlich vorgetragenen Gegenargument. Das ist die Faszination, dem zuzuhören, sich damit auseinanderzusetzen.“ Diese Leidenschaft zu Argument und vernünftiger Auseinandersetzung vermisst der Duisburger Politikwissenschaftler aber zur Zeit in der deutschen Politik: „Wir haben fast eine Debattenallergie in Deutschland, in Zeiten der großen Koalition ganz besonders.“
Hinzu tritt das Phänomen des „nationalen Moralismus“, das einst bereits Sachsens Ex-Bundespräsidentschaftskandidat Steffen Heitmann zu spüren bekam:
„Was wie ein Austausch von Argumenten aussieht, ist in Wahrheit ein Ringen um die Etablierung von Selbstverständlichkeiten, für die gar nicht erst argumentiert werden muß, auf die man sich vielmehr anerkanntermaßen berufen kann; ein Ringen noch nicht einmal um moralische Rechtfertigungen, sondern darum, wer wen moralisch in die Defensive bringt, welcher Standpunkt gar nicht mehr gerechtfertigt zu werden braucht und welcher als abweichend, moralisch rechtfertigungsbedürftig, also fragwürdig bis zwielichtig gilt. Ein Kampf, der logischerweise gar nicht im „Diskurs“ entschieden werden kann, weil es ja um die „Herrschaft über die Diskurse“ geht; der vielmehr auf dem Feld der öffentlich anerkannten oder bestrittenen Ehrbarkeit der Meinungsträger, mit den Mitteln der Propaganda und den Waffen der Diffamierung, sogar unter Einsatz publizistischer „Killer-Instinkte“ ausgetragen wird.“
Da ich nicht davon ausgehe, dass meine Leser das Vorposting komplett gelesen haben, nehme ich die dort getroffenen oder zitierten Aussagen nochmals auf.
Wohlan also, befeuern wir sie, die Debatte:
„Zwischen dem, was ich denke, was ich sagen will, was ich glaube zu sagen, was ich sage, was Du hörst, was Du hören willst, was Du glaubst zu verstehen, was Du verstehen willst und was Du verstehst, gibt es mindestens 9 Möglichkeiten, sich misszuverstehen.“ (Netzfund)
Im EU-Staat Spanien hat ein zweimal sitzengebliebener Abiturient mit Trisomie 21, d.h. einer mit körperlichen, motorischen, psychosozialen und kognitiven Defiziten verbundenen Behinderung einen Hochschulabschluss „geschafft“. Nicht irgendeinen, nein, sogar einen als Lehrer – eine tolle Leistung, die ich natürlich anerkenne und würdige. Allerdings muss der Ehrlichkeit halber betont werden, dass es weltweit bislang kaum Trisomie 21-Betroffene gibt, die einen Hochschulabschluss erworben haben – sich der Hype also mal wieder am medialen Aufmerksamkeitsprinzip „Ausnahme statt Regel“ („Mann beißt Hund“) orientiert, das bar jeden Kontexts auf die Sensation abstellt. Überdies dürfte sich die Zahl jener sächsischen Lehrer, die in ihrer Gymnasialzeit gleich zweimal sitzengeblieben sind, in überschaubaren Grenzen halten.
Diesen Signalen von Anstrengung aus dem Jahre 2009 stehen nun jene aus dem ebenfalls EU-Staat Deutschland aus dem Jahr 2014 gegenüber, dass wir unter unseren maximal 50 000 Betroffenen mit Down-Syndrom inzwischen Gymnasiasten haben – die aber nochmal keinen Hauptschulabschluss schaffen. Aber wenn das so ist, sind bei ca. 80 Millionen Einwohnern, zu denen Trisomie 21-Betroffene im Verhältnis schon rein quantitativ eine Randgruppe darstellen, berechtigte Zweifel an der Sinnhaftigkeit des pädagogischen Konzepts angebracht: „Inklusion muss dem Menschen dienen, nicht der Mensch der Inklusion“, fordern wir in unserem Landtagswahlprogramm. Denn Inklusion (lateinisch „includere“ – einschließen, einsperren, umzingeln) wird unter dem Deckmantel grenzenloser Freiheit zu ihrem genauen Gegenteil: dem Verlust von Freiheit, wenn niemand mehr die Freiheit hat, die Bildung zu erhalten, die er dank eigener Fähigkeiten erlangen kann.
„In der Regel sind es die Behinderten, die bei diesem Ansatz zu kurz kommen. Sie geraten unter einen Normalitätsdruck, der ‚die interne Perspektive versehrter Existenz‘ nicht zur Entfaltung kommen lässt, wie in seinem Buch „An den Grenzen unserer Lebensform“ der selbst behinderte Sozialphilosoph Andreas Kuhlmann schreibt“ – ein Spastiker, der 2009 Selbstmord beging. Selbst eine Ministerpräsidentin wie Annegret Kramp-Karrenbauer, die die AfD vor Wochen gar der Verfassungsfeindlichkeit zieh, erklärte jetzt:
„Inklusion bedeutet, Menschen mit Behinderungen nicht schlechter-, aber auch nicht besserzustellen. Das Gymnasium etwa soll als Schulform zum Abitur führen. Daran bemisst sich die Frage des Zugangs.“
Vor allem aber schrauben wir, wie jüngst in allen Medien deutlich vernehmbar war, unsere Anforderungen an das Abitur immer weiter herunter, entwerten es so und sind prompt mit Studienabbrecherquoten bspw. von 28 % bei Bachelorstudenten konfrontiert, in MINT-Fächern gar von 50 %. Harald Martenstein resignierte bereits:
„Das Abitur soll kein Privileg von Besserlernenden oder Besserwissenden mehr sein, alle Schüler sollen es bekommen. Weil nun einmal nicht alle Menschen so intelligent, ehrgeizig oder fleißig sind, dass sie ein schwieriges Abitur ablegen können, muss es einfach sein. Da habe ich eine wunderbare Idee zur Bekämpfung der Armut: Die Regierung sollte Geld drucken und jedem Bundesbürger eine Million Euro in die Hand drücken. Das ist das gleiche Prinzip.“
An Unis Bleibende sind aber auch nicht problemfrei: „Seit zwei Jahren kommen selbst im Lehrer-Seminar junge Anwärter zu mir, die nicht mehr schreiben können.“; oder „Generell besteht eine mangelnde Fähigkeit, selbständig zu formulieren, zusammenhängende Texte selbständig zu schreiben und unterschiedliche Stilregister zu bedienen.“ Erfahrungen, die auch mir aus meiner Praxis an mehreren mitteldeutschen Hochschulen nicht fremd sind. Erfahrungen, die sich in anderen EU-Ländern noch drastischer lesen: an der Pädagogischen Hochschule in Niederösterreich fiel fast die Hälfte der 500 Bewerber auf ein Lehramtsstudium Deutsch im Fach Deutsch durch.
Ich spitze also zu: Deutschlands behinderte Gymnasiasten sind (noch) nicht abiturfähig, Deutschlands nichtbehinderte Abiturienten sind nicht (mehr) hochschulfähig, Spaniens behinderte Abiturienten dagegen sogar diplomabel. Konsequent zu Ende gedacht, kann das mit Blick auf die immer weitere Zentralisierung in der EU nur zu der Perspektive einer Bildungskonvergenz führen. Das wäre ein pädagogischer Paradigmenwechsel, den ich für fatal halte: Dann haben wir irgendwann keine Behinderten/ Nichtbehinderten mehr, dann haben wir irgendwann keine Lehrer / Schüler mehr, dann haben wir irgendwann nur noch eine uniforme Melange, in der jeder alles ist, in der jeder alles kann und in der jeder „gleich gültig und also gleichgültig“ erscheint (Peter Turrini). Eine Melange, die inzwischen Szenarien heraufbeschwört, nach denen bis zum Jahr 2050 der durchschnittliche IQ in Westeuropa auf 86 fallen wird.
Eine mich fürwahr erschreckende Perspektive, die jüngst Wolfgang Fottner (Chefredakteur „Welt der Fertigung“) mit den Worten geißelte: „Der Fehler ist ganz klar in der Politik zu suchen. Hier haben sich Weltfremde aufgemacht, die Ungleichheit der Menschen zu bekämpfen. In Nordrhein-Westfalen werden zum Erreichen dieses Ziels die Lehrer mittlerweile erpresst, schlechte Noten zu vermeiden“. Ähnliches berichtet im SPIEGEL 44/2014 auch Katja Timm: „Es ist vorgekommen, dass ein Lehrer zum Gespräch geladen wurde, nachdem weniger Jugendliche einen Abschluss erreicht hatten als statistisch erwartet.“ Aber schon in der Ausgabe 29/2014 desselben Mediums ätzte Jan Fleischhauer:
„Die nächste Stufe ist die Abschaffung von Bildungsstandards. Wo Schüler an Normen gemessen werden, wird es immer einige geben, die das Ergebnis deprimiert – genau dieser Enttäuschungserfahrung gilt es vorzubauen. „Das Prinzip der grundlegenden humanen Anerkennung setzt das Konstrukt des ‚schlechten Schülers‘ außer Kraft“, heißt es in der neuen „Pädagogik der Vielfalt“: Nur so könne eine wesentliche „Quelle von Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit versiegen“. Es liegt auf der Hand, dass es dort, wo es keine schlechten Schüler mehr geben soll, auch keine guten mehr geben kann.“
Und mein tiefstes Erschrecken ob solcher Dystopien habe ich durch das Facebook-Posting „Wo soll das hinführen, wenn es als normal gezeigt wird?“ [dass geistig Behinderte einen Hochschulabschluss erlangen] artikuliert. Ein Erschrecken, mit dem ich – wie mir ein Kreisvorsitzender auf dem letzten Parteitag sagte – der Zeit offenbar voraus war. Nichtsdestotrotz: dieser Sarkasmus und alle weiteren Kommentare wurden aber aufgefasst, oder besser, politisch motiviert aufgefasst als das, was sie weder waren noch sind, nämlich für Behinderte beleidigend: niemand hat mich wegen dieses justitiablen Ehrdelikts, das mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr geahndet werden kann, angezeigt (1). Abgesehen davon, dass ich mich zum Sarkasmus bereits äußerte (man mag ihn misslungen finden – wer ihn verhetzend findet, hat einfach ein Bildungsproblem); erklärte den Zusammenhang explizit Bernd Ahrbeck in einem Interview im SPIEGEL 34/2014: „Der fundamentale Irrtum in der Inklusionsdebatte ist die Annahme, dass mit dem Hinweis auf einen Unterschied zwischen Menschen zwangsläufig ein Werturteil verbunden sei.“ Erst recht nicht, dass jeder Hinweis mit „hetzen“, „pöbeln“ usf. zu synonymieren ist. Ebensowenig, wie man ausländerfeindlich ist, weil man sich für ein geordnetes Zuwanderungsmodell einsetzt, ist man behindertenfeindlich, weil man das Förderschulsystem bewahren will! Wer so tickt, legt genau jenes restringierte, kleinkarierte Denken an den Tag, das man uns so gern vorwirft!
Aber die – für die Pointe an sich sogar irrelevanten – Vorsätze wurden zuerst medial und dann von den Kommentatoren nach dem Prinzip des gekippten Eisbergs zur Hauptsache gemacht, ohne die abstrahierende Tiefendimension zu beachten: der von den meisten interpretierte Zusammenhang „Behinderte“, „blöd“ und „Pineda“ war schlimmstenfalls ein umgangssprachlicher Fauxpas, taktlos oder, wie die „Freie Presse“ mutmaßte, „kryptisch„. Wobei „blöd“ im Sinne von „debil“ über „bescheuert“ bis „doof“ – ebenso wie bspw. „entschlafen – sterben – verrecken“ einfach unterschiedlichen Stilschichten angehört, die an sich wenig aussagen, sondern erst im Adressaten- und Sachkontext ihre Wirkung entfalten. Und die geistige Behinderung eines Trisomie 21-Betroffenen ist (wenn überhaupt) auf verschiedenen Niveaustufen von Debilität zu verorten. Dass diese geistige Behinderung in Pinedas Falle nicht zu schwerwiegenden intellektuellen Einschränkungen führte, ist das Besondere an ihm – nichtsdestotrotz bleibt er die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Auf diese modernen Verständnis- und Prioritätsprobleme machte jüngst auch Ruprecht Polenz aufmerksam:
„Kleinigkeiten werden hysterisch aufgebauscht, Menschen medial (vor)verurteilt. … Die Menschen bekommen häufig den Eindruck, das Neue, das Außergewöhnliche, sei eher die Regel… Damit besteht zumindest die Gefahr, dass sie ein schräges Bild der Wirklichkeit bekommen. Die Medien haben indes die Verantwortung, in ihren Berichten immer wieder zu erklären: Was ist Regel, was ist Ausnahme.“
Und Pineda ist nun mal die Ausnahme unter den Ausnahmen der Ausnahmen! Auf wissenschaftlicher Ebene würde man das „Verwechslung von Korrelation und Kausalität“ nennen. Der Philosoph Marcus Steinweg spricht gar von grassierender „Tatsachenreligiosität“. Ich stelle also fest: ich bin bei der Ausübung meines Rechts auf freie Meinungsäußerung noch nie derart gewollt missverstanden worden. Ich war nie in meinem Leben ausländer- oder behindertenfeindlich geschweige bin ich es – und wer mich kennt, weiß das. Ich hatte an TU in fast jedem Semester ausländische Studenten in meinen Lehrveranstaltungen und in einem zusätzlichen Kurs für das akademische Auslandsamt einen Imagefilm produziert, der fürs Studieren im Ausland warb. Und ich habe seit 2002 an der BA in zwei Jahrgängen selbst zwei körper- bzw. mehrfachbehinderte Studenten der Medienproduktion, die im Rollstuhl saßen, in meinen Fächern erfolgreich zum Abschluss geführt: eine Studentin mit MS sowie Ronny Steidl, dessen Schicksal durchaus bemerkenswert ist.
Das Posting richtete sich weder gegen Behinderte im Allgemeinen noch Pablo Pineda im Besonderen – ich kenne ihn persönlich nicht und habe weder ihn noch sonst irgendjemand konkret angesprochen. Nein, es geht überhaupt nicht um ihn als Person, Behinderter, Lehrer, Schauspieler, Vortragsreisender, Moderator, ja Privilegierter, wie er sich selbst bezeichnet… sondern um ihn als Argument. Nämlich als Argument dafür, die schockierenden Konsequenzen eines EU-harmonisierten Bildungssystems zu entlarven: es gibt kein weltgeschichtliches Beispiel für eine Harmonisierung nach einem jeweils höchsten Standard, wie Konrad Adam in der „Jungen Freiheit“ 36/14 schrieb: „Der routinierte Gleichsteller entscheidet sich für die Angleichung nach unten. Unterschiede sind ihm verdächtig, müssen beseitigt oder jedenfalls versteckt werden; also keine Noten, keine Zeugnisse und kein Sitzenbleiben.“ Frauke Petry bestätigte schon in der Woche zuvor:
„Die Inklusion führt zu einer Nivellierung der Standards, was langfristig im Verfall des Bildungsstandorts Deutschland münden muß. In diesem Punkt steht die Partei auch hinter ihm.“
Dass Aufhänger und Wortwahl überhaupt zu Missverständnissen führen könnten, habe ich weder antizipiert noch intendiert – auf gut deutsch: „mir nicht träumen lassen“. Ich habe mich für diese Missverständnisse mehrfach medial entschuldigt und bin sowohl von meinem Wahlamt als Landesvize der AfD Sachsen als auch meinen konkurrenzlos errungenen Landtags-Listen- und Dresdner Direkt-Kandidatenplätzen zurückgetreten. Aber ich habe mich nicht behindertenfeindlich geäußert, wie nach Textanalyse – neben Mitgliedern – inzwischen auch Professoren der Berufsakademie eingeräumt haben. Der Protagonist hätte auch eine Protagonistin sein, aus jedem anderen EU-Staat kommen, jeden beliebigen Namen tragen und auch jeden anderen Hochschulabschluss haben können.
„Wer die Begriffe prägt, behält die Macht“, lautet ein Lehrsatz der Frankfurter Schule. Aber sind wir heute wirklich gehalten, jedes unserer Worte zu erklären, bevor wir es nutzen? Muss ich heute betonen, dass ich bei „behindert“ immer geistig behindert (mit)meine – da es für fast alle anderen Behinderungen eigene Komposita wie körperbehindert, hörbehindert, schwerbehindert usw. gibt? Muss ich heute betonen, dass ich, wenn ich „Lehrer“ schreibe, immer einen Fach-Lehrer (Sek I, Sek II, Berufsschule) meine, oder gelten Erzieher, Freizeitpädagogen, Sozialassistenten… inzwischen auch als solche?
Werden Journalisten zu Volkspädagogen und Zurechtweisern, als die sie sich mitunter eh gerne sehen? Wo soll das offene, freie und riskante Gespräch gedeihen, wenn die Intuition fast immer falsch liegt und ein vorsorgendes Wortklempnertum nötig sein soll? Sprache wird hier vom Abbild einer Wirklichkeit zum Siegel der richtigen Gesinnung.
Dann aber gelingt Kommunikation nicht mehr, dann muss sie an atomisierter Semantik scheitern, an inkompatiblen Wissensbeständen – oder an überbewerteter Political Correctness. Wir erinnern uns: das Landgericht Wien hatte einen 23-Jährigen Jenaer Studenten wegen Landfriedensbruchs, versuchter schwerer Körperverletzung und schwerer Sachbeschädigung beim Akademikerball zu einem Jahr Haft verurteilt. Die linke Thüringer Landtagsabgeordneten Katharina König twitterte dazu „Ihr Schweine!“ Das war offenbar keine Beleidigung von Ausländern (die Österreicher nun mal sind), dieser Tweet führte zu keinerlei Empörung, keinerlei Entschuldigung, keinerlei weiteren Konsequenzen…
Zurück zum Thema. Spanien hat wie Deutschland das Bolognasystem etabliert (das wir als AfD Sachsen ablehnen), beide Hochschulsysteme sollten also formal vergleichbar sein: obwohl Pinedas Abschluss selbst – ist es „Diploma universitario de Profesor de Educatión Básica“, oder „Diplomado de Maestro“, oder „Licenciado“, oder „Certificado de Aptitud Pedagogica“, oder auch „Master en Formación del Profesorado de Educación Secundaria“… – sowie dessen deutsche Entsprechung offen ist. Dennoch: bestandene Prüfungen – auch wenn gebetsmühlenartig dieses Argument wiederholt wurde – befähigen doch nicht per se zur professionellen Ausübung der geprüften Fähig- und/oder Fertigkeit. So schrieb – von der Öffentlichkeit offenbar völlig unbeachtet – eine Autistin in der FAZ: „Ich habe viele Autounfälle gebraucht, um … zu lernen, dass die anderen Verkehrsteilnehmer immer wichtiger sein müssen als der vorbeifliegende Vogel oder eine reflektierende Reklametafel.“ Man stelle sich vor, dass mit „andere Verkehrsteilnehmer“ Kinder gemeint sind! Ist also eine Behinderte, die die Fahrprüfung offenbar erfolgreich absolviert hat, auch in der Lage, erfolgreich am Verkehr teilzunehmen, gar berufsmäßig Personen zu befördern?
Brechen wir’s doch auf den Lehrerberuf herunter. Ist ein Hörbehinderter in der Lage, als Deutschlehrer zu arbeiten, auch wenn er Nicht-Hörbehinderten sämtlichen Stoff vom „Hildebrandslied“ bis zur „Todesfuge“ nur gebärdensprachlich zu vermitteln vermag? Ist ein Sehbehinderter in der Lage, als Chemielehrer zu arbeiten, auch wenn er bei Experimenten mit Knallgas oder Salzsäure die Reagenzgläser nicht sieht? Ist ein Spastiker in der Lage, als Kunst- oder Musiklehrer zu arbeiten, auch wenn er vor der Leinwand / am Klavier pötzlich Lähmungsanfälle bekommt? Aber vor allem: hat jemand versucht herauszufinden, warum Pineda heute eigentlich nicht (mehr) als Lehrer arbeitet?
Das ist das eine. Das andere: ein Lehrer mit der Mehrfachbehinderung „Down-Syndrom“ wäre aber in Sachsen auch wegen der längeren Zeit, die er zur Vermittlung von Inhalten benötigt, nicht in der Lage, ein vom Schulamt per staatlichem Lehrplan aufgegebenes Pensum (eine definierte Stoffmenge in einer definierten Zeit) zu bewältigen – er gälte schlicht als uneinstellbar. (2) Kein Medium allerdings, erstens, machte sich die Mühe, das bei einem sächsischen Schulamt nachzurecherchieren.
Mein Fehler war zu unterstellen, dass Spanien seine Bildungsanforderungen gesenkt haben müsse, da in Deutschland ein erwartbarer Trisomie-IQ von durchschnittlich 50, bestenfalls 70 weder zum Abitur geschweige zu einem Hochschulabschluss zumal als Lehrer befähigt hätte (3). Der einzige, dabei nicht an einer deutschen Hochschule pädagogisch qualifizierte Neigungslehrer hierzulande beschränkt sich auf Assistenzfunktionen an einer Montessorischule in Bayern: Tobias Wolf, der auf Honorarbasis arbeitet und von seiner Mutter unterstützt wird. Bei Pinedas Trisomie handelt es sich offenbar um eine positive Mutation; überdies wurde er noch individuell hoch gefördert, dies ließ ich außer acht.
Dabei bleibt noch unberücksichtigt, dass auch kein Medium, zweitens, außerhalb der abstrakten Skandalokratie linksgrünen Betroffenheitsgeschwurbels den Mut zu einer Umfrage hatte, wer sich tatsächlich für die konkreten eigenen Kinder/Enkel einen Lehrer mit Down-Syndrom wünscht: der Facebook-Tenor lautete für 48 Stunden in guter boulevardjournalistischer Tradition: „Wir sind Pineda“, ja „Wir sind behindert“. Das Gegenteil ist richtig: mir wurden/werden viele Sympathiebekundungen zuteil, die ausdrückten, dass genau solch ein Lehrer im „normalen“ Schulsystem nicht gewollt ist. Die des Schweizer Sonderpädagogen Riccardo Bonfranchi sei etwas ausführlicher zitiert – aus gutem Grund übrigens, denn neun von zehn Frauen brechen in der Schweiz die Schwangerschaft ab, wenn pränatale Tests eine Behinderung anzeigen:
„…Da sind Sie Opfer der ‚Gut-Menschen‘ geworden. Kann ich gut nachvollziehen, weil ich dies – ansatzweise – schon selber erlebt habe. Die Frage ist, ob die Leute, die Sie verurteilen, ihre eigenen Kinder gerne zu einem Lehrer schicken würden mit Down-Syndrom? Wohl eher nicht. Könnte das dann als behindertenfeindlich oder als für das Wohl der eigenen Kinder ausgelegt werden? Dass Inklusion ein gescheitertes Modell ist, ist für mich, nach jahrelanger Beschäftigung mit dieser Thematik, keine Frage mehr. Vielmehr interessiert mich, warum es so hoch gehalten wird. Eine These von mir ist, dass es sich um einen gesellschaftspolitischen Reflex auf die Existenz der Pränatalen Diagnostik handelt.“
Das sahen auch viele Kommentatoren so, bspw.: „Bei dem Thema kann man nur verlieren, egal welche Meinung man vertritt. Die Frage ist, wenn man nicht von einem Behinderten unterrichtet werden möchte, wie man dann seine Meinung ohne Nachteile kundtun kann?“ Andere übten sich ebenso in Sarkasmus: „…unsere vielen verschiedenen Länder-Schul-Systeme werden auch die Inklusion verkraften, da stören auch keine Down-Syndrom-Lehrer, was sollten die denn bei der Qualität aller unserer Lehrer und Lehrerinnen noch anrichten.“ Wenn aber eine medial unterstellte Meinung mit der realen nicht übereinstimmt, muss man nach Noelle-Neumann von doppeltem Meinungsklima sprechen.
Und: in keinem der vielen Berichte über die „Causa Hartung“, drittens, wurde ein Mediziner / Psychologe zitiert, ob er in Deutschland einen Trisomie 21-Lehrer für möglich hält. Ich weiß von mehreren Medien, einem Sender sogar nachweislich, dass ein solcher O-Ton (u.a. an der Medizinischen Akademie Dresden) schier verzweifelt gesucht, aber nicht gefunden wurde – übrig blieb eine auch noch falsch insertierte wissenschaftliche Mitarbeiterin, die am Institut für Förderpädagogik der Universität Leipzig tätig ist: „Geistigbehindertenpädagogik“ als Professur gibt es da nicht und ist eine unzulässige Verkürzung.
In der Wissenschaft gilt glücklicherweise eine These immer noch so lange als verifiziert, also gültig, wie sie nicht falsifiziert ist, d.h. der Falschheit überführt. Und meine für Deutschland postulierten Thesen sind das allesamt nicht. Daran ändert auch der Kommentar von Julia Probst in den DNN nichts, die weltweit sage und schreibe drei (!) Fälle dagegen ins Feld führt – wohlbemerkt: ich schrieb von Deutschland. Aber damit steht für einen unserer Kreisvorstände, der selbst als Psychiater arbeitet, ein ungeheurer Verdacht im Raum: wenn Pineda kein voll ausgeprägtes Down-Syndrom hat, sondern nur bestimmte Teile des Körpers dieses Mannes aus so veränderten Zellen bestehen („Partielle Trisomie 21„), dann ist die Bezeichnung „Down-Syndrom“ resp. „Behinderter“ letztlich Etikettenschwindel. Ein Verdacht, den ich unbedingt teile.
Es gab in der gesamten Presselandschaft keine substanzielle Auseinandersetzung mit den faktischen Aspekten meiner Äußerungen – dass alle politische Kleingeisterei im Verschweigen und Bemänteln dessen besteht, was ist, wusste bereits Lassalle. Doch schon Epiktet postulierte:
„Es sind nicht so sehr die Tatsachen, die unser Sozialleben entscheiden, sondern die Meinungen der Menschen über die Tatsachen, ja die Meinungen über die Meinungen.“
Meinungsbeeinflussende Medien aber erzeugen in der Regel aus-, ja holzschnitthafte, zunehmend einseitige und erst recht vorschnelle Wirklichkeitsbilder. Selbst Bundespräsident Joachim Gauck hat vor Turbojournalismus gewarnt. Die Gefahr sei groß, „dass nur das nächstliegende Klischee wiederholt und vorschnell der Stab gebrochen wird über Menschen und Ideen“, sagte er bei der Feierstunde der Bundespressekonferenz. „Es darf nicht zur Regel werden, dass Themen, die eigentlich einen langen Atem brauchen, schnell wieder von der Agenda verschwinden.“ Und selbst der Papst kritisiert inzwischen eine immer schneller werdende, unreflektierte Kommunikation:
Es gebe eine überbordende, mit einem Übermaß an Schlagzeilen gefüllte Berichterstattung, die das Nachdenken eher behindere, als dazu anzuregen. Journalisten suchten oft vorschnell nach Lösungen und stellten größere Zusammenhänge dabei verkürzt dar, beklagte Franziskus. Es werde so getan, als ob einzelne Menschen in der Lage seien, alle Probleme zu lösen, oder sie würden umgekehrt als Sündenböcke abgestempelt. Der Papst regte eine ergebnisoffenere Berichterstattung an; es gelte, keine Fehlinformationen, Gerüchte oder Verleumdungen zu verbreiten.
Meinungsbeeinflussende Medien erzeugen diese Wirklichkeitsbilder aber auch dadurch, indem sie andere zu Angeklagten machen und in den Vordergrund rücken, was Odo Marquard „Übertribunalisierung“ genannt hat: jemanden unter absoluten Rechtfertigungsdruck, unter absoluten Legitimationszwang zu stellen als Flucht in das schlechte Gewissen, das man für die anderen wird, damit die es nicht mehr selbst zu haben brauchen. Okke Schlüter fordert den seriösen Journalismus zum Gegenteil auf:
Die Aufgabe eines seriösen Mediums sollte es sein, das Thema zu versachlichen, gegebenenfalls sogar vermittelnd zwischen den Kontrahenten aufzutreten. Darin sehe ich eine große Chance für alle Medien, denn sie können sich auf diese Weise Autorität und eine gute Reputation erwerben.
In diesen Zusammenhang gehört auch meine in Zeiten freier Schulwahl und freier Meinungsäußerung völlig selbstverständliche Aussage, dass ich resp. ich für die Kinder, die ich noch nicht habe, keine Schule wählen würde, an der ein Trisomie 21-Lehrer unterrichtet. Andere wählen ihre Schulen nach religiösen, sprachlichen oder künstlerischen Aspekten aus; eins meiner Kriterien wäre dieses – und, wie oben erkennbar, auch das vieler anderer. Das ist weder diskriminierend noch entwürdigend, sondern lediglich – siehe oben – eine Aussage, die eine Differenz zwischen Behindert und Nichtbehindert konstatiert. Eine Aussage vor allem, die beinhaltet, dass behinderte Lehrer für behinderte Schüler aufgrund ihrer Betroffenenkompetenz u.U. sogar geeigneter sein könnten (auch wenn ich diese Vokabel für sehr diskutabel halte: muss man dann auch Edathy Pädophilenkompetenz oder Alkoholikern Suchtkompetenz zubilligen?).
Jeder Lehrer außerhalb einer Förderschule aber muss für mich – und mit diesem Credo bin ich nicht nur sozialisiert worden, sondern habe ich dann auch selbst auf diesen Beruf studiert – eine bestgebildete Respektsperson sein, die fachwissenschaftlich und methodisch-didaktisch fit ist, darum Vorbildstatus genießt und zu der die Schüler aufblicken können. Diesem Bild versuche ich, auch und erst recht als Dozent, bis heute gerecht zu werden, und werde dafür auch bis heute geachtet.
Lehrerbilder, erst recht Behindertenbefunde, ändern sich aber nicht, nur weil eine „Wende“ dazwischen lag. Und einem Trisomie 21-Lehrer ist Autorität nicht gegeben: Wahrnehmung kann man nun mal nicht verordnen. Wer etwa in Anlehnung an Judith Butler („Frauen sind kulturelle Konstrukte“) behaupten wollte, es gebe keine „Behinderten an sich“, sie seien „nicht einmal soziale Produkte, sondern schlicht kulturelle Produkte?“, liegt grundfalsch. Trisomie 21 ist eine Veränderung des menschlichen Genotyps, nicht des Phänotyps. Sie ist keine Krankheit, die mit Arzneien oder Therapien „geheilt“, sie ist nichts, was wegsozialisiert oder gar wegstudiert werden kann, nein, sie begleitet Betroffene lebenslang. Selbst aus Kirchenmund mehren sich Stimmen gegen solche Umdeutung:
„Wir versuchen im Sinne der Political Correctness zu verschleiern, was uns unterscheidet, übergehen die Fremdheit des anderen mit schamhaftem Schweigen. Doch wer Unterschiede leugnet, macht sie dadurch erst zum Stein des Anstoßes. Ein Frieden, der erkauft wird, indem sich alle blind und taub stellen, ist ein fauler Frieden.“
Zur asymmetrischen Wahrnehmung tritt die asymmetrische Kommunikation zwischen Behinderten und nicht Behinderten, die übrigens genauso asymmetrisch ist wie die zwischen Lehrer/Dozent und Schüler/Student – aber unter umgekehrtem Vorzeichen! Wie soll diese Interaktionsschere praktisch geschlossen werden können? Umso arroganter mutet dann das Inklusionsszenario der selbst ernannten „Barrierefreiheitsaktivistin“ Julia Probst an: „…dass wir gar nicht mehr darüber sprechen, weil wir es uns gar nicht mehr anders vorstellen können“. Soso, vorstellen. Nicht wahrnehmen, nicht erleben: Geist schlägt Materie, Schopenhauer lässt grüßen. Explizit unter philosophischer Perspektive bestätigte das jüngst Christian Geyer:
„Ist zivilisationsgeschichtlich das Telos erst einmal erreicht, wird es weder Behinderte noch Nichtbehinderte geben, weder Begabte noch Unbegabte, weder Männer noch Frauen, weder Paralympics noch Olympia. Dann werden alle diese Begriffe das sein, was sie in inklusiver Sicht schon heute nur sind: Begriffe, ohne Erklärungswert für die Wirklichkeit.“
Der von mir verlinkte Ursprungsartikel (aber auch Berichte anderer Medien zum Thema Pineda) nun suggeriert genau das: beginnend mit der Überschrift „Auch ich kann es schaffen“ wird ein Hochschulabschluss als normal dargestellt – jeder Mensch selbst mit Down-Syndrom könne, wenn er sich nur anstrengt, in dieser Wirklichkeit eine Hochschule besuchen und idealerweise sogar Lehrer werden. Dies unterstreicht einmal mehr Pinedas Ausnahmestellung, aber auch und erst recht den Machbarkeitswahn unserer Gesellschaft, allen alles zu ermöglichen. „Weil jeder heute nach dem bestmöglichen Abschluss strebe, würden zahlreiche Jugendliche am Rand ihrer kognitiven Fähigkeiten beschult. Es ist eine Garantie für Frustration und Scheitern“, fasst Katja Timm im SPIEGEL 44/2014 den Tenor der Berufsbildungsforschung zusammen.
Wenn also Julia Probst halluziniert, „Menschen mit Behinderung können genau die gleichen Abschlüsse und die gleichen Positionen wie Nichtbehinderte erreichen und Nichtbehinderten Wissen vermitteln mit entsprechender Förderung und gelebter Inklusion“, entgegne ich, zum wiederholten Male: „Nein, das können sie eben nicht bzw. nur in absoluten Ausnahmefällen, aus denen keine Regelhaftigkeit abzuleiten ist.“ Denn die Botschaft dahinter lautet: schafft ein geistig Behinderter das Abitur und dann sogar einen Hochschulabschluss, dann schafft das jeder – einerlei wie behindert er ist. Das ist menschenverachtend.
Damit werden alle Behinderten, die teilweise nochmal nicht wissen, was ein Diplom eigentlich ist, unter einen absurden Normalitätszwang gesetzt. Damit werden aber auch alle Nichtbehinderten einem irrationalen Leistungsdruck unterworfen: was Behinderte können, kannst du ja wohl erst recht. Ebendies wurde auch in vielen Foren und in Leserkommentaren zu diversen Inklusionsberichten diverser Medien betont:
Fühlt es sich toll an, wenn man trotz Lerneifer immer zu den schlechtesten Schülern gehört? Sollen die Universitäten auch die Prüfungen und Noten abschaffen oder Studenten nur noch nach individuellem „Bemühen“ bewerten? Was sind dann noch die Abschlüsse wert, und wie sollen dann die Arbeitgeber entscheiden, wer für eine Position infrage kommt? Können Sie sich vorstellen, dass jemand mit Lese-/Rechtschreibschwäche Zeitungsartikel schreibt?
Auf den Punkt gebracht möge also jeder die folgenden Fragen möglichst unvoreingenommen für sich beantworten:
- Sind Sie der Meinung, dass Ihre nichtbehinderten Kinder von einem geistig behinderten Lehrer unterrichtet werden könnten?
- Sind Sie der Meinung, dass in Sachsens Bildungssystem gegenwärtig ein geistig Behinderter Abitur machen und an einer Hochschule einen akademischen Grad ablegen kann?
- Sind Sie der Meinung, dass ein geistig Behinderter – gesetzt den Fall, er hätte einen pädagogischen Hochschulabschluss erworben – in Sachsens Bildungssystem als Lehrer arbeiten kann, der gleichermaßen von Vorgesetzten, Kollegen, Eltern, Schülern und der Öffentlichkeit akzeptiert ist?
Nochmals Kramp-Karrenbauer in der ZEIT 31/2014: „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dabei der gesunde Menschenverstand, ein nüchterner Blick für Möglichkeiten … und vor allem die Bedürfnisse der Betroffenen auf der Strecke bleiben.“ Wir haben uns – abgesehen vom „gesunden Menschenverstand“ – nicht umsonst für „Mut zur Wahrheit“ entschieden. Der Kampf dafür durchzieht berechtigterweise eine bestimmte bildungsbürgerliche Schicht jenseits aller Parteizugehörigkeit. Der schon zitierte Wolfgang Fottner empört sich:
„Das kaputtreformierte deutsche Bildungssystem bringt heute deutlich weniger qualifizierte Menschen hervor, die zu allem Überfluss nicht selten auch noch schlechter ausgebildet sind. Wer die Misere beseitigen will, tut gut daran, der Natur über die Schulter zu sehen, die ganz bewusst unterschiedlich ‚talentierte‘ Geschöpfe produziert. Nur Vielfalt garantiert das Überleben der Gesamtpopulation. Der Natur sind kommunistische Ideen der Gleichmacherei fremd. Warum um alles in der Welt sollen denn Bildungsabschlüsse vergleichbar sein? Wieso müssen Deutschlands Studenten und Auszubildende mit denen von Malta, Zypern oder Rumänien auf eine Stufe gestellt werden? Warum wird der Wettbewerb zwischen den Nationen ausgeschaltet? Mit der Idee, die Quote an Abiturienten und Studenten zu erhöhen, wird das genaue Gegenteil vom Erhofften erreicht. Nicht nur hier zeigt es sich, dass Quoten Garanten für den Einstieg in den Ausstieg sind.“
Mir ist die Förderung Begabter wichtiger als die Unbegabter. Mir darum – wie von den sächsischen Behindertenverbänden in der BILD, aber auch von Julia Probst in den DNN hergeleitet – eine darwinistische Nähe zu Euthanasie zu unterstellen ist ebenso politisch erbärmlich wie logisch absurd: geistig Behinderte mit körperlich Behinderten (wie Julia Probst selbst) sowie Migranten (die ich nirgends erwähnte) in einen Topf zu werfen, zeugt außer von Polemik nur noch von argumentativer Talentfreiheit. Nicht bevorzugt zu werden bedeutet doch nicht, diskriminiert zu werden!
Allerdings passt diese Polemik bestens zum Zeitgeist. Sowohl zum allgemeinen, in dem das mediale Injizieren eines nazinahen Schuldbewusstseins selbst zum Berliner WM-Empfang gepflegt wird: Stichwort „So geht Gaucho„. Zum Vergleich: als die FAZ über den Oxford-Biologen Richard Dawson berichtete, der positiv auf Trisomie 21 getesteten werdenden Müttern zur Abtreibung riet und dazu, es nach dem Motto „Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal mit einem gesunden Kind“ einfach noch mal zu versuchen – liefen gerade 113 Kommentare ein, und nicht alle negativ!
Diese Polemik passt aber auch und erst recht zum pädagogischen Zeitgeist: „Da per se mittlerweile alle als Talent gelten, ist weniger das Leistungsvermögen des einzelnen von Belang, denn dies überhaupt ermessen zu wollen erscheint schon als tendenzielle Diskriminierung, ja als schlimme Selektion.“ Noch schärfer jüngst Christian Geyer:
„Nicht jeder kann alles. Und nicht jeder kann das, was er kann, genauso gut wie jemand anderer, der es besser kann. Die Pointe der Inklusionssemantik liegt aber darin, jeden Unterschied als Ungleichheit zu deuten und jede Ungleichheit als Ungerechtigkeit. So wird unter der regulativen Idee der „Normalisierung von Vielfalt“ ein egalitäres Anspruchsdenken installiert, das so weit geht, Unterschiede als solche möglichst gar nicht mehr namhaft zu machen.“
„Inklusion ist aber so, als würde ich mit der Fußballnationalmannschaft trainieren – ich hätte nichts davon und die Profis genauso wenig. Man muss einfach Ungleichheit akzeptieren“ beschreibt ein Kommentator den eigentlich völlig natürlichen Sachverhalt. Letztmals Fottner: „Wer ein geistig behindertes Kind zusammen mit nicht behinderten Kindern beschulen möchte, vergeht sich an beiden Gruppen bezüglich ihrer Bildungsrechte.“ Und ich füge hinzu: wer Nicht-Behinderte von geistig Behinderten beschulen lassen möchte, erst recht. Ich empfinde es schon als Zumutung, solche Selbstverständlichkeiten – über die ich 52 Jahre lang nicht nachzudenken geschweige zu diskutieren brauchte – heute zu rechtfertigen. Für solche Selbstverständlichkeiten aber auch noch politische Konsequenzen ziehen zu müssen und sich beruflich einäschern zu lassen ist irrational, demütigend, unerträglich.
Auf einer abstrakteren Ebene zeigen sich hier auch die unterschiedlichen Resultate einer Sozialisation, die zu nicht nur zu unterschiedlichen Sprachen, sondern inkompatiblen Weltsichten führt: der Westen denkt singulär-individualistisch, der Osten pluralitär-systemisch. In meinem System „Staatliche Schulbildung“ existiert die Regel, dass ein Trisomie 21 – Betroffener aufgrund seiner geistigen Behinderung und den damit verbundenen kognitiven, intellektuellen Beeinträchtungen weder auf Lehramt studieren noch als Lehrer arbeiten kann. Von dieser Deutschland-Regel mag es nun eine spanische (!) Ausnahme wie Pineda geben. Aber keinesfalls ist es so, dass eine plötzlich vorfindbare Ausnahme sofort die alte Regel außer Kraft setzt und eine neue konstituiert! S. Žižek brachte das in einem SPIEGEL-Interview jüngst trefflich auf den Punkt:
Freiheit lässt sich nicht ohne einen gewissen Dogmatismus aufrechterhalten. Ich will nicht einfach alles in Zweifel ziehen, infrage stellen lassen. Der freiheitliche Dogmatismus gründet in dem, was Hegel die sittliche Substanz nannte. Deshalb bin ich auch gegen jede Form der politischen Korrektheit: Diese versucht, etwas mit gesellschaftlichen und rechtlichen Verboten zu regeln, was integraler Bestandteil unserer sittlichen Substanz sein sollte.
Mir geht es um Aufwertung statt Abwertung unserer Bildungsstandards, wahrscheinlich ist genau dieses Engagement der Fehler. Aber Standards sind immer noch einheitliche oder vereinheitlichte, weithin anerkannte und meist angewandte (oder zumindest angestrebte) Modi, etwas durchzuführen, die sich gegenüber anderen Modi durchgesetzt haben und in einem formalisierten oder nichtformalisierten Regelwerk/ einer Norm beschrieben sind. Als solche sind sie nun mal nicht ohne Verallgemeinerungen, ohne Abstraktionen zu haben!
Auch hier ein simples Praxisbeispiel. Wenn ich am ersten Tag eines neuen Semesters ca. 30 Minuten vor Veranstaltungsbeginn das Sekretariat betrete, erhalte ich eine Teilnehmerliste (die u.a. an der Berufsakademie Dresden zugleich eine Anwesenheitsliste darstellt). Der kann ich als Informationen entnehmen:
a) die Zahl der Teilnehmer (die hat Auswirkungen auf die Raumgröße und mein Stimmverhalten)
b) idealerweise die Zahl an Männlein/Weiblein
c) eventuell die Zahl der Studenten mit Migrationshintergrund (und je nach Namen auch deren ungefähre Herkunft).
Mehr nicht. Ich weiß weder, ob die Studenten
– 18 oder 28 sind
– Single oder verheiratet sind und Kinder haben
– aus Dresden, Dortmund oder Dingolfing kommen
– ihr Abi mit 1,0 oder 3,9 schafften
– dieses Abi nach 12 oder 13 Jahren ablegten
– hör-, seh-, geh- oder anderweitig behindert sind
– dieses Studium, eventuell gar nach Wartesemestern, als Erst-, Zweit- oder Drittstudium in derselben oder einer ähnlichen Studienrichtung aufnehmen oder fortsetzen
– mit dem erwünschten Beruf und /oder Fach bereits Vorerfahrungen gesammelt haben
– diese Vorerfahrungen im Falle der Publizistik die Produktion einer Hochzeitszeitung oder eine Lehre als „Mediengestalter digitale und Printmedien“ umfasste
…all das weiß ich nicht.
Aber all das muss ich auch nicht wissen. Denn: wenn ich den Veranstaltungsraum betrete, habe ich die Vorlesung, den Seminarplan etc. fertig vorbereitet! Diese Vorbereitung basiert auf zwei Säulen. Die erste ist die Studien- und/oder Prüfungsordnung (neudeutsch auch „Modulhandbuch“), in der die Inhalte sowie die anzustrebenden Kenntnisse und Kompetenzen niedergeschrieben sind. Die zweite Säule ist die Lehrperson mit ihren fachwissenschaftlichen und praktischen Kenntnissen sowie ihrer didaktisch-methodischen Kompetenz. Im Idealfall fällt beides dergestalt zusammen, dass die Lehrperson die Inhalte der Studienordnung (mit) erarbeitet hat, was bei mir (BA Dresden, FH diploma Leipzig) oft der Fall war.
Das Resultat also ist eine Veranstaltung, die einen bestimmten „Bildungsstandard“ setzt, nach dem die Studenten studieren müssen und in den sie sich in der Regel dadurch integrieren, dass sie während der Veranstaltungen das dargebotene Wissen aufnehmen, verarbeiten und in Form der spezifischen Prüfungsleistung (Klausur, Vortrag mit Hausarbeit, praktisches Produkt…) wiedergeben. Wer diesem Standard – aus welchen Gründen auch immer – schlecht oder nicht genügt, ist doch kein schlechter Mensch! Er kann ja durchaus statt bspw. Medieninformatik zu studieren auf Wirtschaftsinformatik, Informationstechnik oder etwas ganz anderes ausweichen. Aber niemand hat ein Anrecht darauf, den Standard individuell so weit nach unten flexibilisiert zu bekommen, dass auch der letzte einen Abschluss erhält – einerlei, ob er die nötigen Kenntnisse und damit die erforderliche Eignung aufweist oder nicht.
„Die Debatte um die Inklusion in Deutschland ist eine Debatte um Maßstäbe. Was ist für uns normal und was nicht?“, fragte Kramp-Karrenbauer. Ich habe Behinderten nie abgesprochen, dass sie nichts leisten könnten. Ich habe auch nicht in Abrede gestellt geschweige geschrieben, dass man sich von Behinderten nichts annehmen könne – wer das interpretierte, wollte es so interpretieren. Wir lesen, was andere schreiben, und erschrecken über unsere eigenen Gedanken dabei: „Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf“, wusste schon Hermann Hesses „Demian“.
Aber in einer Klasse von 25 Kindern könnte es einem behinderten Kind vielleicht etwas „besser“ gehen (erst wenige qualitative Aussagen zumeist in Tages- und Wochenzeitungen dazu liegen vor), 24 anderen, nichtbehinderten Kindern dagegen geht es eben nicht besser, und genau das kann nicht sein. Das Marschtempo einer Gruppe richtet sich nun mal nicht nach dem Schnellsten; der Förderung eines Schülers steht die Nicht-Förderung aller anderen gegenüber. Das sieht auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbands Josef Kraus so:
Damit ein Kind mit Down-Syndrom im Unterricht mithalten kann, müsste man die Klassengemeinschaft im Tempo drosseln. Das wird dem Gros der Schüler nicht gerecht.
Die Idee, dass die Begabteren die weniger Begabten mit nach oben ziehen, ist ein uralter Hut aus der Gesamtschul-Debatte: dann müsste auch der Kommentator von eben nach dem Training mit Schweinsteiger & Co. zum Nationalspieler werden. „Politik darf Inklusion nicht mit der Brechstange durchsetzen, sondern mit Blick auf Möglichkeiten, Ressourcen und die Interessen aller Beteiligten – auch der Nichtbehinderten.“ erklärte Kramp-Karrenbauer in dem schon zitierten ZEIT-Beitrag.
Julia Probsts Behauptung, dass Kinder von Inklusion, egal welcher Art, profitieren, ist reines Wunschdenken: es gibt keine modernen, belastbaren empirischen Studien, die Wissens- oder Kenntnisvorteile nichtbehinderter Kinder beim Lernen mit Behinderten nachweisen. Selbst jenen oft erwähnten, aber kaum zitierten wie Feyerer 1998 (!), der auf einer Fallstudie beruht, oder Haeberlin/Bless/Moser/Klaghofer 1991 (!), die ein Forschungsprojekt an Schweizer Regel- und Hilfsschulen auswerten, ist bestenfalls positiv konnotierte Ambivalenz zuzubilligen.
In der UN-Konvention, an deren Umsetzung die Kultusminister derzeit arbeiten, ist nirgends davon die Rede, dass Sonderschulen (die auch Förderschulen heißen) abzuschaffen seien zugunsten inklusiver Beschulung in einer „Schule für alle“, in die dann alle Behinderten aufzunehmen wären, wie es von den Verfechtern der Einheitsschule propagandistisch als Imperativ der Vereinten Nationen ausgegeben wird. Eine Konvention wird nicht besser geschweige richtiger, wenn sie von der EU oder gar der UN „verordnet“ wird – im Gegenteil. (4) Hinzu tritt die von Otto Speck aufgedeckte Peinlichkeit, dass es sich um eine Fehlübersetzung handeln müsse. Sein Urteil liest sich in mehrfacher Hinsicht vernichtend:
Wir haben eigene Heime für bestimmte Menschengruppen wie etwa für alte, für psychisch oder mental beeinträchtigte Menschen…Vor diesem Hintergrund verbietet es sich, institutionelle Gruppierungen schlechthin als exkludierend zu denunzieren. Das Menschenrecht auf Teilhabe wird durch partielle Exklusionen nicht aufgehoben…
Es wird verblüfft gefragt: Hat denn niemand die zu erwartenden Kosten berechnet? Voreilige Ministerien hatten sich erhofft, die entstehenden Kosten für ein inklusives Schulsystem ließen sich durch den Wegfall der Kosten für das Förderschulsystem kompensieren… würden sich die Gesamtkosten für ein inklusives Schulsystem im Jahr 2020, das heißt nach dem bis dahin zu erwartenden Geburtenrückgang, bundesweit auf etwa 49 Milliarden Euro belaufen. Zöge man die bisherigen Kosten für das Förderschulsystem in Höhe von 15 Milliarden Euro ab, so verblieben als notwendiger neuer Gesamtaufwand für ein inklusives Schulsystem noch zusätzliche 34 Milliarden. Nach dieser Berechnung kostet ein pädagogisch substanziell ausgebautes System schulischer Inklusion mehr als doppelt so viel wie das Förderschulsystem.
Der Rehabilitationswissenschaftler Karl-Ernst Ackermann hat diese Forderungen unabhängig von ihrer Finanzierbarkeit gar prononciert unter Kitschverdacht gestellt:
„Angesichts der Tatsache, dass Inklusion in der modernen Gesellschaft als Partialinklusion, das heißt als Inklusion in einige beziehungsweise verschiedene Teilsysteme der Gesellschaft abläuft – und dass eine Person als Ganze in keinem Teilsystem gefragt ist, sondern immer nur im Blick auf einige Rollen –, muss die verklärende Rede von Inklusion und die Hoffnung auf ,Totalinklusion’ als das bezeichnet werden, was sie ist: Inklusions-Kitsch. Kitsch, der zugunsten der Harmonisierung die tatsächlichen Differenzen verdeckt und diese erst gar nicht sichtbar werden lässt.“
Denn „Bildung“ verkommt so zu einem Szenario von „Betreuung“: „Das Prinzip Inklusion weiß nichts von Bildungsgütern, Schularten oder Fächern. Es kennt keine Rechtschreibung, keine englische Satzkonstruktion, keine geschichtliche Epochenfolge, kein Musikinstrument, keine Sporttechnik, keinen freien Vortrag eines Gedichts. Die fachliche Anforderung, die das Lernen ausmacht, kommt nicht vor. Aber mit Inklusion, so wird uns eingeflüstert, wird irgendwie etwas Gutes gemeint.“ Dieses „Gute“ stellt sich dann für den SPIEGEL in solchen Szenarien dar:
Als die Gruppendiskussion losgeht, klinkt Lea sich aus. Sie dreht sich zu Franka, kämmt mit der Hand deren Haare – lang, blond und glänzend -, spielt mit ein paar Strähnen und flicht ihrer Mitschülerin einen Zopf. „Ich mag dich“, sagt Lea. „Ich mag dich auch, Lea“, sagt Franka. Lea fasst Franka ins Gesicht, das Mädchen lacht. …
Prompt kann der Schluss nur lauten: „…es geht hier um kein Lernziel, nicht ums Abitur oder überhaupt einen Schulabschluss. Es geht um die Integration in die Gesellschaft.“ Da bin ich mit Martenstein vollständig kongruent, für den es bei „Bildung“ aber darum geht, den Horizont von Schülern zu erweitern, nicht darum, ihren Horizont widerzuspiegeln.
Nach einer der jüngsten Studien (Langner 2011) schätzen gerade 7 % der Eltern ein, durchweg positive Erfahrungen hinsichtlich der Inklusion/ Integration des eigenen Kindes gemacht zu haben (allerdings auch fast ausnahmslos für Krabbelgruppen und Mutter-Kind-Gruppen), 77% der Eltern geben dagegen vor allem negative Erfahrungen an.
Befunde, die auch noch aus einem anderen Grund interessant sind: die Verfasserin Anke Langner ist seit Oktober 2013 Professorin für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt „Inklusive Bildung“ an der TU Dresden. Ohne meine Äußerungen geschweige meine Argumente zu kennen, stimmte sie der Fremdeinschätzung des Rektors zu und verweigert mir den akademischen Diskurs – als ob die Qualität von Argumenten davon abhängt, wer sie äußert. Das ist nicht nur ein Beispiel für mangelnden wissenschaftlichen Anstand, sondern vor allem für die Argumentlosigkeit der inklusiven Parallelwelt, die sich im deutschen Bildungskosmos entwickeln konnte und immer wieder kritisiert wird:
Wie seine Vorläufer ist der Ruf nach Inklusion ein Erzeugnis der Theorie, nicht der Praxis. Er dient dazu, Schul-, Lern- und Bildungsforschern Aufträge und einer ahnungslosen Kultusbürokratie Vorwände zu verschaffen, die ohnehin schon leidgeprüfte deutsche Schule mit weiteren Reformen vollends zu überfrachten.
Einzig der Begriff „Homogenisierungswahn“ wird diesem Phänomen noch gerecht: „Man sieht, es geht nicht um die Vermittlung von Wissen, es geht um die Verwirklichung einer Utopie. … Alle praktischen Fragen („Wie soll das denn funktionieren“) werden mit Gewissensappellen vom Tisch gewischt.“ Ganz abgesehen davon, dass mit diesen appellativen Phänomenen ja nicht nur Behinderung oder Begabung, sondern inzwischen auch sexuelle Identität wegdiskutiert und lieber „zugeschrieben“ werden soll… Damit liegt fast der nächste Dystopie-Verdacht nahe – der einer neuen, reziproken Separation: die vielen Verschiedenen müssen mit aller Macht gleich werden, nur wenige ebenso einflussreiche wie vermögende Gleiche sollen ihre Verschiedenheit bewahren dürfen…
Der Institution Schule würde somit eine Aufgabe zugewiesen, die ihr ebenso wenig zukommt wie sie sie leisten kann: es ist paradox, ein gemeinsames System für alle Menschen zu etablieren, ohne dass jemand ausgegrenzt oder stigmatisiert wird, und dabei auch noch anzunehmen, dass das ohne Anpassung vonstatten geht. 24 Individuen sollen ihre Ich-Empfindungen, ihre Bildungswünsche verdrängen zugunsten eines anderen? „Wir wollen nicht, dass die Zugehörigkeit zu einer Randgruppe zur Tugend und zum Privileg umgedeutet wird…“ brachte das Bernd Lucke auf den Punkt. Matthias Zimmer hat das Dystopische einer Privilegierung treffend erkannt:
„Das Problem mit der Quote ist, dass irgendwann einmal jede Gruppe von sich behaupten kann, sie sei strukturell benachteiligt und unterrepräsentiert. Dann erheben etwa die Lesben, Schwulen und Transgender-Aktivisten die Forderung nach einer Quote, gefolgt von den Muslimen, den Aussiedlern, den Alten, den Jungen usw. Die Gesellschaft zerfällt in Interessengruppen, die sich als Opfer unzureichender Repräsentation und struktureller Benachteiligung darstellen. Am Ende besteht die Gesellschaft nur noch aus Opfern – und denjenigen, die keiner dieser Gruppen angehören, aber für alles Leid der Gesellschaft verantwortlich gemacht werden.“
Der Anspruch des Einzelnen hat aber dort seine Grenze, wo das Wohl der Vielen, ja der Gesellschaft als Ganzes Schaden nimmt. Harald Melzer begründete das im SPIEGEL 08/15:77 soziologisch: Die Individualisierung aller Problemlagen liegt völlig diametral zu dem, wofür wir Rechtsstaaten und Demokratien erfunden haben.“ Hat irgendjemand die nichtbehinderten Mitschüler oder gar deren Eltern gefragt, ob sie mit einem behinderten Kind in der Klasse einverstanden sind? Denn gerade auch nichtbehinderte Mitschüler artikulieren sich inzwischen im Netz:
Manchmal geh ich nur auf Toilette, um kurz Ruhe zu haben. Ich denke, es wäre besser für ihn, auf eine andere Schule zu gehn. Ich glaube nicht, dass er jemals den Abschluss schaffen wird, und für seine Mitschüler ist es auch nicht schön. Ich weiss, er kann nichts dafür, aber ganz ehrlich: Es ist nicht fair, dass man wegen ihm gestört wird!
Also: 24 sollen multiplizieren, der fünfundzwanzigste aber will Bilder ausmalen? Das hat zum ersten für mich nichts mit Demokratie zu tun, sondern ihrem Gegenteil: der Diktatur, ja der Tyrannei eines einzelnen. Das läuft zum zweiten nicht nur dem Sinn von Schule zuwider, die in erster Linie ein Ort der Kompetenzvermittlung sein soll:“Schule ist dazu da, Talente zu entfalten und zu Leistung zu ermutigen. Dabei ist es notwendig, Unterschiede zuzulassen, auch institutionell. Wenn alle per Beschluss gleich gut sind, ist die Leistung eines jeden entwertet“, so Ahrbeck im SPIEGEL. Und: damit wird zum dritten eine verkopfte Wohlfühl- und damit Schonwelt aufgebaut, in der die Fremdwahrnehmung wichtiger sein soll als die Selbstwahrnehmung. Eine verkopfte Wohlfühl- und damit Schonwelt, in der sich jeder zurücknehmen und mit dem zufrieden geben mag, was ihm huldvoll von jenen gewährt wird, die sich diese Welt ausdachten. Das hatten wir schon mal, und ich werde alles dafür tun, dass sich das nicht wiederholt. Der unserer Positionen sicher völlig unverdächtige SPD-Bildungsminister MV, Mathias Brodkorb, hat erst vor wenigen Monaten unter der Schlagzeile „Warum Inklusion unmöglich ist“ die Gefährlichkeit solcherart „Kommunismus für die Schule“ gegeißelt:
Wie soll es funktionieren, wenn alle Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit demselben Lernstoff folgen? Die einfache Antwort lautet: Das ist unmöglich. Die Anhänger einer radikalen Inklusion verabschieden sich daher ganz klar von zentralen Bildungsstandards. Die Standards sollen nicht zentral vorgegeben werden und im Grundsatz für alle gelten, sondern es soll umgekehrt Schule ausgehend von jedem einzelnen Schüler und jeder einzelnen Schülerin her gedacht werden: Nicht die behinderten Kinder müssen für das System fit gemacht werden, sondern umgekehrt das System für das behinderte Kind.
Nicht das Bestreben, immer mehr Weniggebildete studieren zu lassen, sondern umgekehrt weniger, aber dafür die Bestgebildeten an die Unis zu holen, muss die Konsequenz sein – und genau die ist politisch nicht mehr gewollt: „Doch auch wenn man das Studium rein ökonomisch als Ausbildung und Voraussetzung für eine Karriere betrachtet, muss man einen galoppierenden Wertverfall feststellen. Je mehr Menschen ein Gut besitzen, desto weniger taugt es als Aushängeschild für Status. Selbst ein schwacher Student gehörte selbstverständlich zu einer Elite, als nur acht Prozent seines Jahrgangs studierten. Für heutige Studenten gilt das wohl kaum.“ Ich möchte mich aber nie von einem Arzt behandeln lassen, der sein Diplom nicht seinem Wissen, sondern einem System verdankt.
Eine (Wieder-)Elitisierung für Spanien zu fordern steht mir nicht zu, aber für Deutschland allemal. Dass diese Forderung richtig und wichtig ist, zeigt gegenwärtig eine Absurdität an der Hochschule Mittweida. Hier werden Diplom-Absolventen ohne Promotion auf Professuren berufen und dabei verpflichtet, ab Oktober 2014 lehrbegleitend ihren Master zu absolvieren, um für alle angebotenen Abschlüsse (darunter eben auch Master) prüffähig zu sein – und das, obwohl es in Deutschland –zig arbeitslose bzw. sich von Befristung zu Befristung hangelnde promovierte Absolventen zwischen 25 und 35 gibt: ca. 80 000 waren es 2008; von denen im Alter 35+ gar nicht zu reden. Der Schluss liegt nahe, dass heute nur noch berufen wird, wer zum einen angepasst und zum anderen weniger qualifiziert ist als die Berufenden, damit deren fachlicher und sozialer Status Quo unanfechtbar bleibt – auch das indiziert Konvergenz und Werteverfall.
Politik muss man lernen. Ich habe 51 Jahre keine betrieben, da ich mich darauf verließ, dass jene, die sie betreiben, sie auch mit mir und für mich machen und vor allem gut machen. Natürlich wagen sich erfahrene Politiker zumal in Wahlkampfzeiten nicht in die Nähe eines potenziell kontroversen Themas, zu dem die allgemeine Gefühlslage noch unklar ist – Wissenschaftler und Privatpersonen dagegen schon. Mein nicht politisch gewolltes, aber so verstandenes Posting sollte dazu beitragen, kontroverse Denkanstöße zur Weiterführung des Diskurses zu liefern, um die Güte wenn nicht von Politik, dann wenigstens von Pädagogik zu befördern. Aber Kritik ist offenbar nur dann erwünscht, ja erlaubt, wenn man die Diskussion gewinnen kann; Walter Scheel hätte seine helle Freude gehabt:
Demokratisch ist es, dem anderen zuzuhören, seine Meinung zu erwägen, das, was einem selbst einleuchtet, zu akzeptieren und gegen das übrige, unter ständiger Wahrung des Respektes vor der Person des anderen, seine Gegenargumente hervorzubringen.
Aufgrund der Folgeberichterstattung passierte das nun aber nicht in dem Duktus, der mir vorschwebte: verschiedentlich fiel gar der Begriff „mediale Hinrichtung“.
Gernot Bauer hat das Phänomen jüngst als „Schwarmbrualität“ gegeißelt und gemutmasst, dass, wer nur noch soziale Medien konsumiert, offenbar verlernt, sinnerfassend zu lesen:
Im Pulk mit zehntausend anderen brüllt es sich leicht. Noch leichter brüllt es sich gegen einen Einzelnen. Am leichtesten aber brüllt es sich gegen einen Einzelnen, der sich das exponierte Amt eines Schiedsrichters/Kommentators anmaßt und prompt falsch pfeift/kommentiert.
Im GG lautet die Ziff. 3 des Artikels 3 „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Diesen Passus als Ex-DDR-Bürger 24 Jahre nach der Einführung dieses Grundgesetzes rechtfertigend bemühen zu müssen, grenzt für mich an Schizophrenie – auch wenn das Bemühen vergeblich war: mit der Nichtgewährung weiterer Lehraufträge an der TU Dresden nach 32 und der BA Dresden nach 14 Semestern fast ununterbrochener Lehre ist mein Geschäftsmodell als Freier Dozent zerstört – und damit meine Existenz ruiniert. Ein Quasi-Berufsverbot wegen einer Meinungsäußerung – soviel zum Demokratieverständnis in diesem Staatswesen:
Aus dem demokratischen Spektrum dürfen nur die Standpunkte und Forderungen ausgegrenzt werden, die auf Abschaffung der Demokratie und der Menschenrechte zielen, zum Beispiel der Meinungsfreiheit selbst. So viel Ausgrenzung muss sein, aber mehr auch nicht. Denn Ausgrenzung betrifft nicht die Richtigkeit, sondern die Zulässigkeit von Argumenten. Genau genommen entscheidet sie nicht einmal darüber, was man sagen darf, sondern wer was sagen darf. Sie dient nicht der fairen Auseinandersetzung, sondern setzt ihr ein Ende. Ausgrenzung ist ein Werkzeug der Macht.
Alexander Grau hat das drastisch aus der Perspektive der Toleranz-Akzeptanz-Diskussion bekräftigt:
…Bleiben natürliche Eigenschaften, für die der Mensch nichts kann, sein Alter etwa oder eine Behinderung. Keine Frage: Selbstverständlich wäre es wünschenswert, wenn sie von allen Mitmenschen akzeptiert würden. Doch bedeutet das zugleich, dass ein Anspruch darauf besteht? Nein, das bedeutet es nicht. Denn an diesem Punkt kollidiert der passive Anspruch auf Akzeptanz mit den aktiven Freiheitsrechten des Einzelnen – und sogar mit dem heiligen Gral aller Freiheitsrechte, der Gedankenfreiheit. Kurz: Menschen haben auch das Recht auf eine Meinung, die der Mehrheitsmoral widerspricht. So liegt es im Freiheitsrecht jedes Einzelnen, despektierliche Ansichten über seine Mitmenschen zu haben. Dieses Recht auf Gedanken- und Meinungsfreiheit geht sehr weit. Es findet seine Grenze nur im Strafgesetzbuch.
Und soviel auch zum Grundgesetzverständnis der Medien: keinem Journalisten „fiel“ ein, dass es diesen Passus gibt. Dass dann ein Rektor bei PEGIDA sein Neutralitätsgebot medienunbeachtet einfach so vergessen darf, passt da bestens ins Bild. Ganz abgesehen davon, dass die wenigsten Medien mit mir sprachen, aber alle über mich – es hätte ja das vorgefasste Urteil revidieren können… Nicht ich also habe eine „bizarre Debatte“ losgetreten – nein, bizarr wurde sie durch das, was Dieter Nuhr und Peter Sloterdijk jetzt so ausdrückte:
„Ich habe kein Verständnis dafür, dass die bei uns lange erkämpfte Meinungsfreiheit nicht mehr ernst genommen wird, wenn sich jemand beleidigt zeigt.“
„Es gibt kein Recht, von Beleidigungen frei zu bleiben, erst recht keinen Anspruch auf Überempfindlichkeit.“
Meike Winnemuth kommentierte treffend: „Das bezog sich auf tödlich beleidigte Islamisten, es lässt sich aber genauso auf die gereizte Unfähigkeit anwenden, Andersdenkenden oder -schreibenden oder meinetwegen auch nur Andersbrabbelnden die Freiheit zuzugestehen, genau das zu tun. Immer wenn soziale Kohärenz nur durch Abschaffung des gerade Missliebigen möglich ist, wird es brandgefährlich.“
Und die Debatte blieb bizarr durch die unsachlichen, an jeder pädagogischen Realität vorbeigehenden Wertungen und Unterstellungen, mit denen ich mich natürlich, und mit jeder einzeln, auseinandersetzen wollte und musste: „Zu kalt zu wirken ist heutzutage ein weitaus größeres Verbrechen als zu reich zu sein“, konstatierte Jan Fleischhauer im SPIEGEL. Dass mir eine 30jährige Piratin und Gebärdendolmetscherin aus Baden-Württemberg berufliche Kompetenz als Dozent abspricht – und das als Nichtdozentin und Nichtjournalistin in einem vor Spekulationen und Diffamierungen strotzenden Schüleraufsatz, den eine wenn auch kleine, dennoch sich bis dato seriös gerierende Dresdner Tageszeitung abzudrucken sich nicht entblödete – geschenkt. Abgesehen davon, dass schon Volontärinnen dieser Zeitung nochmal nicht mehr wissen, ob ein Pfund zwei Kilo oder doch bloß ein halbes sind… Aber in sozialen Medien war zeitweilig sogar Schlimmeres als nur die Verweigerung meiner Denkanstöße beobachtbar:
Natürlich merkte ich im Nachhinein, dass ich mich mit meinem Beitrag in einem nicht unbedingt geeigneten Medium vergaloppiert hatte – weder sind meine ironisch-sarkastischen Überspitzungen angekommen noch hätte ich dieses Thema mit dieser Wortwahl ansprechen sollen. Aber da trennte ich – unbewusst – tatsächlich die private von der politischen Person. Dass politische Gegner wie die angstschlotternde FDP im Wahlkampf jede leichtsinnige Mehrdeutigkeit gnadenlos ausnutzen, erst recht massenmedial ausnutzen lassen, liegt in der Natur der Sache – sie wären dumm, unterließen sie es: man nehme einen Fakt, mache ihn mit dem richtigen „Spin“ publik und suche Verlautbarungsjournalisten, die sich instrumentalisieren lassen. Und die gab und gibt es immer, zumal bei Medien, denen es vor allem um Aufmerksamkeit und Auflage geht, wie jüngst Schlüter beklagte:
Sieht man sich als einen Dienstleister, der primär unterhalten oder schockieren möchte? Oder beinhaltet das journalistische Selbstverständnis auch eine medienethische Dimension? Es ist auffallend, dass im digitalen Raum ausgetragene Kontroversen häufig eine Emotionalität und Tragweite bekommen, die dem Anlass gar nicht mehr angemessen erscheinen. Hier müssen wir uns auch als Gesellschaft fragen, welche Medienkultur wir pflegen wollen. Etwas mehr Sachlichkeit und Gelassenheit würde da aktuell gut tun.
Im Kampf um Aufmerksamkeit nun können Informationen übertrieben oder übergangen werden: aus der perfekt im Gedächtnis haftenden Verkürzung „AfD-Landesvize hetzt gegen Behinderte“ wird bei BILD dann halt ein „AfD-Hetzer“.
Roland Tichy bezeichnete das als „Hinrichtungsjournalismus“:
Dabei wird nicht versucht, Menschen Ausdruck zu verleihen, sondern sie bewusst misszuverstehen, Aussagen zu verkürzen, aus dem Zusammenhang zu reißen, um diese Menschen negativ vorzuführen. Das schafft Schlagzeilen, denn die Meute greift auf, was andere ihr vorwerfen. Dagegen wehren sich immer mehr Menschen, denen ein Presserechtler nicht zur Verfügung steht, durch Schweigen. Profis umgeben sich mit Pressesprechern, Anwälten und Aufpassern; lassen sich Interviews zur Autorisierung vorlegen und schwächen problematische Aussagen ab. Umso anstrengender wird die Jagd und die Suche nach „authentischen“ Aussagen, die sich skandalisieren lassen. Beispiele für diese Art „Hinrichtungsjournalismus“ finden sich zu viele; immer wenn ein verkürztes Zitat eingesetzt wird, kann man davon ausgehen: Hier wird die Wahrheit durch Überspitzung zumindest verdreht, oft völlig verkehrt.
Schon Hannah Arendt hat konstatiert, dass Meinungsfreiheit und konformistische öffentliche Meinung unvereinbar seien, weil Meinungsbildung nur dadurch entstehe, dass man sich auf andere Meinungen einlasse. Werde jede abweichende Meinung jedoch durch die Medien moralisch diskreditiert und zum Tabu erklärt, sei die Meinungsfreiheit tot – und damit auch die Republik. Es ist eine wesentliche Begründung für die Erschwernis, ja Aussichtslosigkeit, die Inklusionsdebatte gewissermaßen rational und damit offenbar nonkonformistisch zu führen: darf sich, damit eine Mehrheit sich entfalten kann, das für eine Minderheit, ja ein Individuum „anfühlen“ als Beschränkung von deren / dessen Möglichkeiten, Ressourcen und Interessen, oder wird damit die Diskussion über das Bezeichnete hingelenkt zu einer moralischen Debatte über den Bezeichnenden? Einzig die Moralpsychologie hilft hier weiter – aber eben nur jenen, die sich damit dezidiert und nicht auf Stammtischniveau befassen. (5) Dieter E. Zimmer hat das 1993 deutlich bemerkt:
„Es zählt nicht, ob etwas (subjektiv) rassistisch oder sexistisch gemeint war, auch nicht, ob es (objektiv) Rassismus und Sexismus befördert, und schon gar nicht, ob es richtig oder falsch ist – es genügt, daß ein Angehöriger einer Minorität (oder jemand, der in ihrem Namen zu sprechen vorgibt) sich rassistisch oder sexistisch beleidigt glaubt. … Das Fatale an der PC, so scheint es mir, ist nicht, daß da diskutiert wird, und zwar hart; sondern daß manche Diskussionen von vornherein gar nicht stattfinden können, oder höchstens in Form von Schauprozessen.“
Dirk Popp hat die, wie ich sie nenne, „Affektlogistik“ kürzlich knapp zusammengefasst: „Krisen haben zu einem großen Teil mit Emotionen zu tun, und die sind ab einem gewissen Punkt auch von den professionellsten Leuten dieser Welt nicht mehr steuerbar.“ Vielleicht hätte ich das SPIEGEL-Interview mit Karl Lauterbach vorher finden sollen:
Die Intelligenz eines Wissenschaftlers zum Beispiel ist in der Politik oft nicht nur wertlos, sie schadet sogar. Wissenschaftliche Intelligenz bedeutet, dass man abstrahiert. In der Politik zählt jedoch das Konkrete. Wissenschaftler lieben Details und lange Vorträge, Politik braucht eine extreme Zuspitzung durch Bilder, plakative Sätze oder eine Story. Wissenschaftler glauben, dass sich am Ende immer das bessere Argument durchsetzt. Das ist aber eher die Ausnahme. Man muss sein Argument auch darauf überprüfen, ob es verhetzbar ist, ob es absichtlich missverstanden werden kann.
Politik wird in Deutschland eben nicht mehr durch die argumentative Auseinandersetzung um die besten Ideen, Argumente und Konzepte betrieben, sondern fast ausschließlich durch das Schüren von Emotionen. Übrig bleibt porentief reine Schuldpropaganda, die jene, die sie zu waschen begannen, einfach geschickter zu schleudern und schneller in trockne Tücher zu bringen wussten. Und dass affektiv gestimmte Bevölkerungsschichten zumal in AfD-kritischem Meinungsklima verführbar sind, sich medial vorattribuierte Frames zu eigen zu machen statt sich die Realität selbst anzueignen, liegt sicher in der Natur des mediengeprägten Durchschnittsdeutschen des Jahres 2014, der nach Orientierung dürstet, aber aus der Meinungswüste nicht mehr herausfindet. Thorsten Hinz hat den Mechanismus historisiert – eigentlich müsste man darüber erschrecken:
Anschwärzer haben Hochkonjunktur, wenn die Kluft zwischen der herrschenden Ideologie und der Wirklichkeit offensichtlich wird. Die Institutionen sind dann bestrebt, eine Atmosphäre latenter Unsicherheit und Ausgrenzungsfurcht zu erzeugen, die die Menschen dazu bringt, sich gemäß den ideologischen Prämissen zu verhalten. In dieser Hinsicht nähert sich die Bundesrepublik der DDR immer mehr an.
Ein eigenes Kapitel ist dabei für mich, warum – wie im Threadverlauf beobachtbar – vor allem junge Menschen dieser Emotionalität, ja Affektivität verfallen und sich unreflektiert fremde Mainstream-Perspektiven nach Art einer Jasager-Mentalität zu eigen machen: eine Herde von Mitläufern, die unter dem Deckmantel der Zivilgesellschaft plötztlich zur Hetzmeute mutiert. An die Stelle des „denkt nach“ ist das „empört euch“ getreten: es ist offenbar nicht mehr so wichtig, wie sich die Dinge zueinander verhalten, sondern vielmehr, wie man zu ihnen steht – respektive, was sie in einem auslösen. Schon Norbert Bolz wusste:
„Der Politischen Korrektheit geht es nicht darum, eine abweichende Meinung als falsch zu erweisen, sondern den abweichend Meinenden als unmoralisch zu verurteilen. Man kritisiert abweichende Meinungen nicht mehr, sondern hasst sie einfach. Wer widerspricht, wird nicht widerlegt, sondern zum Schweigen gebracht.“
Neben Christiane Florin hat mit Gabriele Krone-Schmalz auch eine prominente TV-Journalistin das Fehlen aller Debatten beklagt: „Ohne Streitkultur geht die Demokratie kaputt.“ Noch drastischer jüngst Reinhard Mohr:
„…die ebenso blitzschnelle wie bedenkenlose Moralisierung aller Diskurse, die die Widersprüche der Realität unter sich begräbt. Es geht um Affekte statt um Argumente. Ein Reizwort reicht, und schon gerät die praktische Vernunft unter die Räder. Schande, Scham und der Aufschrei im Chor ersparen das Selberdenken. Nie war die Moral to go billiger zu haben. Beinahe alle Lebensäußerungen werden einem ausgeklügelten Filtersystem unterworfen: Darf man das sagen? Darf man das machen? Ist das korrekt?“
Bei Adorno gab es den lässigen Satz, dass nur die Übertreibung wahr sei. Ich finde ihn richtig, denn manche Dinge müssen einmal konsequent zu Ende gedacht werden, um eine Möglichkeit zu entwickeln, die Optik richtig einzustellen. Ich glaube, dass es dringend eines wissenschaftlichen und politischen Streits zu einer „Optik“ bedarf, ob und inwieweit Inklusionismus unseren Mitbürgern und unserem Land förderlich ist. Denn: “Die Inklusion wird die Welt nicht kindlicher machen. Die Lebenswirklichkeit setzt irgendwann ein, auch für das Kind mit Downsyndrom”, so Bernd Ahrbeck im SPIEGELInterview. Eine Lebenswirklichkeit, die inzwischen in Berlin prompt das Scheitern des so beschworenen Konzepts verursachen dürfte. Bonfranchi geht sogar noch einen Schritt weiter:
“Haben die Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht auch ein Recht, unter sich zu sein? So, wie es ja die „anderen“ Menschen auch tun? Müsste man sich nicht auch überlegen, dass diese Form der Inklusion … eine Form der Bagatellisierung von Behinderung und damit auch eine Form der Würdeverletzung dieser Menschen ist? Müsste man sich nicht auch vermehrt darüber Gedanken machen, dass die Schule, die doch eine intellektuell ausgerichtete Institution ist, möglicherweise gerade der falsche Ort ist, um Integration beziehungsweise Inklusion betreiben zu wollen? Über das Wesentliche, was geistige Behinderung ausmacht, nämlich eine intellektuelle Behinderung, macht man sich zu wenig oder gar keine Gedanken. Daraus ergibt sich dann die Frage: Wofür beziehungsweise für wen findet diese Inklusion eigentlich statt? Könnte es nicht eher auch sein, dass die Befürworter dieser Ideologie sich gut fühlen, sich als Gutmenschen verstehen können, wenn sie davon ausgehen, dass es doch „schön“ ist, wenn alle zusammen sind? Aber entspricht dies den üblichen Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft?”
Inklusive Konventionen und Verordnungen mögen vielleicht eine Sozialindustrie befördern, nicht jedoch das Menschsein. Aber genau das, nicht mehr und nicht weniger, will ich. Eine Haltung, „gekennzeichnet durch ein realistisches Bild vom Menschen, der nicht mittels wunschbestimmter Idealisierungen, gendermanipulativer Phantastereien oder Gleichheitsphrasen konstruiert, sondern in seinem tatsächlichen Wesen ernstgenommen wird.“ Eine Haltung, die der Wahrheit entspricht und nicht der Mehrheit. Eine Haltung, die Wertekonflikte aushält – mit jener Begründung, die Hans H. Klein so formulierte (6):
Die Meinungsfreiheit erlaubt es auch, und sei es mit polemischen, übertreibenden oder verletzenden Formulierungen, ein vom Meinungskartell der Eliten errichtetes Tabu zu brechen, selbst wenn dies mit einer anstoßerregenden oder falschen Begründung geschieht. Die angemessene Reaktion des Rechtsstaats und seiner Amtsträger ist sachbezogene Auseinandersetzung, nicht die gesellschaftliche Ächtung.
Ich wiederhole gern die Worte aus meinem Eintrag zu Christa Wolfs Tod: „Wichtig ist nicht, wer etwas sagt, sondern was gesagt wird. Wichtig ist nicht, wie es gesagt wird, sondern dass es gesagt wird.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Dresden, im Juli 2014
[edit 25.04.2015: Doch, dem ist ein Auszug dieses Textes hinzuzufügen, der das sozialmoralinsaure einer verzärtelten Gesellschaft trefflich auf den Punkt bringt: „Der Standardspruch von Erwachsenen in den 50er Jahren, der Nachkriegszeit, zu ihren Kindern, waren sie hingefallen und hatten blutige Knie, war: Stell dich nicht so an! Nein, ein solcher Satz kann herzlos sein, aber er enthielt, bei aller Schroffheit, auch die Botschaft, dass ein Baden und Suhlen im eigenen Leid vielen dient, aber nicht das Leid selbst tilgt.“ (Jan Feddersen)]
[edit 27.04.2015: dieser Artikel bringt die Schizophrenie der Inklusionsdebatte trefflich auf den Punkt: „Der Direktor forderte, „die reden zu lassen, die die Inklusion umsetzen müssen. Es ist eine unerträgliche Situation, dass Schulleiter und Lehrer Angst haben, sich in der Öffentlichkeit zu äußern.“ Die Probleme seien größer als allgemein bekannt. Für die Schulen sei längst „die Grenze des Zumutbaren erreicht“. Die Herausforderungen der Inklusion müssten öffentlich diskutiert und nicht nur von oben verordnet werden. Sonst provoziere man auch den Widerstand von Eltern.“
[edit 16.07.2015: dieser Artikel aus der ZEIT von heute bringt die Erbärmlichkeiten der Medien angesichts von Tim Hunt trefflich auf den Punkt: „Wenn wieder mal ein Shitstorm tobt, dann heulen zu viele von uns mit den Wölfen, statt den Bedrängten beizustehen, unabhängig davon, ob man ihre Ansicht teilt oder nicht. Wir verteidigen unsere Werte nicht, wir haben die Hosen voll, aber ich vermute, dass die meisten unserer Leserinnen und Leser etwas mehr Mut von uns erwarten.“]
Anmerkungen:
1) In einer Urteilsbegründung schrieb gelegentlich des Begriffs „Terroristentochter“ der BGH bereits im Dezember 2006:
Da es der Sinn jeder zur Meinungsbildung beitragenden öffentlichen Äußerung ist, Aufmerksamkeit zu erregen, sind angesichts der heutigen Reizüberflutung einprägsame, auch starke Formulierungen hinzunehmen. Das gilt auch für Äußerungen, die in scharfer und abwertender Kritik bestehen, mit übersteigerter Polemik vorgetragen werden oder in ironischer Weise formuliert sind. Der Kritiker darf seine Meinung grundsätzlich auch dann äußern, wenn sie andere für „falsch“ oder für „ungerecht“ halten. Auch die Form der Meinungsäußerung unterliegt der durch Art. 5 Abs. 1 GG ge-schützten Selbstbestimmung des Äußernden. Verfolgt der Äußernde nicht eigennützige Ziele, sondern dient sein Beitrag dem geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage, dann spricht die Vermutung für die Zulässigkeit der Äußerung; eine Auslegung der die Meinungsfreiheit beschränkenden Gesetze, die an die Zulässigkeit öffentlicher Kritik überhöhte Anforderungen stellt, ist mit Art. 5 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Für die Beurteilung der Reichweite des Grundrechtsschutzes aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG kommt es ferner maßgeblich darauf an, ob und in welchem Ausmaß der von den Äußerungen Betroffene seinerseits an dem von Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Prozess öffentlicher Meinungsbildung teilgenommen, sich damit aus eigenem Entschluss den Bedingungen des Meinungskampfes unterworfen und sich durch dieses Verhalten eines Teils seiner schützenswerten Privatsphäre begeben hat. (Az. VI ZR 45/05)
2) Als pädagogische Handicaps, die im Einzelfall Pineda nach eigener Aussage zu ca. 30 % zutreffen, sind artikulatorische und sprachliche Defizite aufgrund vergrößerter, dabei hypotonischer Zungenbildung, größere Koordinationsprobleme und damit geringere Bewegungsdynamik zu nennen: „Aufgrund der Langsamkeit entwickeln sie ein ausweichendes Verhalten, das eine Misserfolgsvermeidungshaltung darstellt“. Beginnend bei Sprache, affektiver Regulation… bis hin zu sog. Dyskinesien benötigen Trisomie 21-Betroffene also für alle Interaktionen viel mehr Zeit als Nichtbehinderte. Darauf machen auch viele Kommentare in Foren aufmerksam, bspw. „Menschen mit Down sind ja nicht grundsätzlich „dümmer“ als gesunde Menschen. Sie brauchen aber für fast alles 3x so lange. Schon deshalb dürfte ein Hochschulabschluss nach deutschen Standards ausgeschlossen sein, weil ein Mensch mit Down Syndrom das zeitlich gar nicht packen dürfte. Eine politisch korrekte Qoute durch Absenkung der Anforderungen halte ich generell für den falschen Weg.“
3) vgl. Götsch, „Allgemeine und Spezielle Krankheitslehre“, Stuttgart 2011
4) Das brachte Frauke Petry in einem Interview mit den Worten auf den Punkt, dass wir, wenn wir etwas dauerhaft retten wollen, auch die Schwächen benennen und gegensteuern müssen – was wir bislang nicht tun. Denn wenn diese – in Deutschland leider ohne Referendum ratifizierte – Konvention UND deren Umsetzung auf politischer Ahnungslosigkeit gegründet sind und in eine soziale und pädagogische Sackgasse münden, müssen Mittel und Wege gefunden werden, sie zu verlassen und neu zu verhandeln.
5) Bspw. in Gestalt des sogenannten „Trolley-Problems“ (auch „Footbridge-Dilemma“). Inhalte übrigens, die man in Fächern wie „Wirtschaftsethik“ hört, aber auch im Studium Generale guter Hochschulen. Man stelle sich vor, ein Zug fährt ungebremst auf eine Gruppe von fünf Menschen zu. Die einzige Möglichkeit, den Zug aufzuhalten und die Menschen zu retten, besteht darin, eine sechste Person zuvor auf eine Weiche zu stoßen, damit der Zug umgelenkt werden kann (Judith Jarvis Thomson ergänzte später die Variante „Fetter-Mann-Problem“).
80 Prozent meinen, es fühlt sich falsch an, die Person auf die Gleise zu schubsen. Das ist eine emotionale Reaktion. Aus utilitaristischer Sicht dagegen wäre es angemessen, die Person zu opfern. Immerhin könnte man so fünf andere Leben retten. Es gibt also, objektiv gesehen, keine richtige oder falsche Antwort – wie man entscheidet, hängt von den subjektiven Moralvorstellungen ab. Mit dem Spin von „Behindertenhetze“ dagegen wurde in meinem Falle eine oberflächlich-mehrheitliche (?) Bewertung als einzig richtige vorgegeben – jedes rationale Argument darf sich dann des Totschlags durch die Moralkeule erfreuen, die alles tiefere Nachdenken verhindert: und damit eben wird die Diskussion über das Bezeichnete hingelenkt zu einer moralischen Debatte über den Bezeichnenden.
Zurück zur Sprache: dasselbe Prinzip läge bspw. vor, wenn ich in Olaf Schuberts Manier Sachsens Staatsregierung als „prasseldumme Pförtnerkinder“ titulierte (zu meinen Studienzeiten Mitte der 80er Jahre in Magdeburg ein beliebtes Vulgärwort), nach einem Hinweis aus der Staatskanzlei dann ein Verlautbarungsjournalist gemeinsam mit Statements des „Allgemeinen Schutz- und Sicherheitsverbands für Arbeitnehmer in Schutz- und Sicherheitsberufen“ eine mediale Empörungswucht hervorruft, die nicht auf die Regierung bzw. die Gründe des Sarkasmus abzielt, sondern darauf, dass ich alle Pförtnerfamilien verhöhnt hätte, was dann „ver.di“ mit dem Vorwurf der Beleidigung aller Angehörigen ehrenwerter Dienstleistungberufe toppt – und wieder würde die sachliche Diskussion über das Bezeichnete hingelenkt zu einer moralischen Debatte über den Bezeichnenden.
6) Klein, Hans H.: „Geben Sie Gedankenfreiheit“. Freiheit der Kommunikation – Fundament gerechter Herrschaft. In: Nikolaus Jackob, Marcus Maurer, Simone C. Ehmig, Stefan Geiß, Gregor Daschmann (Hrsg.): Realismus als Beruf. Beiträge zum Verhältnis von Medien und Wirklichkeit. Wiesbaden 2013:34