Halbe Ladung Wahrheit
10. November 2014 von Thomas Hartung
Sehr geehrter Herr Pörksen,
in einer „Widerrede aus gegebenem Anlass“ widmeten Sie sich in der ZEIT 44/2014 (und zeitversetzt im Internet) unter dem – von Iljoma Mangolds Rezension zu Akif Pirinçci – plagiierten Titel „Volle Ladung Hass“ dem Phänomen der Medienverdrossenheit. Sie konstatierten eine milieuunabhängige Bewegung des „bösen Blicks“ auf Journalisten wie Medien gleichermaßen. Diese Bewegung sei „weltanschaulich pluralistisch“, „nicht eindeutig rechts oder links“ und formuliere „großformatige Verfalls- und Verwahrlosungsthesen“. Thesen, die Sie für falsch halten „und in ihrer Wucht gefährlich, weil sie das Vertrauen in den Journalismus untergraben und den bösen Blick seltsam starr werden lassen.“
Diese Widerrede hat mich zu einer ebensolchen in Form eines „Offenen Briefes“ herausgefordert, entlang geschrieben an Ihren Basisvokabeln „Grenzüberschreitungen“, „Systempresse“, „Gewalt des Publikums“, „Schicksal der Skandalisierung“ und „Vertrauen“; gleichwohl diese natürlich kaum strikt zu trennen sind.
Ich teile diesen Brief zunächst auf meiner Homepage und gebe ihn zugleich der Redaktion der ZEIT zur Kenntnis; eine weitere digitale Distribution behalte ich mir vor.
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Grenzüberschreitungen und Verfehlungen sind für Sie „Medien- und Fälschungsaffären, die Boulevardisierung der Berichterstattung, der Negativismus der Nachrichten, der Einfluss von PR-Agenturen und Lobbyorganisationen“. Diese Aufzählung ist natürlich unvollständig: Recherchemängel, semantische Unsinnigkeiten, stilistische Schnitzer, publizistische Entgleisungen, ethische Fragwürdigkeiten, Text-Bild-Schwächen, ja Bildfehler, unvollständige Berichterstattung sowie orthographische, grammatische und grafische Peinlichkeiten sind mindestens zu ergänzen. Ich will diese Kategorien keiner Systematik unterziehen (obwohl sich mehrere anböten, etwa thematische und formale), sondern lediglich durch folgende wahllose Beispiele aus meinen Lehrveranstaltungen illustrieren.
So war Anfang Mai gefälschtes Filmmaterial in die ARD-„Tagesschau“ gelangt, um einen Hubschrauberabschuss bei Slowjansk in der Ostukraine zu bebildern. Die Sequenz aus einem Youtube-Video aus dem Jahre 2013 zeigte in Wirklichkeit einen Abschuss in Syrien. Nur wenige Tage später hat die ARD jenen „Tagesthemen“-Beitrag über den Ukraine-Konflikt zurückgezogen, für den sich Moderator Thomas Roth „on Air“ entschuldigte. Nichtsdestotrotz hat dann Anfang August der WDR im Internet den Ukraine-Konflikt mit einem alten Foto aus dem Kaukasus-Krieg 2008 bebildert und das alte Motiv auch noch ins Fernsehen gebracht.
Auch der ARD-Programmbeirat hatte festgestellt, dass Beiträge zum Ukraine-Konflikt „einseitig, lückenhaft und voreingenommen“ seien. Beiträge von Sendern übrigens, für die zu zahlen jeder gezwungen ist, einerlei, ob er sie bestellt hat und/oder nutzen will. Grafikfälschungen lassen sich ebenso nachweisen, bspw. im ZDF, wie die unverhältnismäßigen Balkenlängen der Diagramme zwischen 4 und 8,5 bzw. 9 sowie zwischen 1,4 und 4 zeigen.
Negativismus ist bspw. in der Psychiatrie eine sich vor allem in krankhaft-misstrauischer Verweigerungshaltung manifestierende Persönlichkeitsstörung, ein anthropologisches Konzept oder auch eine Perspektive des Kritischen Rationalismus (aus dieser heraus kann sie auch medienfunktional intendiert sein); also weit mehr als nur ein Nachrichtenwert (vgl. bspw. Rentsch 2000, Bohrer 2002, Lengauer 2007). Als solcher festmachen lässt er sich an Ereignismerkmalen wie Konflikt und Kontroverse, Schaden, Gewalt und Aggression, wie sie typisch sind für Kriege und politische Auseinandersetzungen, Krisen und Skandale, deviantes Verhalten und Kriminalität, Unfälle und Naturkatastrophen. Ob das evolutionär bedingt sei, diskutierte u.a. Bretschneider:
Wenn man in der Steinzeit auf die Jagd ging, war die Warnung „Achtung, Säbelzahntiger!“ wichtiger als die Meldung „Alles ist ruhig“.
Daraus folgt mindestens dreierlei. Zuerst: negative Nachrichten werden als glaubwürdiger und wichtiger wahrgenommen, da sie auch eine Indikatorfunktion für die Gesellschaft ausüben: sie können auf Krisen, Gefährdungen und Bedrohungen hinweisen und rechtzeitige Gegenmaßnahmen ermöglichen; sind also nicht per se von Übel.
An zwei: Negativismus bedient insofern das Bedürfnis nach Sensation, Erregung, Dramatik, hat also einen Stimulationswert, der das natürliche Unterhaltungs-/ Zerstreuungsbedürfnis des Menschen befriedigt. Solcherart Themen steigern damit den Behaltenswert.
An drei: bei einer – entsprechend unglaubwürdiger und langweiliger empfundenen – Positivmeldung wird sofort nach dem Urheber und seinen eventuellen Interessen gefragt, wie ebenfalls Bretschneider (ebd.) auf den Punkt bringt:
„Wenn die CDU mitteilt, dass es dem Land gut geht, werden SPD-Anhänger das erst einmal für wenig glaubwürdig halten. Anders herum gilt genau dasselbe.“
Das alles ist an sich (noch) kein Problem. Zum Problem wird die manipulatorisch intendierte Melange dieser drei Aspekte unter publizistischer Perspektive, die Winfried Schulz bereits 2001 treffend so charakterisierte:
„Negative Ereignisse lassen sich relativ leicht inszenieren und manipulieren, indem man Protest organisiert, Konflikte provoziert, gewaltsame Aktionen unternimmt. Und man kann auch Ereignisse, denen negative Elemente fehlen, durch geringe Zutaten so aufladen und „medialisieren“, dass sie die an Negativismus orientierte Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen. Schon ein polemischer Seitenhieb, eine Kritik am politischen Gegner, in ein Statement gegenüber der Presse eingeflochten, genügt, um dem Statement einen negativen Aspekt zu geben und seinen Nachrichtenwert zu erhöhen.“
Das erste Beispiel hierzu illustriert die „Leichtigkeit der Organisation“. Am 22. September 2006 hatte die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) eine Kundgebung vor dem Reichstag veranstaltet. Dabei hatten Männer Garderobenstangen getragen, an denen 4500 Arztkittel hingen, um die Abwanderung von jungen Ärzten ins Ausland anzuprangern. Inzwischen steht fest (vgl. hier, hier, hier, hier und hier), dass knapp 170 Teilnehmer Studenten und Arbeitslose waren, die bei Arbeitsvermittlern als Demonstranten gemietet wurden. Die Demo, die es damals in sämtliche Medien geschafft hatte, sucht man online heute fast vergebens.
Das zweite illustriert die „Leichtigkeit negativer Informationsgewichtung“. Unter der Schlagzeile „AfD-Spitzenkandidat Bernd Lucke in Dresden – Störer zu Boden gestoßen“ berichten die DNN am 10. Mai 2014 in 358 Worten vom Wahlkampfauftritt des AfD-Vorsitzenden. Der Leadsatz lautet: „Bei der Kundgebung der Alternative für Deutschland (AfD) mit Spitzenkandidat Bernd Lucke in Dresden haben Gegendemonstranten die Versammlung mit Lärm versucht zu stören.“ Zum Vergleich: als Angela Merkel in Grimma auftrat, lautete die inhaltsorientierte Schlagzeile der LVZ : „Bundeskanzlerin Merkel in Grimma: Keine Militäreinsätze im Irak“, der Leadsatz „Deutschland wird nach den Worten von Bundeskanzlerin Angela Merkel keine Soldaten zu Militäreinsätzen in den Irak schicken.“ Dass rund 50 friedliche AfD-Gegendemonstranten mit Bernd Lucke und Sachsens Landeschefin Frauke Petry vor Ort waren, blieb unerwähnt.
Zurück zur DNN: die ersten beiden von vier Absätzen befassen sich nur mit den 15 Randalierern sowie den Einzelheiten des „Störens“, wobei das Alter der Störer, die Zahl der eingesetzten Polizeibeamten etc. prominent erwähnt sind. Erst im 3. Absatz erfährt der Leser in gerade 105 überdies distanzierenden Worten über einige Inhalte (genauer: drei Themen) der knapp einstündigen Rede sowie der halbstündigen Fragerunde des Publikums, und erst am Ende dieses Absatzes erfährt er auch, dass „rund 350 Zuhörer“ anwesend waren. Der letzte Absatz widmet sich der Pressemitteilung der Dresdner Grünen-Sprecherin, in der sie – als eine der 15 Randaliererinnen! – mitteilt, „Strafanzeige wegen Körperverletzung“ gestellt zu haben.
Um es nochmals ganz deutlich zu machen: 105 Worte über die Inhalte eines anderthalbstündigen Wahlkampfauftritts des Bundeschefs einer neuen Partei vor 350 Zuhörern, 253 dagegen über 15 Störer dieses Auftritts. Unter diesen 253 Worten finden sich u.a. folgende Verben (die in der Grundschule als „Tu-Wörter“ gelernt werden), die Tätigkeiten/Aktivitäten ausdrücken, mit denen also das „Tun“ der AfD in Verbindung gebracht wird: stören, angehen, stoßen, abdrängen, unterbrechen, eingreifen, trennen, protestieren, entreißen, wegwerfen, verletzen, beleidigen, ermitteln.
Das dritte, aktuellste illustriert die „Leichtigkeit negativer Dämonisierung“. Der Bericht über die „PEGIDA“-Demonstration (Patriotische Europäer gegen Islamisierung des Abendlandes) der „Morgenpost“ sollte laut Titel folgende Fragen beantworten: „Was wollen die? Wer sind die? Droht Gefahr?“ Dass von einer Demonstration ein Gefahrenpotential herzuleiten sei, mag bei entsprechenden Teilnehmerzahlen noch angehen – auch wenn die DNN bezeichnenderweise das Gegenteil texten: „Erneute Pegida-Demo in Dresden: die 0,2 Prozent-Bewegung“ (gemeint sind 0,2 % der Dresdner Bevölkerung – dass da auch Nicht-Dresdner dabei sein könnten, wurde offenbar gar nicht bedacht). Was aber mit „Gefahr“ gemeint war, wurde dann rasch klar mit Antworten auf Fragen wie „Was ist mit den Vorwürfen, die Gruppe sei „Rechts“?“ oder gar „Was sagt der Verfassungsschutz?“ Schon allein diese Frage aufzuwerfen unterstellt Verbotenes, Gefahr, Gesetzlosigkeit.
So lautet die Antwort auf die erste Frage, in die ein Zitat des Initiators einfloss:
„Auf den Demos wurden auch gewaltbereite Fußballfans und rechte Extremisten gesichtet, die ähnliches Gedankengut wie am 13. Februar verbreiten. „Wir distanzieren uns von allen radikalen Gruppierungen“, so Bachmann. Sie seien aber offen für alle. Jeder könne sich friedlich beteiligen.“
Ein Beleg der Behauptung, um welche gewaltbereiten Fans oder rechte Extremisten es sich denn handele, wurde weder im Bild noch im Text erbracht. Das Verfassungsschutz-Zitat lautet „Die Organisation ist bislang nicht extremistisch in Erscheinung getreten“, so Sprecher Falk Kämpf“. Die Polizei muss so zitiert werden: „Polizeisprecher Thomas Geithner: „Insgesamt blieb es friedlich. Keine Zwischenfälle!“ Fazit: damit hat sich die Gefahr in das aufgelöst, was die Berichterstattung über sie nicht hervorruft: Wohlgefallen.
Boulevardisierungstendenzen (für Jarchow 2008 gar „Schweinejournalismus“) sind inzwischen gut untersucht (u.a. Hoffmann 2000, Dulinski 2003, Schütz 2003, Hülk/Schuhen 2012, Pfetsch/Greyer/Trebbe 2013, Vögele 2013), wir sehen am Beispiel der BILD-Berichterstattung zum Ottawa-Attentat sowie zum Island-Vulkanausbruch, wie die journalistischen Techniken Personalisierung, Emotionalisierung sowie Visualisierung exemplarisch genutzt und dabei die primären Funktionen Sensationismus und Negativismus umgesetzt werden können, ohne dass wesentliche Erkenntnisgewinne zu erzielen sind. Ähnliches trifft auf die konsonante Berichterstattung der Dresdner Tageszeitungen über die Pannen beim Aufstellen der Weihnachtsfichte 2014 zu (gestalterische und sprachliche Elemente wie inflationär genutzte Wortspiele spare ich aus).
Auch der Einfluss von PR-Agenturen und Lobbyorganisationen kann nicht zuletzt durch die Archive der Presserats-Entscheidungen sowie der Sendungen des TV-Formats „Zapp“ (NDR) als gut dokumentiert gelten (wenn auch mit Ausnahme des Radios nicht unbedingt wissenschaftlich befriedigend aufbereitet, vgl. Volpers 2007):
„Pharmakonzerne produzieren Filmbeiträge, die im Fernsehen laufen. Automobilkonzerne verstecken ihre Werbung in redaktionellen Beiträgen. Tatort-Kommissare werben für Hustenbonbons. Arbeitgeberverbände platzieren ihre Botschafter in Talkshows.“
Ich erinnere an den von Volker Lilienthal nach langen juristischen Händeln aufgedeckten „Marienhof“-Skandal, in den u.a. ein Reisebüro verwickelt war; den dank LobbyControl zutage beförderten DB-Skandal (u.a. BILD, SPON u.a.) oder die ominösen Geschäfte mit Schleichwerbung, die Sebastian Heiser enthüllte. Unberücksichtigt bleibt noch das „Polit-“ oder „Propaganda-Placement“ einzelner politischer Organisationen, bspw. Ursula von der Leyens Elterngeldkampagne im Privatradio oder öffentlich-rechtliche TV-Kooperationen bspw. mit der Bundesanstalt für Arbeit. Es ist leider unbestreitbarer Fakt, dass potente Lobbygruppen immer mehr in Richtung PR aufrüsten, während in den Medien überall Redaktionen verkleinert werden: hier ist eine neue Konvergenztheorie zur Konstruktion von Medienöffentlichkeit nötig. Wolfgang Michal prophezeite:
Der Journalist der Zukunft wird so im weitesten Sinne dem Öffentlichen Dienst angehören und als Vermittler von Informationen um größtmögliche Neutralität, Ausgewogenheit und Distanz bemüht sein. Oder er wird im Sinne der ihn beauftragenden ‚Gemeinde’ ganz bestimmte Ziele verfolgen und eine neue Form des Partei- und PR-Journalismus etablieren.
Recherchemängel: gut und ausführlich dokumentiert ist der Hoax „Bund Deutscher Juristen fordert Aussagen unter ‘leichter Folter’“. An den 11. Vornamen des Plagiatsfreiherrn können Sie sich sicher auch noch erinnern. Ein aktuelles und sicher extremes Beispiel aus der „Tagesschau“ kommentierte Hans Heckel jetzt in der PAZ:
„Die Sendung hatte behauptet, in der Ostukraine würden „OSZE-Beobachter“ von „prorussischen Separatisten“ festgehalten, was ein Skandal gewesen wäre. Allerdings handelte es sich bei den Leuten gar nicht um OSZE-Beobachter, sondern um eine undurchsichtige Gruppe westlicher Militärs, denen die Ostukrainer wohl mit einer gewissen Berechtigung skeptisch gegenüberstanden. Bis auf die PAZ und einige wenige andere Medien wollte den Deutschen diese Faktum aber kaum jemand verraten, auch die „Tagesschau“ nicht. Die Behauptung, Putins Spießgesellen hielten unschuldige Vertreter der „europäischen Staatengemeinschaft“ fest, passte einfach besser ins gewünschte Gesamtbild. Gniffke rechtfertigte die „Tagesschau“- Enten später damit, dass „OSZE-Beobachter“ doch im Einklang mit der Wortwahl „von Nachrichtenagenturen und Qualitätszeitungen“ gestanden habe. Die „FAZ“ nannte das jetzt „eine der traurigst möglichen Rechtfertigungen“. Gniffke hat zugegeben, dass man einfach woanders abgeschrieben hatte.
Semantische Unsinnigkeiten liefern bspw. die „Nordwest Zeitung“ mit einem unsensiblen Tweet, die „Rhein-Zeitung“ mit undurchdachter Blattstruktur („journalistische Komposition“, vgl. Vicari 2014) oder die „Landeszeitung Lüneburg“ mit gelinde geschrieben misslungenem Annoncenmanagement.
Als stilistische Schnitzer mögen dieser Schüleraufsatz der „Rheinischen Post Online“ (die „Erwachsenenversion“ gibts hier) sowie zwei Texte der „Sächsischen Zeitung“ herhalten (sie „Bericht“, „Bildunterschrift“ oder „Sportreportage“ zu nennen verbietet sich); die Festplatte meines Hochschul-Laptops ist gefüllt mit solcherart Sottisen.
Bei den publizistischen Entgleisungen verweise ich auf die Begründung der Petition „Raus mit Markus Lanz aus meinem Rundfunkbeitrag!“ (nach seiner Sendung mit Sahra Wagenknecht), die binnen weniger Tage über 200 000 (!) Unterschriften erhielt: „Ein Moderator, der nicht fähig ist, ohne Entgleisungen zu moderieren, den Offenheit und der Umgang mit abweichenden Meinungen offenbar überfordern, der Fragen stellt und die Antworten nicht hören will und der seine eigene Meinung stets über die seiner Gäste stellt, sollte nicht vom Beitragszahler alimentiert werden.“ Georg Dietz schrieb im SPIEGEL unter der Überschrift „Der Pesthauch des Konformismus“, die wir uns mal merken, von der
„Wut auf einen Sender und auf ein System, das einen wesentlichen Teil seiner Zuschauer seit Jahren mit Verachtung straft und diese Verachtung nun in Form einer zornigen Online-Petition zurück bekommt.“
Eine Entgleisung ist ebenfalls die Äußerung von ZEIT-Herausgeber Josef Joffe, der meinte, eine Online-Petition gegen einen öffentlich-rechtlichen Moderator sei das heutige Pendant zum „Kauft nicht beim Juden!“ der Nationalsozialisten in den dreißiger Jahren.
Und zu diesen Entgleisungen gehören erst recht die aktuellen Ausfälle vieler Medien gegen GdL-Chef Claus Weselsky. So befragt die Dresdner MoPo unter der Überschrift „Er ist ein Diktator“ die Exfrau von Weselsky, um seine angebliche Charakterveränderung durch Geld und Macht darzustellen. „Unterster ekelhaftester Gossenjournalismus“ war noch einer der netteren Kommentare. Und die Aufforderung, dem „Bahnsinnigen“ unter Angabe seiner Privatnummer oder der Abbildung seines Wohnhauses in teilweise beleidigenden Worten die „Meinung zu geigen“, verletzt die Privatsphäre des Gewerkschafters, der prompt die Polizei einschaltete.
Bei den ethischen Fragwürdigkeiten denke ich vor allem an die gut dotierten Nebenjobs von Claus Kleber, Petra Gerster, Michael Antwerpes etc. Ich denke jedoch auch an die vielen Ranking-Schummeleien, beginnend beim ZDF mit „Deutschlands Beste“ (aber auch WDR, HR, RBB…). Und ich denke natürlich an die vielen Scripted-Reality-Formate (Fake-Dokus: „Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden“) sowie ihre manchmal teilidentischen „produzierten Proleten“, die mit der „Sachsen-WG“ der BILD auch Einzug ins gedruckte Medium hielten.
Alexander Kisslers verbale Vernichtung dieser Formate darf hier nicht fehlen (Hervorhebung von mir):
„Menschen ohne schauspielerisches Talent, aber mit Geltungsdrang und Geldsorgen sagen in erfundenen Szenen geflunkerte Sätze auf. Das Derbe soll das Echte verbürgen… Die Aushöhlung von Wahrhaftigkeit wird nicht folgenlos bleiben. Wer sich um die Demokratie sorgt, muss die Realität vor dem Fernsehen schützen.“
Text-Bild-Schwächen – da gibt es drei: die Text-Bild-Schere, die den Inhalt konterkariert (Bild zeigt A, Text sagt B oder M oder R…),die Text-Bild-Kollision, die den Inhalt reziprokisiert, Anfang und Ende, Ursache und Wirkung etc. verwechselt (Bild zeigt A, Text sagt Z oder umgekehrt) sowie die Text-Bild-Verklebung, die den Inhalt nur illustriert / beschreibt im Sinne einer Dopplung, Wiederholung, Redundanz (Bild zeigt A, Text sagt AAA). Ein Krokodil abzubilden, wo laut Text eigentlich das Opossum „Heidi“ hin gehört, zieht den Inhalt ebenso ins – hoffentlich unbeabsichtigt? – Lächerliche wie die Darstellung eines noch oder schon wieder verlassenen Schlagzeugs vor bzw. nach einem Konzert. Und dass der SPIEGEL inzwischen meint, seinen Lesern erklären zu müssen, dass sich Oliver Bierhoff auf dem Schnappschuss gerade sein Jackett überzieht, lässt ebenso Rückschlüsse auf das Rezipientenbild der Redaktion zu wie auch auf deren eigenes publizistisches Niveau.
Bildfehler häufen sich in allen Medien. Als das MDR-Regionalmagazin „Sachsenspiegel“ einen Beitrag zu Zwickau mit Sequenzen von Meißen bebildert, fühlte sich der Chef des FSV Zwickau, Gerhard Neef, zur der Aussage herausgefordert, man müsse als Fußballfan „Angst kriegen, dass der MDR ein Spiel des FSV ankündigt und Dynamo zeigt.“ Wenn die „Leipziger Volkszeitung“ einen nackten Mann mit dem Symbolbild einer Nacktschnecke visualisiert, ist das schwer in passende Worte zu kleiden. Wenn ARD und ZDF an ein und demselben Abend dieselbe Bewegtbild-Sequenz nutzen, um sowohl den „Kampf um Homs/Syrien“ als auch „Taliban-Anschläge in Kabul/Afghanistan“ zu thematisieren, ist das kein Armutszeugnis mehr, sondern ein Systemfehler.
Unvollständige Berichterstattung: hier geht es vor allem um die Faktenauswahl, die dem Medienrezipienten gewährt, manchmal auch zugemutet werden muss, damit er sich ein möglichst umfassendes Bild von den berichteten Ereignissen, Geschichten und Situationen machen kann. Wer einerseits Wichtiges resp. Unpassendes verschweigt und damit unterschlägt, andererseits Unwichtiges, Abseitiges, aber Passendes priorisiert, handelt persuasiv, manipulativ; denn:
„Jede Absicht, durch Vorenthalten von Informationen Gutes bewirken oder Böses bekämpfen zu wollen, kann zum Vehikel von Ideologien werden, die einem freien öffentlichen Diskurs nicht standhalten würden.“ (Horst Pöttker)
Das journalistische Credo dazu stammt von Hajo Friedrichs; bis heute werden Journalisten tatsächlich dafür geehrt, dass sie diesem Credo in ihrer Karriere – nach Ansicht einer Jury – mustergültig folgten:
„Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache; dass er überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört.“
Das umfassende theoretische Modell dazu hat Kepplinger in Form seiner „Instrumentellen Aktualisierung“ vorgelegt (vgl. 1989:199 ff.). Ein gravierender Fall war im August der „Offene Brief an CDU-Abgeordnete“ von Ex-Thyssen-Vorstandschef Dieter Spethmann anlässlich des Ukraine-Konflikts, den die FAZ verschwieg. Tage später blies auch „BILD“ Sachsen in das Ukraine-Horn. Die Aussage „Bis zu 10 Prozent der sächsischen Ernte landete in Russland. Doch im Sommer verhängte Putin wegen des Ukraine-Konfliktes einen Einfuhrstopp!“ in einem Bericht darüber, dass die sächsischen Obstbauern auf ihren Äpfeln sitzen bleiben, ist faktisch nicht falsch. Es fehlt aber der entscheidende Verständnishinweis, dass Putin die Sanktionen gegen die EU erst nach denen der EU gegen Russland verhängte!
Schon Anfang September allerdings hatten der SPIEGEL, die Tagesschau, der Tagesspiegel, N 24, die FAZ und viele andere (nicht nur Leit-) Medien mit der Aktion „Äpfel gegen Putin“ bereits vorgeschrieben. Der Verdacht liegt nahe, dass Konrad Adams Verdikt den Sachverhalt punktgenau wiedergibt:
„Parteilichkeit wird längst nicht mehr als Vorwurf betrachtet. Im Gegenteil sind viele Journalisten stolz darauf, Partei zu sein; sie nennen es nur anders, … sprechen statt von Parteilichkeit vom Einsatz für die gute Sache. Fragt man sie, was an der guten Sache denn so gut sei, woran man sie erkennt und wer das definiert, erfährt man nicht viel mehr als das, was in der Zeitung steht. Damit schließt sich der Kreis: Der Journalist wird zum Parteiarbeiter und lebt von der Wiederholung dessen, was er selbst in die Welt gesetzt hat.“
Als drittes wahlloses, aber mir wichtiges Beispiel sei der Dortmunder Emeritus Horst Pöttker erwähnt, der vor ziemlich genau einem Jahr – interessanterweise in der ZEIT ebenso wie Sie – forderte, den Pressekodex zu ändern: Journalisten sollten die Herkunft von Straftätern erwähnen dürfen, selbst wenn die Erwähnung „Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte“ (herangetastet an das Thema hatte er sich bereits in der „Publizistik“, Heft 3, September 2002, 47. Jahrgang, S. 265 ff. „Wann dürfen Journalisten Türken Türken nennen?“). Der Schluss ist naheliegend: erfülle eine Mitteilung die im Diskriminierungsverbot formulierten Kriterien, soll sie auch dann unveröffentlicht bleiben, wenn sie stimmt. Pöttker begründete seine Forderung vor allem damit, dass „das starre Formulierungsverbot Journalisten vom Nachdenken über mögliche Problemursachen, die mit der Gruppenzugehörigkeit eines Täters zu tun haben könnten“, entlaste. Und weiter:
„Wer möchte, dass Journalisten verantwortlich handeln, sollte ihnen die Freiheit zu eigenem Abwägen zugestehen, denn sonst können sie Verantwortung weder empfinden noch wahrnehmen. Hinzu kommt, dass die Richtlinie das Publikum für dümmer hält, als es ist…“
Ein Nachdenken, das nicht nur ich gerade angesichts aktueller Kriminalitätsstatistiken für dringend geboten halte: selbst Deniz Yücel monierte in der „taz“, das Verschweigen von Migrantengewalt bei der Berichterstattung habe sich
„zu einem Verschleierungsinstrument verselbstständigt; zu einer Ansammlung von ,Du-darfst-nicht‘-Sätzen, die die Glaubwürdigkeit von Medien erschüttern, aber jede Erkenntnis verhindern. Antirassismus auf Knigge-Niveau.“
Allein im „taz“-Sitz Berlin hat 2012 die Polizei 1.049 Rohheits-Delikte registriert. 32 Prozent der Tatverdächtigen waren ausländische Staatsbürger (ohne Illegale), weitere 41,5 Prozent deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund. Macht zusammen 73,5 Prozent – bei einem Anteil von 43,1 Prozent an allen jugendlichen Einwohnern.
Und allein im Berliner Bezirk Neukölln haben laut SPD-Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky von 200 Intensivtätern 90 Prozent einen Migrationshintergrund. Die jungen arabischstämmigen Männer würden die größten Probleme bereiten: „Sie machen neun Prozent der Bevölkerung aus, aber jeder zweite Intensivtäter trägt einen arabischen Namen“, lässt er sich im „Focus“ zitieren.
Auf Pöttkers Betrachtung folgten nur wenige Aufregungen, u.a. von Stefan Niggemeier („Der falsche Kampf gegen die vermeintliche Selbstzensur“) und Canan Topcu („Lieber politisch korrekt als politisch falsch“), dafür aber Diskussionen en masse: nach dem 569. Kommentar auf Topcu kapitulierte die ZEIT-Redaktion und schloss die Kommentarfunktion. Das lässt nicht nur auf ein Diskursbedürfnis, sondern vor allem darauf schließen, dass diese Forderung aus bestimmten Gründen einen bestimmten Nerv eines bestimmten Publikums getroffen hat, das sich von der kodexkonformen Berichterstattung offenbar für dumm verkauft sah. Das hat nichts mit dem Bedienen von Vorurteilen zu tun, sondern dem Einordnen von Einzelheiten in die individuellen Denksysteme mündiger Bürger.
Orthographische, grammatische und grafische Peinlichkeiten erkläre ich in meinen Vorlesungen seit Jahren zu Grundübeln des modernen deutschen Journalismus – die wenigen Beispiele mögen genügen; ich verweise erneut auf meine wohlgefüllte Festplatte. Hinzu kommen Online-Patzer, hier häufen sich Verlinkungen oft nach Art von „IntelliTXT„, die jedem ethisch empfindenden Menschen die Haare zu Berge stehen lassen: in der Meldung, dass zu Ermittlungszwecken einer Baby-Auktion bei ebay die Computer beschlagnahmt wurden, beim Schlagwort „Computer“ auf einen PC-Onlineshop zu verlinken, ist mehr als skandalös.
Technische Patzer im Fernsehen müssen in diesem Zusammenhang ebenfalls genannt werden: was allein in öffentlich-rechtlichen Morgenmagazinen an falschen Inserts, falschen Tonspuren, falschen Grafiken, falschen Kameraschalten und Regiefehlern in einer Woche zu erleben ist, stellt die Leidensfähigkeit derer, die von Berufs wegen Sendungen verfolgen, die sie vor anderthalb Jahrzehnten selbst ähnlich produzierten, auf eine harte Probe. Ob diese Fehler Schludrigkeit, Überforderung oder schlichter Unkenntnis bspw. wegen Ausbildungsdefiziten geschuldet sind, soll und muss hier nicht diskutiert werden.
Erstes Zwischenfazit: in unseren Medien, dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen zumal, häufen sich gattungsübergreifend bestimmte Auffälligkeiten, die Anlass zu ernster Sorge geben, ob diese Medien die ihnen innewohnenden Aufgaben noch wahrnehmen (wollen), wie sie das tun und welche Publikumsperspektive diesem Tun oder Lassen zugrunde liegt. Auffälligkeiten, für die ich (noch) keine statistische Repräsentativität beanspruchen kann, wohl aber Evidenz – das muss uns gleich nochmal interessieren. Dass Sie, Herr Pörksen, die Chuzpe haben, von „all den angeblichen oder tatsächlichen Grenzüberschreitungen und Verfehlungen“ zu schreiben und beide Modi ebenso unkommentiert wie undifferenziert in einer Wanne zu baden, fällt da ebenso auf wie sie zum leicht versnobten Tenor Ihres Textes passt.
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Um den – mit Vorliebe von der NPD genutzten – Begriff der Systempresse als dem systemkonformen Teil der Meinungswirtschaft zu diskutieren, muss man zunächst Einigkeit über den Systembegriff erzielen. Ich verstehe Sie so, dass Sie im Rekurs auf Luhmann das Gesellschaftssystem meinen, das als wichtigste Subsysteme Wirtschaft, Politik, Religion, Recht, Wissenschaft und Medien beinhaltet. Als binäre Codes von Politik und Medien werden gemeinhin „Macht/keine Macht“ bzw. „Information/Nichtinformation“ angesehen. Unter Systempresse müssten dann alle (reichweitenstarken und/oder Leit-) Medien subsummiert werden (zuletzt u.a. Müller/Ligensa/Gendolla 2009, Krüger 2013), die ebenso machtkonform wie -stabilisierend über Art, Auswahl, Umfang, Anordnung und Gestaltung von Information und deren mehr oder weniger öffentliche Distribution entscheiden: ein Prozess, den wir als Agenda Setting kennen (u.a. Bonfadelli 2004, Eichhorn 2005). Sein Kerngedanke ist, dass Massenmedien auch beeinflussen, was der Rezipient denken soll, aber eher bestimmen, worüber er nachzudenken habe, d.h. die „Bilder im Kopf“ in Form einer „Tagesordnungs“- oder auch „Aufdringlichkeits-“Funktion verantworten.
Nun liegt auf der Hand, dass moderne, arbeitsteilige Gesellschaften, um Probleme verarbeiten und sich selbst regulieren zu können, die Öffentlichkeit brauchen als
„Sphäre ungehinderter, unbeschränkter Kommunikation, die darauf zielt, die mit der hochgradigen funktionalen Differenzierung und sozialen Parzellierung verbundene Borniertheit des Erfahrungs-, Wissens- und Interessenshorizonts ihrer Subjekte aufzuheben, indem sie die voneinander getrennten Erfahrungen, Erkenntnisse und Interessen allgemein bekannt macht und zueinander vermittelt.“ (Pöttker 2002:170, Hervorhebung von mir)
Man kann über Pöttkers heimeligen Borniertheitsbegriff streiten (und ihn manchmal durch „Arroganz der Macht“ substituieren), nicht streiten kann man darüber, dass eine Systempresse an ungehinderter, unbeschränkter Kommunikation nicht interessiert sein kann, da diese das Machtmonopol in Frage stellt. Daraus folgen ambivalente Zusammenhänge für verschiedene publizistische Strukturen.
Für das ideale journalistische Ethos etwa ergibt sich aus dem zentralen Standard „Wahrheit“ beispielsweise die „Pflicht zur grundsätzlichen Distanz von der Herrschaftselite einschließlich der politischen Opposition, deren Auseinandersetzungen nicht Wahrheit, sondern Macht zum Gegenstand haben.“ (ebd.) Dabei setzt sich Wahrheit aus einer Reihe von Einzelqualitäten wie Richtigkeit, Vollständigkeit oder Wahrhaftigkeit zusammen (ebd.).
Aber bereits die Wahrhaftigkeit scheint ein mindestens dehnbarer Begriff zu sein. Unter der Schlagzeile „Nationalstolz U21: ‚Was soll die Schlaaand-Euphorie?‘“ publizierte SPON eine Umfrage mit folgendem Teaser „Sie fieberten mit, feuerten an und freuten sich, als die DFB-Elf in Brasilien Weltmeister wurde. Aber sind sie jetzt stolz, Deutsche zu sein? Zehn junge Fans U21 erzählen von ihren Schland-Gefühlen.“ Mag sein, dass es die negative Konsonanz zum Zusammenhang „Sportstolz – Nationalstolz“ war, die in mir zuerst Unbehagen und dann Misstrauen weckte: nach einer Blitzrecherche entpuppten sich sechs der zehn jugendlichen Erzähler als (Ex-)Schülerzeitungsredakteure, die vom „Spiegel“ in den letzten Jahren beim verlagseigenen Schülerzeitungspreis ausgezeichnet wurden, eine weitere wird als Freie der Ostthüringer Zeitung geführt. Da bleibt bei sieben von zehn Stimmen doch ein G’schmäckle.
Wahrheit aber – oder was dafür gehalten wird – scheint zum einen zunehmend unerwünscht, da unverkäuflich. Ergo spricht DJV-Chef Michael Konken von der Schere im Kopf der Journalisten, die sich darin ausdrückt, die Beiträge so zu schreiben, dass „kein Schaden“ entsteht. Es entsteht so aber ein weichgespülter Journalismus, der die Potenzen der Pressefreiheit brach liegen lässt:
Die alten Verleger hätten ihre Redakteure geschützt, heutzutage jedoch stehen kalt kalkulierende Geschäftsführer an der Spitze vieler deutscher Zeitungsverlage, denen das Betriebsergebnis wichtiger ist als das journalistische Produkt.
Zum anderen muss Wahrheit zunehmend als interessensgeprägt gelten:
„Da der Arm der politischen Klasse lang ist und weit reicht, kann diese bei ihrem – bewussten oder unbewussten – Bestreben, an den Vorstellungen festzuhalten, die das System (und damit die politische Klasse selbst) legitimieren, normalerweise auf überwältigende Unterstützung rechnen. Die politische Klasse wird getragen von einem vieltausendstimmigen Chor derer, die ihr durch die schon erfolgte oder noch erhoffte Vergabe von Ämtern und Würden verpflichtet sind. Sie suchen die Lücke zwischen Norm und Wirklichkeit nicht etwa durch Verbesserungen der Wirklichkeit zu schließen, sondern dadurch, dass sie die Norm lax interpretieren oder die Wirklichkeit vernebeln.“ (von Arnim 2001).
Wie Journalisten in diesem Chor mitsingen, beweisen nicht zuletzt diverse personelle Rochaden, bspw. die von Ulrich Wilhelm, der 2011 Intendant des Bayerischen Rundfunks wurde, nachdem er zwischen 2005 und 2010 Chef des Bundespresseamts und Regierungssprecher der Bundesregierung für das Kabinett Merkel I und Merkel II war; natürlich auch die von ZDF-Nachrichtenmann Steffen Seibert, der Wilhelms Nachfolger als Regierungssprecher wurde; und erst recht die Ablösung des Chefredakteurs der „Wirtschaftswoche“, Roland Tichy, durch die im politischen System aufgestiegene Miriam Meckel, die u.a. Staatssekretärin für Medien und Regierungssprecherin in Nordrhein-Westfalen unter SPD-Ministerpräsident Wolfgang Clement und zuletzt Professorin war. Ein Journalist mit volkswirtschaftlichem Hintergrund, ein unbequemer Mahner der herrschenden Politik, ausgewechselt durch eine stromlienienförmige Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin.
Welche publizistischen Blüten manche Stimme dieses Chores treiben kann, zeigt die „Neue Osnabrücker Zeitung“.
Ob dieser Chor auch darum ab und an schief singt, weil die SPD mit Medienbeteiligungen an über 70 Zeitungen die öffentliche Meinung für eigene Zwecke zu beeinflussen sucht, sei dahingestellt. Wie groß und wirkmächtig aber dieser Chor tatsächlich ist, wurde spätestens am 8. Oktober 2008 klar, als die Bundeskanzlerin die bedeutenden Chefredakteure der (Leit-)Medien eingeladen hatte – zur Zeit des Ausbruchs der großen Finanzkrise:
„Man findet keinen ausführlichen Bericht über dieses Treffen, der veröffentlicht worden wäre und überhaupt nur wenige Erwähnungen in den Archiven, nur hin und wieder einen Nebensatz, eine knappe Bemerkung. An einer Stelle liest man in dürren Worten, worum es an diesem Abend im Kanzleramt ging: Merkel bat die Journalisten, zurückhaltend über die Krise zu berichten und keine Panik zu schüren.”
Berliner Journalisten berichteten erst am 02.02.2009 (!) über dieses Geheimtreffen, das mich schwer an eine Inkarnation Honecker’schen Gebarens erinnert. Augstein weiter (Hervorhebung von mir):
„Sie haben sich daran gehalten, die Chefredakteure. Noch im Februar 2009, vier Monate später, wunderte sich die taz über die Medien: “Sie halten die Bürger bei Laune, auf dass diese stillhalten. Wie viel Geld bereits in die Banken gepumpt wurde, wie viele Milliarden Bürgschaftszusagen vergeben wurden (und wie viele Hartz-IV-Monats„löhne“ das sind), das steht auch nicht in der Zeitung.” (ebd.)
Sein Kommentar anlässlich eines weiteren Merkel-Termins lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:
„Merkel hat zu den Journalisten geredet, als seien sie Mitarbeiter einer Abteilung im Kanzleramt. Und wenn man es sich recht überlegt, kommt man zu dem Schluss: Ja, so sehen sich mehr und mehr Journalisten auch selbst. Und wenn das so weitergeht, dann braucht man in der Tat keine Journalisten mehr…“ (ebd.)
Wer je nach Lebenssituation Gefahr läuft, zu verwahrlosen und unterschiedliche Formen der Hilfe zu benötigen, kann in Formen des betreuten Wohnens unterstützt werden: alte, psychisch kranke bzw. seelisch, geistig und/oder körperlich behinderte Menschen, Obdachlose oder Jugendliche, die dann durch Sozialarbeiter bzw. Psychologen, Erzieher, Therapeuten oder Pflegekräfte (Sozialbeistand) betreut werden. Was ich – und viele andere mit mir – in unserer aktuellen Medienberichterstattung wahrnehmen, ist die Pervertierung dieses Prinzips. Es heißt „Betreutes Denken“.
Wir werden von Politik und Medien behandelt wie kranke, behinderte, entmündigte Menschen, denen die vorgeblich Gesunden beistehen und ihre Agenda aufoktroyieren wollen… und sich dann irritiert bis wütend wundern, dass viele dieses penetrierende Setting nicht mehr klaglos hinnehmen. Demokratie ist auch das Recht, Macht anzuzweifeln.
Drittletzter Coup der (inzwischen neuen) Merkel-Regierung: Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) bestätigte Ende Juni, dass die Zeitungsbranche als teilweisen Ausgleich für die Mehrkosten durch den gesetzlichen Mindestlohn ab 2015 einen Rabatt bei den Sozialbeiträgen für Zeitungsboten bekommen soll. Gegenwert: 225 Mio. Euro. „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ lautet das geläufige Sprichwort dazu. Vorletzter Coup: Das Geschacher der Länder um die Verteilung der Plätze im Fernsehrat des ZDF führt dazu, dass die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Staatsferne nicht umgesetzt werden. Und der letzte Coup passt auch ins Bild: Die Deutsche Welle, der im Kulturministerium angesiedelte Auslandssender, soll die Zusammenarbeit mit ARD, ZDF und Deutschlandradio noch weiter ausbauen und erhält zehn Millionen Euro mehr im Jahr. Erst vor wenigen Tagen hatte Intendant Peter Limbourg erklärt, der Propaganda des russischen Präsidenten Wladimir Putin künftig stärker Paroli zu bieten.
Inzwischen ist die staatliche Alimentierung dessen, was staatlicherseits „Journalismus“ genannt wird, auch auf Länderebene angekommen. Im sächsischen Koalitionsvertrag zwischen SPD und CDU lesen wir nicht nur, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk einen „unverzichtbaren Beitrag zum publizistischen Wettbewerb“ und „zu einer inhaltlichen Vielfalt“ leiste, wie sie „allein über den freien Markt nicht gewährleistet werden kann“. Nein, darin findet sich tatsächlich der Satz:
„Gemeinsam mit der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien trägt der Freistaat durch finanzielle Förderung und Unterstützung zum Erhalt des Lokalfernsehens bei.“
Damit wird Berichterstattung erkauft, das ist Medienkonvergenz in Reinkultur. Ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk muss dadurch überflüssig werden, andernfalls würde der Bürger doppelt bezahlen. Er würde zum einen per Zwangsabgabe direkt diese Sender alimentieren – und die Sächsische Landesmedienanstalt über die zugewiesenen zwei Prozent der Zwangsabgabe sowie indirekt eben die Staatsregierung über die Steuern der Bürger auch noch die (kleinen) privaten Sender, von weiteren öffentlich-rechtlichen Geschenken gar nicht zu reden. Unter anderem Klaus Meier hatte solch ein alternativ-meritorisches Modell bereits 2012 ins Spiel gebracht, als er erklärte:
„…dass Journalismus nicht zu 100 Prozent marktfähig ist, sondern dass wir über Stiftungsmodelle, vielleicht auch über staatliche Beteiligungen nachdenken müssen.“
Zum weiteren stellen Geheimnis, Fremdheit oder Andersheit Hindernisse für eine grenzenlose Kommunikation dar, wie Byung-Chul Han erkannte:
„So werden sie im Namen der Transparenz abgebaut. Vom Dispositiv der Transparenz geht ein Konformismuszwang aus. Zur Logik der Transparenz gehört es, dass sie ein weitgehendes Einvernehmen erwirkt. Eine totale Konformität ist die Folge.“
Zudeick erweiterte in einer Rezension Ihren Begriff der Gleichschaltung, der Konformität ja beinhaltet, etwas unfein zu „freiwilliger Selbstgleichschaltung“. Die hat bspw. Gabor Steingart mittels eines Schlagzeilenvergleichs einiger Leitmedien zum Ukraine-Konflikt im Handelsblatt prägnant auf den Punkt gebracht (Hervorhebung von mir):
„Der „Tagesspiegel“: „Genug gesprochen!“ Die „FAZ“: „Stärke zeigen“. Die „Süddeutsche Zeitung“: „Jetzt oder nie“. Der „Spiegel“ ruft zum „Ende der Feigheit“ auf: „Putins Gespinst aus Lügen, Propaganda und Täuschung ist aufgeflogen. Die Trümmer von MH 17 sind auch die Trümmer der Diplomatie.“ Westliche Politik und deutsche Medien sind eins.
Auch Willi Wimmer hat sich vor wenigen Wochen so zitieren lassen:
Als ich 1985 Verteidigungspolitischer Sprecher wurde, hat mich ein leitender Mitarbeiter der Pressestelle der CDU/CSU ausdrücklich gewarnt vor einem Netzwerk der NATO in der deutschen Presse. Wenn es heute irgend etwas zu kommentieren gibt im Zusammenhang mit Entwicklungen innerhalb der Russischen Föderation, werden dafür in unseren Medien immer amerikanische Institutionen mit Sitz in Moskau herangezogen. Sie hören keine Stimme aus Moskau, die russisch ist.
Dass diese Behauptungen nicht weit hergeholt sind, bewies ausgerechnet eine Satiresendung ausgerechnet eines öffentlich-rechtlichen Senders: die Zeit-Journalisten Josef Joffe und Jochen Bittner erwirkten eine Einstweilige Verfügung gegen einen Beitrag der ZDF-Sendung „Die Anstalt“. Darin hatten die Kabarettisten Max Uthoff und Claus von Wagner Verbindungen deutscher (Leitmedien-) Journalisten zu transatlantischen Lobbyverbänden kritisiert. Auch Kleinert hatte jüngst unter Verweis auf Krüger 2013 und Ulfkotte 2014 bestätigt, dass der als CIA-nah geltenden „Atlantik-Brücke“, gegründet als „Gesellschaft ehemaliger Besatzungsfunktionäre im Nachkriegsdeutschland“, zahlreiche Spitzenjournalisten angehören:
„…unter anderem die künftige Leiterin des Berliner ARD-Studios, Tina Hassel, der Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, Kai Diekmann, Claus Kleber (ZDF), Stefan Kornelius („Süddeutsche Zeitung“), Klaus-Dieter Frankenberger („FAZ“) usw. Allein in den Jahren 2006 bis 2012 werden in den Jahresberichten 88 Journalisten erwähnt.“
Das Monströse dieser freiwilligen Selbstgleichschaltung im Dienst der Macht ließ sich bereits an der Berichterstattung zur Bundestagswahl 2013 beobachten. Fast jedes deutsche Medium übte sich im Zusammenhang mit Angela Merkel in Schlagworten wie „Wahlerfolg„, „Wahlsieg“ (wahlweise verknüpft mit „triumphal„, „historisch„, „fulminant„, „klar„, „groß„, „deutlich“ oder „Riesen-„) oder gar „Triumph„. Den wenigsten wie etwa dem Cicero fiel auf, dass das Gegenteil der Fall war: dass die CDU zwar die stärkste Fraktion stellte, dass es aber dennoch seit dem 22.9.2013 wieder eine linke Mehrheit im Bundestag gab und der ach so siegreichen Angela Merkel mit 311 zu 320 Abgeordneten 10 Stimmen zur dritten Kanzlerschaft fehlten. Noam Chomsky warf den Medien schon zu internetlosen Zeiten vor, ihr Geschäftsmodell laute „manufactoring consent“.
Zwischen Professionalität und Moral gibt es immer sowohl Kongruenzen als auch Diskrepanzen. Aber die Professionalität einer fragwürdigen, weil ideologisch intendierten Moral unterzuordnen, führt den Journalismus in eine Sackgasse.
In der Zusammenschau – zweites Zwischenfazit – muss man zu dem Schluss kommen: ja, wir haben eine Systempresse. Eine Presse, die nicht nur ihre Systemdistanz verloren hat, sondern sich – wie die Banken – inzwischen selbst als systemrelevant definiert und / oder von der Politik so definiert wird; unabhängig aller ethisch-moralischen Skrupel und/oder publizistischen Wahrhaftigheiten. Konrad Adam hat das sehr gallig auf den Punkt gebracht (Hervorhebung von mir):
Distanzlosigkeit „rein als solche“, sagt Max Weber, sei eine der Todsünden des Politikers und eine jener Qualitäten, deren Züchtung den intellektuellen Nachwuchs zur politischen Unfähigkeit verurteilen werde. Diese Sünde wird nicht nur von Politikern begangen, sondern auch von all den Journalisten, die ihnen aus der Hand fressen.
Dass sich viele Bürger, zumal als „Regierte“, in diesem System nicht mehr wiederfinden und eigene Wahrheiten suchen, dass diese eigenen, zum Teil jahrzehntelang aufgebauten, realitätsbestätigten und gültigen Wahrheiten nicht mehr greifen (sollen) und zu politischer Verhandlungsmasse werden, dass aus dieser Verhandlungsmasse bisherige Gewissheiten herausgelöst werden und zu wandelbaren Vagheiten mutieren… all das ist einzupreisen, wenn es um das von Ihnen heraufbeschworene „Bild des Niedergangs und der Verwahrlosung“ geht.
„Wer Zuwanderung für unser dicht besiedeltes Land fordert, gefährdet den inneren Frieden.“ hieß es bspw. im CDU-Wahlprogramm von 1998 (S. 17) – heute rufen CDU-Politiker dazu auf, Zuwanderungswillige bei sich zu Hause aufzunehmen, und werden dabei medial gut unterstützt (bspw. hier, hier und hier). Dass kein Medium thematisiert, warum das niemand für die Obdachlosen fordert, deren Zahl jedes Jahr zweistellig steigt und inzwischen die 300 000 erreicht hat, ist ebenso bezeichnend wie die Tatsache, dass in denselben Medien jeder sofort als ausländerfeindlich und damit „rechts“ diffamiert wird, dem die Sorge um die eigenen Mitbürger wichtiger ist als die um Fremde: „Wir lassen uns auch nicht einreden, dass man ausländerfeindlich ist, nur weil man sich für ein geordnetes Zuwanderungsrecht einsetzt“, ärgerte sich Bernd Lucke.
Das führt zu der absurden Situation, dass Anwohner, wenn sie, um ihre Ängste vor dem Maß an Zuwanderung zu artikulieren, von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machen, inzwischen Plakate vor sich hertragen, auf denen zu lesen ist: „Für Presse und Schmierfinken: wir sind keine Nazis.“
Ein vorauseilendes Dementi auf eine wie selbstverständlich antizipierte Unterstellung: so vergiftet ist inzwischen das öffentliche Klima bei manchen Themen in manchen Gegenden. Hier schließt sich der Bogen zum „Pesthauch des Konformismus“. Die Absurdität erfährt dann noch eine schizophren-groteske Steigerungsvariante, wenn selbst die denkbetreuenden Medien Opfer ihrer eigenen Denkverbote (oder neuen Wahrheiten, je nach Perspektive) werden. Das ZDF-Morgenmagazin entschuldigte sich ebenso vorauseilend für „den entstandenen Eindruck“, dass das olivgrüne Hemd seines Moderators „auf dem Bildschirm tatsächlich braun wirkte“. „Die journalistische Selbstzensur verkauft sich heute bevorzugt als demokratische Gesinnung“, erklärte Michael Klonovsky solches Gebaren. Was das ZDF mit dem „braunen Eindruck“ meinte, blieb offen (eine Entschuldigung setzt Schuld voraus – wer hat hier welche Schuld auf sich geladen?). Welchen Eindruck allerdings das Publikum hatte, ist in der Tendenz den ersten beiden Kommentaren zu entnehmen.
Diesem dystopischen Bild also, das „von Auflösung und von Zerstörung“ erzählt, wie Sie durchaus melodramatisch anmerken, eignet etwas wagnerianisches, was Angela Merkel ja so fern nicht ist:
„Und vielleicht zieht sie auch Parallelen zur wahren Machtpolitik. Wagner lehrt: Götter, die sich in Verträgen und Lügen verstricken, richten die Welt zugrunde.“
Das Adjektiv „alternativlos“ hat nicht nur etwas (Melo)Dramatisches, sondern etwas ausgesprochen Totalitäres. Seine pseudoreligiöse Allgewalt bezieht es aus dem Bewusstsein, dass es immer Alternativen gab und gibt, diese aber verschwiegen, ja gar nicht gedacht werden sollen und dürfen. Das ist Götzendienst. Solcherart Despotismen, Absolutismen, ja Tyrannismen führen „Macht“ einem Höhepunkt und damit ihrem Ende zu.
+ + +
In Bezug auf die Publikumsgewalt haben Sie zunächst formal Recht mit der Aussage: „Niemand ist heute mehr zur Rolle des Leserbriefschreibers verdammt, der auf die Gnade des unredigierten Abdrucks hoffen muss.“ Wenn sich aber zu vielfachen Erfahrungen nicht gewährter Gnade auch noch solche der politischen Ohnmacht als dem Betreuten Denken unterworfener mündiger Bürger gesellen, können zwei Dinge geschehen. Zum einen wird die nicht gewährte Gnade mit unterstellt nicht genehmem politischem Denken verknüpft und den Medien in der Hoffnung vorgeworfen, dass die Verknüpfung eine falsche Annahme sei. Manchmal stellen sich Erfolgserlebnisse ein.
Zum anderen bricht sich die Ohnmacht in neuen Medien Bahn: in sozialen Netzwerken, ja eigenen Blogs/Watchblogs und Internetpräsenzen. Konrad Adam hat dabei gerade die Printmedien im Blick, die – um es besser zu machen – sich daran erinnern sollten,
… daß Leser unterrichtet statt bevormundet, daß sie belehrt, aber nicht erzogen werden wollen; geschurigelt schon gar nicht. Sie mögen es nicht, wenn man ihnen nur deshalb aufs Maul schaut, um es ihnen gründlich zu stopfen. Kommt man ihnen so, dann wandern sie dorthin ab, wo sie den Mund noch auftun können.
Dieses Bahnbrechen wider einem missionarischen Berufsverständnis, „das geprägt ist von einer volkspädagogischen Haltung, die ihr Glaubensgebäude als allein selig machend ansieht und all jene ruinieren will, die nicht ihrem Glauben folgen“, dieses Auftun wirkt auf Sie bereits wie „eine fünfte Gewalt in Gestalt des Publikums…, eine Gewalt, die sich selbst massiv öffentlich artikulieren und eine eigene Agenda durchsetzen kann“. Hier sollte sich zunächst die Frage stellen, warum Sie letztere offenbar für gefährlich halten. Diese „andere Agenda“ bringt nämlich genau jene basisdemokratischen Elemente vor allem von Kritik (wieder) zur Geltung, die der „vierten Gewalt“ nicht mehr eignen und die man laut Weischenberg inzwischen „mit der Lupe“ suchen müsse:
„Im gesamten Journalismus wird zunehmend mehr die Kritikerrolle zur Disposition gestellt. Die Krise des Journalismus […] erweist sich vor allem als Krise seiner Kritikfunktion; sie wird obsolet, wenn die Distanz fehlt und die Relevanz sowieso.“ (Weischenberg 2006:18)
Bezahlte Journalisten seien, um ihre immer knappere Arbeit zu behalten, wegen der Einschaltquoten und der Werbeabhängigkeit tendenziell am Mainstream orientiert. Unabhängiger Fach- und Bürgerjournalismus sei investigativer (ebd.). Bürger als bessere Journalisten – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.
Hier sollte sich also vor allem die Frage stellen – und ich finde keinen plausiblen Grund, wieso Sie die nicht auch gestellt haben – warum die Agenda der Medien und die des Publikums so massiv divergieren. Als primäre Ursache identifiziere ich, dass die von den (Leit-)Medien an Ereignisse, Themen und Personen angelegten Nachrichtenwerte (vgl. zuletzt bspw. Ruhrmann/Göbbel 2007, Fretwurst 2008, Uhlemann 2011, Ruhrmann 2013) und/oder die vermeintlich danach selektierten und journalistisch dargebotenen Inhalte nicht mehr den Präferenzen des Publikums sowie dessen epistemologischen, informationellen, politischen…, aber auch professionellen und ästhetischen Werten entsprechen.
Der „Tagesspiegel“ bspw. etablierte einen Jugendblog, auf dem 15 – 19jährige die Frage „Was bewegt die junge Generation?“ beantworten (sollen). Neben Veranstaltungstipps und Rezensionen, unauffällig platzierten Links zu Beiträgen des Muttermediums sowie Mehrfach-Verlinkungen finden sich Themen wie:
- Das Paradies der Individualisten: Wir sind alle hirnlose Phonies (2 Kommentare)
- Selbstversuch Trampen: Kostenlos von Berlin nach Leipzig? (0 Kommentare)
- Interview mit dem Meister: Wie baut man den perfekten Papierflieger? (0 Kommentare)
- Dan Bilzerian: Wenn sich Frauen mit Kuchen einreiben (1 Kommentar)
- MC Fitti in Berlin: Fun ist ein Stahlbad (0 Kommentare)
Die „Nachwuchsjournalisten“ konterkarieren mit derart relevanten Texten ihre eigenmotivierende Aussage „Orientierungslosigkeit ist nämlich nichts Schlechtes“ und beweisen die Gültigkeit des Satzes von Meike Winnemuth: „Je weniger wir das Große kapieren, desto fanatischer widmen wir uns dem Kleinen“ – als Nachwuchs übrigens jenes Mediums, das sich laut Eigenwerbung als „Leitmedium der Hauptstadt“ versteht und immerhin Redakteure wie Harald Martenstein unter Vertrag hat.
Die Gründe für diese Divergenz sind vielschichtig und kaum vollständig zu erörtern. Ich beschränke mich auf zwei: auf einen themen- und einen redaktions/ redakteursorientierten, den ich im letzten Punkt „Vertrauen“ verhandle. Ein publikumsorientierter (wen wollen heutige Medien eigentlich womit erreichen und warum) ist mitzudenken und wird implizit durch den Text mit beantwortet.
Zunächst – themenorientiert – erkannte u.a. Ruprecht Polenz einen weitverbreiteten Sachverhalt, den ich „Verwechslung von quantitativer Relevanz und qualitativer Evidenz“ nenne (Hervorhebung von mir):
„…ein Hang zur Dramatisierung. Kleinigkeiten werden hysterisch aufgebauscht, Menschen medial (vor)verurteilt. Zudem kommt es immer häufiger vor, dass die Überschrift nicht zum Inhalt des Textes passt… Diese Art der Irreführung hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Die Menschen bekommen häufig den Eindruck, das Neue, das Außergewöhnliche, sei eher die Regel… Damit besteht zumindest die Gefahr, dass sie ein schräges Bild der Wirklichkeit bekommen. Die Medien haben indes die Verantwortung, in ihren Berichten immer wieder zu erklären: Was ist Regel, was ist Ausnahme.“
Drei wahllose Beispiele der letzten sieben Tage. I) Die NWZ berichtet unter der Schlagzeile „Russisches Militär fliegt ungewöhnliche Manöver über Europa“ darüber, dass Langstreckenbomber und Kampfjets im internationalem Luftraum über der Nord- und Ostsee, dem Schwarzen Meer und dem Atlantik geflogen seien. Mit dem Bericht, der sich identisch in vielen Zeitungsangeboten findet, darunter auch in Sachsen, wird der Eindruck eines berichtenswerten, unterschwellig bedrohlichen Ereignisses erweckt. Erst nach quälenden 463 Wörtern wird im letzten von neun Absätzen aufgeklärt:
„Die Deutsche Flugsicherung betonte, diese Flüge seien „völlig legal“ gewesen. Die Bomber und Kampfjets hätten sich in internationalem Luftraum bewegt, sagte DFS-Sprecher Axel Raab in einem Interview mit dpa-audio. Die Russen seien auch nicht verpflichtet, ihre Transponder einzuschalten oder einen Flugplan mitzuteilen.“
II) Die Geschäftsbelastung deutscher Gerichte und Staatsanwaltschaften für den Bereich freiwillige Gerichtsbarkeit weist für den Zeitraum 1995 bis 2013 etwa 15 000 Verfahren nach dem Transsexuellengesetz (TSG, Verfahren zur Namens- und Personenstandsänderung) aus. Damit wird klar, dass Transsexuelle allein in Deutschland bei einer Einwohnerzahl von 80 Millionen Menschen eine Randgruppe bilden. Unter dem Teaser „Ein ganzer Mann“ – Wenn das Leben richtig scheint und sich trotzdem so falsch anfühlt, ist man dann verrückt? Lange dachte Gloria genau das. Bis sie begriff, dass sie eigentlich Egon ist.“ widmete der „Stern“ 45/2014 von insgesamt 146 Seiten allein neun (5 Textseiten + 4 Fotoseiten) dieser Geschichte eines Italieners (!) – zum Vergleich: das Gespräch mit Innenminister Thomas de Maiziere über deutsche Dschihadisten und die Gefahr von IS erhielt 3 Textseiten, eine Geschichte über die 43 verschwundenen mexikanischen Studenten immerhin 6.
III) Die Leipziger Volkszeitung berichtet unter der Schlagzeile „Wagenplätze in Leipzig – Juliane Nagel schlägt runden Tisch für alle Beteiligten vor“ vom entsprechenden Vorschlag einer linken Landtagsabgeordneten. Deren Credo „Eine wachsende Stadt muss sich auch auf einen größeren Bedarf an Flächen und Räumen für alternative Lebensformen einstellen“ – es geht um bislang zwei solcher Flächen. Damit entsteht der Eindruck, dass es völlig normal sei, „die Interessen der Grundstückseigentümer als auch das Bedürfnis nach solchen Plätzen“ in Einklang zu bringen – obwohl nirgends dieses Bedürfnis als Bedarf qualifiziert wird. In den 27 Kommentaren finden sich neben Kritik an der Einseitigkeit des Berichts und der (nicht)zitierten betroffenen Anwohner und Eigentümer sowie der falschen lokalen Einordnung des Fotos auch die Sätze:
„…an dem runden Tisch, an dem derjenige Forderungen stellen kann, dem das Eigentum eines anderen de facto kostenlos zur Verfügung gestellt wird, möchte ich nicht sitzen. Fehlt eigentlich nur noch, dass Enteignungen ins Spiel gebracht werden, um alternative Lebensformen zu ermöglichen…“
Diese Verwechslung nun zeitigt zwei Entwicklungen: eine medienbezogene interne und eine publikumsbezogene externe. Die interne ist – in Verbindung mit dem eben erwähnten weichgespülten Journalismus und Weischenbergs Mainstream-Orientierung – eine auffällige Themenarmut, die zu mehr als nur jener Themengleichheit führt, die man inhaltsanalytisch etwa bei Titelseitenvergleichen nachweisen kann: eine Folge der erwähnten „freiwilligen Selbstgleichschaltung“.
Sie führt dazu, dass ein Thema von Medien derselben Gattung quasiidentisch aufbereitet wird (intramediale Einfalt). Sie führt je nach Eigentümerstruktur dazu, dass ein Thema identisch in vielen Publikaten auftaucht (monopolistische Einfalt). Sie führt je nach Redaktionsstruktur dazu, dass ein Thema mehrfach im selben Publikat auftaucht (monothematische Einfalt). Diese betrifft zunehmend auch die Selbstreferentialität der vor allem öffentlich-rechtlichen Programme: es vergeht kaum ein Tag, da in den Morgenmagazinen nicht die Themen abendlicher Sendungen vorgewärmt werden.
Am 03.11. lautete das Servicethema im ARD-MoMa 5.30 Uhr bis 09.00 Uhr „Das richtige Fleckenmittel“ mit Yvonne Willicks, Hauswirtschaftsmeisterin. Um 20.15 Uhr gab es dann den „Haushalts-Check mit Yvonne Willicks“, der sich zur besten Sendezeit damit befasste, wie hygienisch sauber in deutschen Haushalten wirklich gewaschen wird, daneben mit optimalen Fleckweg-Tipps, der richtigen Pflege der Waschmaschine und den ökologischen Folgen unseres täglichen Wäschewaschens.
Und sie führt sogar dazu, dass unterschiedliche Medien derselben Gattung zum selben Thema voneinander abschreiben. Man kann das durchaus als mediale „Warholisierung“ bezeichnen:
„Je öfter man dasselbe sieht, desto mehr verschwindet die Bedeutung, und desto besser und leerer fühlt man sich.“ (Andy Warhol, 1964)
Die externe Entwicklung wiederum lässt sich unter zwei Perspektiven gliedern: einer laienhaften und einer professionellen. Die laienhafte des Netzes (die natürlich auch von Profis angewendet werden kann) hat Bettina Röhl so zusammengefasst:
Die artifiziellen Vernazifizierungen, die fatalerweise in Mode geraten sind, die Hochrechnungen von einem Wort oder einem Satz oder einer FB-Bekanntschaft oder einem zufälligen Vorbeiradeln hier oder dort auf den Menschen als Ganzes, sind ein unmenschliches und teuflisches Spiel. Diejenigen, die solcherlei, auf die Vernichtung meist wahllos ausgesuchter Menschen zielende Qualifikationen benutzen, praktizieren genau das, was sie zu bekämpfen vorgeben, nämlich Ausgrenzung und vom Spielfeld jagen.
Die Gründe mögen vielfältig sein: Beanspruchen eines Wahrheitsmonopols, Durchsetzungswille der eigenen Meinung, Angst vor Ablehnung/Ausgrenzung, Verabsolutierung der eigenen Subjektivität, Spott und Häme ob eines Fauxpas, virtuelle Abenteuerlust aus realer Langeweile, Frustabbau aus verletzter Eitelkeit, Aggressionsverschiebung vom Mächtigen gegen den Schwachen… Gerade letztere hat Inflation angesichts effizienzgetriebener Biographien, Paul Verhaeghe erklärte das u.a. so:
Permanente Evaluationen … führen zu einem Verlust von Autonomie und einer steigenden Abhängigkeit von externen Normen, die sich darüber hinaus ständig ändern. Dies führt zu dem, was der Soziologie Richard Sennett als „Infantilisierung der Angestellten“ bezeichnet hat. Erwachsene Menschen zeigen kindliche Gefühlsausbrüche; Nichtigkeiten erwecken Neid und Eifersucht. Sie greifen zu Notlügen und Betrug, freuen sich über den Misserfolg anderer und kultivieren kleinliche Rachegefühle. Das alles sind die Folgen eines Systems, das die Menschen systematisch daran hindert, selbständig zu denken und … nicht wie erwachsene Menschen behandelt.
Ein weiterer Grund ist natürlich der klassische Protest (vgl. zuletzt Bernold / Henaine 2011, Reißmann/Stöcker 2012, Schröder 2012, Sonntag/Baringhorst 2013, Balint/ Dingeldein 2014, Voss 2014). Protest dagegen, dass die eigene Meinung ungewürdigt bleibt oder, wenn sie wenigstens zu interessieren scheint, in ebenso unwissenschaftlicher wie hochnäsiger und daneben manipulativer Weise erhoben wird.
Oder dass die erhobene eigene Meinung redaktionell ungewürdigt bleibt, wie bspw. bei t-online: das Contentportal, das im August 300.979.557 Visits zählte, berichtete am 6. August über eine FORSA-Umfrage des „Stern“, wonach eine knappe Mehrheit der Deutschen (52%) den Islam nicht als Teil Deutschlands sähe. Integriert war eine eigene Umfrage, deren Ergebnis (bei 19 257 Beteiligten) 95,1 % (!!!) betrug – aus „knapp“ wurde plötzlich „absolut“. Bis auf den technischen Hinweis „Diese Nutzerumfrage ist nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Online-Umfragen sind einem hohen technischen Missbrauchsrisiko ausgesetzt, die Ergebnisse dieser Umfrage könnten eventuell von Dritten manipuliert worden sein.“ erfolgte keinerlei redaktionelle Bezugnahme.
Zu dieser widersprüchlichen Wahrnehmung treten gelernte Äußerungen wie die von Ex-Bundespräsident Christian Wulff oder Kanzlerin Angela Merkel, wonach der Islam zu Deutschland gehöre. Der Rezipient sieht sich also mit gleich mehreren Inkonsistenzen konfrontiert, aus denen unter bestimmten subjektiven Prädispositionen kognitive Dissonanzen erwachsen können; dazu am Ende mehr.
Oder dass die eigene Meinung per nicht zugelassener, vorzeitig geschlossener und/oder von vornherein themenreglementierter Kommentarfunktion formal zensiert wird – und bisweilen sogar inhaltlich.
Oder dass sie spätestens im Publikationsfall manipuliert wird, wie hier „Silly„-Gitarrist Uwe Hassbecker auf Facebook beklagt.
Drittes Zwischenfazit: Angesichts massiver Themendivergenz und ebenso massiver Protesthaltungen wünschen Sie sich einen „Mittelweg… der sich nicht opportunistisch einem vermeintlichen Publikumswillen und der Diktatur der Klickzahlen beugt oder aber selbst in die Abwertungsspirale einsteigt und jede kritische Regung pauschal als Shitstorm gekaufter Trolle oder dumpfes Gröhlen eines digitalen Mobs verunglimpft.“ Also weisen Sie einem „Qualitätsjournalismus“ die Aufgabe zu, „auf die Ad-hoc-Attacken, die Einsprüche und die Ideen der Leser und Zuschauer dialogisch und im Sinne einer kritischen Partnerschaft zu reagieren.“ Das Problem scheint hier in der ungelösen Willensdivergenz zu liegen: den Publikumswillen gibt es sicher nicht, den systemischen Medienwillen dagegen schon. Ich erinnere gern an eine Kernaussage aus Brechts „Radiotheorie“, die Hans Magnus Enzensberger, Friedrich Kittler oder Norbert Bolz emanzipatorisch ebenfalls aufgriffen, womit wir erstmals beim Konzept der Gegenöffentlichkeit angelangt wären:
„Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm daran. Noch schlimmer sind Zuhörer daran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat.“
+ + +
Das „neue Genre der journalismuskritischen Abrechnungsliteratur“, wie Sie es nennen, sei nun eine wütende Reaktion über diesen „real existierenden Journalismus“, der Menschen verbinde, „die so unterschiedlich sind und die gewiss keinen entspannten Abend miteinander verbringen könnten“. Gemeint sind einerseits „Entsetzensschreie über die Erfahrung der Mediengewalt am eigenen Leibe“ (Wulff/Wulff, Sarrazin, Gaschke) als andererseits auch Empörungen über den „Niedergang der Qualitätsmedien und der von ihnen produzierten ‚Scheiße‘“ (Ulfkotte), womit wir bei der professionellen Perspektive der externen Entwicklung wären.
Hier sind zwei Aspekte hervorzuheben: ein methodisch-formaler und ein emotionaler. Den formalen nenne ich „Induktionsaversion“; eine Aversion, die zunächst eigentlich in einem „Top-Down – Bottom-Up“-Diskurs geklärt werden müsste. Ihnen missfällt, dass das Unbehagen „sich stets am konkreten Beispiel [entzündet], das mit großer Entschiedenheit zum allgemeinen Schicksal umgedeutet wird. Eigene Erfahrungen in der Politik, ein individuelles Skandalisierungserlebnis – stets führt der Weg des Denkens vom Einzelfall zum grundsätzlichen Urteil…“ Dabei meinen Sie sowohl die o.g. Autoren aus auch Personen der Berichterstattung wie „Karl-Theodor zu Guttenberg, Günter Grass (Israel-Gedicht), Thilo Sarrazin, Peer Steinbrück“.
Dieses Missfallen kann ich, zumal mit Plechanows Ansichten zur Dialektik von Wesen und Erscheinung sozialisiert, nicht nachvollziehen – im Gegenteil. Für John Stuart Mill als ein Hauptvertreter empirisch orientierten Denkens ist
„die Induktion […] diejenige Verstandesoperation, durch welche wir schließen, dass dasjenige, was für einen besonderen Fall oder besondere Fälle wahr ist, auch in allen Fällen wahr sein wird, welche jenem in irgend einer nachweisbaren Beziehung ähnlich sind.“ (Mill 1980:160)
Der entscheidende Punkt ist, welche Relevanz den besonderen Fällen unter quantitativer (Stichprobengröße/Repräsentativität) und qualitativer (Evidenz) Perspektive zukommt; wann also aufgrund einer „nachweisbaren Beziehung“ tatsächlich ein Syllogismus, ja eine All-Aussage statthaft ist. Und hier muss sehr fein zwischen der Relevanz der (Medien)Machthabenden und der der Ohnmächtigen differenziert werden.
Meine erste These dazu lautet: wenn die (Medien)Machthabenden aus besonderen Fällen auf allgemeine Befunde schließen, ist das legitim und richtig. Wenn das die Ohnmächtigen tun, unstatthaft und falsch. Die AfD Sachsen hatte unter ihren damals über 600 Mitgliedern ca. 15 der islamkritischen Partei „Die Freiheit“, d.h. 2,5 %. Dieser Prozentsatz wurde medial mindestens als „Problem“, ja als Gefahr „rechter Unterwanderung“ hochgeschrieben. Derselbe Mechanismus war bei der oben erwähnten Lucke-Berichterstattung der DNN feststellbar: 15 Störer sind danach relevanter als 350 potentielle Wähler und die ihnen vermittelten Inhalte.
Wenn Sachsens AfD-Vorsitzende Frauke Petry Ende Juni 2014 vom Bildungskollaps in Sachsen spricht, weil der Versand zehntausender Elternbescheide zum Gymnasialbesuch gestoppt, 4000 zusätzliche Schüler in der Bildungsplanung nicht berücksichtigt und, da mindestens 500 Lehrer fehlen, in Landschulen schon die Einführung zweizügigen Unterrichts angekündigt wurde, werden weder der Begriff akzeptiert geschweige die Argumente.
Meine zweite, schwerwiegendere These dazu lautet: wie evident bestimmte Einzelfälle sind, liegt im Ermessen der (Medien)Machthabenden. So schrieb Susanne Kailitz in der ZEIT in einem Stück über den Widerstand gegen einen Moscheebau in Leipzig:
„57 Prozent der Ostdeutschen fühlen sich durch den Islam bedroht, so war es gerade im Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung zu lesen. Für diese Mehrheit muss ein Weg gefunden werden, wie sie sich mit einer Moschee vor der Haustür arrangieren kann.“
Das bedeutet: die Minderheit der (Medien)Machthabenden darf ganz selbstverständlich den Mehrheitswillen ignorieren und sich anmaßen zu bestimmen, was die Mehrheit zu tun, zu lassen, zu akzeptieren und, wie wir eben sahen, auch zu denken hat. Demokratie definiere ich anders.
Und nicht nur ich – bspw. für Alexander Dugin (zu dem als Person man durchaus geteilter Meinung sein kann) ist diese Anmaßung inzwischen gar kennzeichnend für Westeuropa:
„Im liberalen postmodernistischen Westen aber wird Demokratie heute als Herrschaft der Minderheit verstanden. Weil diese Mehrheit verdächtigt wird, sie neige freiwillig zum Populismus, zu Sozialismus oder Faschismus. Deswegen ist es die Aufgabe der regierenden Minderheiten, gegen die Mehrheit zu kämpfen. Eine abartige Logik.“ (vgl. SPIEGEL 29/2014)
Ganz anders verhielten sich die Medien dagegen, als Bernd Lucke den Begriff „Entartung“ von Max Nordau (1892) nutzte: das hatten davor bspw. bereits Franz Joseph Strauß (Süddeutsche Zeitung, 15.07.1983), Hans Zehetmair (SPIEGEL, 16.03.1987). Helmut Schmidt (Frankfurter Rundschau, 12.09.1992) und am 15. Juni 2011 Wolfgang Schäuble getan, ohne dass es einem Journalisten ein- geschweige denn auffiel. Bei einem ungeliebten Konkurrenten dagegen – Quod licet Iovi, non licet bovi – wurde sofort die rechte, ja braune Keule herausgeholt (etwa hier, hier, hier, hier oder hier). Wenn nun ein so Verunglimpfter vorrechnet, dass unter Wolfgang Schäuble bislang 2 Billionen Euro Schulden, 6 Billionen Euro Bürgschaften u. 700 Milliarden offene Target 2-Posten aufgelaufen sind, wird das ignoriert und stattdessen dem Finanzminister solide Finanzpolitik attestiert.
Zum Vergleich: als Katrin Müller-Hohenstein im Juni 2010 in der Halbzeitpause des WM-Spiels Australien gegen Deutschland im Zusammenhang mit Kloses Tor von einem „inneren Reichsparteitag“ für den zuletzt häufig gescholtenen Torschützen sprach, beeilte sich Vorzeigeblogger Stefan Niggemeier, dieses Statement zu liefern: „Für mich ist das eine alltägliche Redewendung, um einen besonderen Triumph zu beschreiben, ein Gefühl von Schadenfreude oder die Genugtuung, es allen gezeigt zu haben“. Ich will mir nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn Bernd Lucke oder gar ein einfaches AfD-Mitglied an den Wahlabenden dieses Jahres von einem „inneren Reichsparteitag“ schwadroniert hätte. Harald Schmidt war es 1992 übrigens noch ohne Empörung möglich, die Stimmung bei „Verstehen Sie Spaß?“ mit der Atmosphäre im „Reichssportpalast“ zu vergleichen.
Nur am Rande soll hier noch die Dissonanz notiert sein, dass auch die Evidenz nach nicht mehr vollständig nachvollziehbaren Kriterien interpretiert und bewertet wird. Andernfalls ist kaum erklärbar, dass derselbe quantifizierbare Sachverhalt gegensätzliche Interpretationen erfährt.
Der zweite, emotionale Aspekt berührt den Umgang der Medien mit Personen. Und hier lässt die Tatsache, dass „eigene Erfahrungen in der Politik“ oder „individuelle Skandalisierungserlebnisse“ nach Artikulation drängen, auf einen Paradigmenwechsel schließen: der Semantik von „Mediengewalt“ ist eine weitere, verbale Bedeutungsnuance hinzuzufügen. Denn offenbar können diese Erlebnisse als so gravierend empfunden werden, dass sie subjektiv nicht (mehr) bewältigt werden (wollen). Medien berichten nicht mehr über Schicksale, sie machen sie. Sie, Herr Pörksen, nennen es Kampagnen, ich Mediendarwinismus.
Obwohl ich jetzt als befangen gelten mag, dürfte mein Rücktritt als AfD-Landesvize ein illustratives Beispiel dafür sein, dass es den meisten Medien nicht um Wahrheit, sondern um die Aufgeregtheit geht, um die täglich neue Sau, die durchs Dorf getrieben werden muss, wie Heinrich Oberreuter schon vor Jahren anmerkte. Er begründete das mit dem Zwang zur „Inszenierung“, deren dramaturgische Notwendigkeiten – Spannung, Verkürzung, Simplifizierung – zu ungeheurem Themenverschleiß, zu kontinuitätsverschlingender Kurzatmigkeit und zur problemverschleiernden Suggestion rascher Lösungen führe.
Ich wurde im fast wahrsten Wortsinn „zur Sau gemacht“, da ich über einen Artikel über einen zunächst zweimal sitzengebliebenen, danach hochschulisch qualifizierten Lehrer mit Trisomie 21 aus dem EU-Staat Spanien erschrak und ihn sarkastisch kommentierte. Denn im ebenfalls EU-Staat Deutschland haben wir einerseits zwar Trisomie 21-Gymnasiasten, die aber nochmal keinen Hauptschulabschluss schaffen, und andererseits geistig nicht behinderte Abiturienten, die zu 28 % ihr Studium abbrechen. Wenn nun ein individuell hochgeförderter Hochschulabsolvent mit geistiger Behinderung unter der Überschrift „Auch ich kann es schaffen“ als erstrebenswertes Ideal dargestellt wird, das jeder unabhängig von allen natürlichen Voraussetzungen und Unterschieden erreichen könne, so er sich nur anstrenge, dann ist das für mich eine klassische Verwechslung von Ausnahme und Regel. Solcherart Simplifizierung von natürlicher Vielfalt und Euphemisierung von geistiger Behinderung halte ich für das Niveau eines nicht nur im Sinkflug, sondern im Absturz befindlichen Bildungssystems für gelinde geschrieben unmöglich. Und nicht nur ich, auch der – dem Vertreten von AfD-Positionen sicher völlig unverdächtige – SPD-Bildungsminister Mecklenburg-Vorpommerns, Mathias Brodkorb äußerte sich schon zwei Jahre vorher ebenso (2012:18):
„Wie soll es funktionieren, wenn alle Kinder in ihrer Unterschiedlichkeit demselben Lernstoff folgen? Die einfache Antwort lautet: Das ist unmöglich. Die Anhänger einer radikalen Inklusion verabschieden sich daher ganz klar von zentralen Bildungsstandards. Die Standards sollen nicht zentral vorgegeben werden und im Grundsatz für alle gelten, sondern es soll umgekehrt Schule ausgehend von jedem einzelnen Schüler und jeder einzelnen Schülerin her gedacht werden: Nicht die behinderten Kinder müssen für das System fit gemacht werden, sondern umgekehrt das System für das behinderte Kind.“
In der Facebook-Diskussion vertrat ich also meine Meinung: gegen die Nivellierung von Bildungsstandards, gegen geistig behinderte Lehrer in unserem Regelschulsystem und gegen Inklusion geistig Behinderter (von anderen Behinderten war keine Rede) sowie für die Beibehaltung unseres Förderschulsystems. Aber: diese abstrahierte Ambivalenz und ihre Folgen für unsere Bildung, vor allem die Folgen für den „Inklusionskitsch“, den auch andere Pädagogen geißeln, spielte gar keine Rolle mehr. Nach dem entsprechenden Spin der – nicht nur dafür ausgiebig abgestraften – FDP ging es einzig und allein um das konkrete Schicksal jenes Spaniers, den ich damit, so die Interpretation, beleidigt hätte, sowie darum, dass sich alle anderen deutschen Behinderten dadurch auch beleidigt fühlen könnten – obwohl ich weder den Spanier noch sonst einen Behinderten konkret ansprach und erst recht von niemandem wegen Beleidigung (immerhin ein justitiables „Ehrdelikt“) angezeigt wurde. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach brachte den der political correctness zuzuschlagenden Mechanismus im SPIEGEL trefflich auf den Punkt (Hervorhebung von mir):
Die Intelligenz eines Wissenschaftlers zum Beispiel ist in der Politik oft nicht nur wertlos, sie schadet sogar. Wissenschaftliche Intelligenz bedeutet, dass man abstrahiert. In der Politik zählt jedoch das Konkrete. Wissenschaftler lieben Details und lange Vorträge, Politik braucht eine extreme Zuspitzung durch Bilder, plakative Sätze oder eine Story. Wissenschaftler glauben, dass sich am Ende immer das bessere Argument durchsetzt. Das ist aber eher die Ausnahme. Man muss sein Argument auch darauf überprüfen, ob es verhetzbar ist, ob es absichtlich missverstanden werden kann.
Ebenso, wie man ausländerfeindlich ist, weil man sich für ein geordnetes Zuwanderungsmodell einsetzt, ist man also behindertenfeindlich, weil man das Förderschulsystem bewahren und das Bildungsniveau der Schülermehrheit vor der Nivellierung durch eine Minderheit schützen will. Auch das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Mit derselben Logik ist man dann feminophob, weil man Quoten und gegenderte Sprache ablehnt, oder homophob, weil man die Gleichstellung der „Homoehe“ nicht befürwortet. Da brauchte es wirklich erst einen Dieter Nuhr, dem ein solcher Satz abgenommen wird:
„Ich habe kein Verständnis dafür, dass die bei uns lange erkämpfte Meinungsfreiheit nicht mehr ernst genommen wird, wenn sich jemand beleidigt zeigt.“
Kein Nachsinnen über die Möglichkeit eines geistig behinderten Lehrers in Sachsens Schulsystem, kein Abwägen der Autorität eines solchen Lehrers bei nichtbehinderten Kindern, keine Umfrage zur Zahl jener Eltern, die ihre nichtbehinderten Kinder von einem geistig behinderten Lehrer unterrichten lassen würden… kein Medium versuchte, all diese Sachverhalte zu recherchieren im Sinne bspw. von Okke Schlüter:
„Die Aufgabe eines seriösen Mediums sollte es sein, das Thema zu versachlichen, gegebenenfalls sogar vermittelnd zwischen den Kontrahenten aufzutreten. Darin sehe ich eine große Chance für alle Medien, denn sie können sich auf diese Weise Autorität und eine gute Reputation erwerben.“
Die Medien schossen sich dagegen – wie das Netzpublikum auch – auf die Interpretation der unterstellten Beleidung sowie deren Folgen ein: aus der Verkürzung „AfD-Landesvize hetzt gegen Behinderte“ wurde gar ein „AfD-Hetzer“, dessen Existenz dann durch die Zerstörung des Geschäftsmodells als Freier Dozent nach 16 Jahren Lehre vernichtet wurde. Den Machtmechnismus hat Volker Zastrow so formuliert:
„Aus dem demokratischen Spektrum dürfen nur die Standpunkte und Forderungen ausgegrenzt werden, die auf Abschaffung der Demokratie und der Menschenrechte zielen, zum Beispiel der Meinungsfreiheit selbst. So viel Ausgrenzung muss sein, aber mehr auch nicht. Denn Ausgrenzung betrifft nicht die Richtigkeit, sondern die Zulässigkeit von Argumenten. Genau genommen entscheidet sie nicht einmal darüber, was man sagen darf, sondern wer was sagen darf. Sie dient nicht der fairen Auseinandersetzung, sondern setzt ihr ein Ende. Ausgrenzung ist ein Werkzeug der Macht.“
Es kam kaum jemandem in den Sinn (und wenn, dann erst spät, nach eingeschaltetem Denken), dass sich das Posting weder gegen Pablo Pineda im Besonderen noch Behinderte im Allgemeinen richtete, sondern einen geistig behinderten Hochschulabsolventen als Argument dafür hernahm, die schockierenden Konsequenzen eines EU-harmonisierten Bildungssystems zu entlarven: es gibt kein weltgeschichtliches Beispiel für eine Harmonisierung nach einem jeweils höchsten Standard. Der Mann hätte also auch eine Frau sein, aus jedem anderen EU-Staat kommen, jeden beliebigen Namen tragen und jeden anderen Hochschulabschluss haben können. Dass gerade einmal fünf Journalisten direkt und zwei per Mail mit mir sprachen, passt ebenso ins Bild wie das schon beim Rektor der TU Dresden beginnende kollektive Vergessen, dass im GG die Ziff. 3 des Artikels 3 lautet (Hervorhebung von mir):
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Christiane Florin hat den zugrundeliegenden publizistischen Prozess knapp und treffend charakterisiert:
„Zuerst begleiten wir unsere Helden freundlich, aber während wir da unten herumkriechen, sehen wir genau, worüber unser Heros stolpern könnte: über seine eigenen Beine, über Steine, die ihm andere in den Weg legen, über Stöckchen, die wir ihm hinhalten. Wenn er am Boden liegt, fühlen wir uns groß. Wir haben einen Mächtigen zu Fall gebracht, die Demokratie gerettet. Manchmal leisten wir uns einen Anflug von Selbstzweifel und fragen, ob wirklich jeder Kommentar nötig war. Und während wir Nachdenklichkeit simulieren, robben wir uns an das nächste Objekt heran.“
Vorletztes Zwischenfazit: Sie gestehen selbst, dass Sie nicht alles gut finden, „was ARD und ZDF senden oder was im Spiegel, in der ZEIT, in der FAZ oder in der Süddeutschen steht“. Sie gestehen weiter, dass Sie sich mitunter ärgern „über den real existierenden Journalismus, über manche Selbstgerechtigkeit und einen Skandalisierungsfuror, der mich frösteln lässt.“ Aber ist angesichts der bislang explizierten Auffälligkeiten einer offensichtlichen Systempresse, die weder die Realität in allen Facetten noch das Publikum in all seinen Wünschen und Sorgen ernst zu nehmen scheint, ja angesichts der Schicksalhaftigkeit mancher journalistischen Entartungen nicht nachvollziehbar, dass „inzwischen … etwas gekippt [ist]“, sich auf einmal „Skepsis in Wut, ja sogar in Hass verwandelt [hat]“? Druck erzeugt Gegendruck, Ausgrenzung Solidarisierung. Wer sich nicht mehr vertreten fühlt, vertritt sich selbst; auch medial. Das Resultat ist (noch?) keine neue, gewandelte Öffentlichkeit, sondern Gegenöffentlichkeit – in welcher Evidenz, wird sich in den nächsten Wochen, Monaten… zeigen.
+ + +
Vertrauen nun – der letzte, schwierigste Punkt, der zugleich die redaktions/redakteursorientierte Begründung für die Divergenz zwischen Medien und Publikum liefern soll. Sicher aus gutem Grund hat die DGPuK-Fachgruppe Journalistik/Journalismusforschung ihre Tagung 2014 diesem Thema gewidmet. Und sicher auch aus gutem Grund haben Sie sich zu der abenteuerlichen Behauptung verstiegen, dass Journalisten „für die misstrauische Beschreibung kritikwürdiger Zustände selbst das Vertrauen ihres Publikums [benötigen], weil sich nur so die Wirkung einer kritischen Enthüllung wirklich entfalten kann.“ Ohne Vertrauen entfaltet sich Kritik nicht bzw. wird nicht als solche wahrgenommen???
Aus persönlichkeitspsychologischer Perspektive fasst man unter Vertrauen die subjektive Überzeugung (das Gefühl) von der Richtigkeit, Wahrheit und Redlichkeit von Handlungen, Einsichten und Aussagen eines anderen Menschen/einer Organisation – Eigenschaften, um die es nicht nur angesichts des bis hierhin verfolgten Textes schlecht bestellt ist. Stefan Niggemeier hat das jetzt ebenfalls bilanziert:
„So wie aus Politikverdrossenheit bei vielen Menschen Politikverachtung geworden ist, ist aus Journalismusverdrossenheit Journalismusverachtung geworden – und Journalistenverachtung.“
Sie selbst fassen die Befunde von Donsbach 2009 zusammen, wonach Journalisten von der Bevölkerung für unmoralisch, rücksichtslos, manipulativ, bestechlich und deutlich zu mächtig gehalten werden (Hervorhebung von mir). Drei wahllose Beispiele.
- Kann man einer Ex-DFF-Journalistin vertrauen, die 1986 – 1989 SED-Mitglied war und heute „publizistisch objektiv“ eine Talkshow über Für und Wider eines linken Ministerpräsidenten in Thüringen moderiert? Spätestens bei der Entartungskeule war das Vertrauen verspielt.
- Kann man FAZ- und SZ-Journalisten vertrauen, die als Beiräte der Bundesakademie für Sicherheitspolitik im Geschäftsbereich des Bundesverteidigungsministeriums eingebunden sind? Spätestens nach, man muss es so deutlich sagen, „kriegsgeilen“ Kommentaren wie diesem („Die USA können… nicht tatenlos zusehen, wenn sie ihren Anspruch als Ordnungsmacht aufrecht erhalten wollen.“) war das Vertrauen verspielt.
- Kann man einem öffentlich-rechtlichen Sender vertrauen, dessen Intendant als Tagesthemen-Moderator fünfstellige Honorare für firmeneigene Politikergespräche kassierte und der sich wegen meteorologischer Fehlinformationen mit Rücktrittsforderungen konfrontiert sah? Spätestens bei diesem Dialog in der WDR-produzierten „Lindenstraße“ (einem Fiction-Format!) vor den Landtagswahlen in Thüringen und Brandenburg war das Vertrauen verspielt.
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„Mutter Beimer: Was hältst Du eigentlich von der AfD? Es ist doch erstaunlich, dieser Wahlerfolg in Sachsen, oder?
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Vater Beimer: Es gibt mehr Konservative in Deutschland als man denkt.
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Mutter Beimer: Das ist mehr als konservativ, es ist geradezu fremdenfeindlich! Und dann fordern die auch noch mehr deutsche Musik, populistischer gehts doch gar nicht*. Aber wenigstens fallen die jungen Leute nicht auf diese neuen Rechten rein.“
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* Anmerkung: Die rot-grüne Berliner Koalition wollte im Herbst 2004 die Rundfunkstationen unter anderem dazu verpflichten, deutsche Nachwuchskünstler besser zu fördern und in ihren Musikprogrammen 35 Prozent deutschsprachige Rock- und Popmusik zu spielen. Den Dirigismus einer „Quote“ hat noch mal nicht die AfD Sachsen in ihr Wahlprogramm einfließen lassen.
Wer sich einer Sache sicher sein kann, braucht qua definitionem nicht vertrauen: Vertrauen wird vor allem in Situationen gebraucht, deren Verlauf und Ausgang unsicher, risikohaft sind. Dazu benötigt es immer eine sogenannte „Vertrauensgrundlage“: gemachte Erfahrungen oder die Persönlichkeit einer Person/Institution. Hat man diese Grundlage nicht, braucht es einen „Vertrauensvorschuss“. Den aber erhält bestimmt nicht, wer als „Schmierfink“ angesehen wird, gegen den man meint, sich im Vorhinein verwahren zu müssen.
Für unsere Belange wesentlich sind die gemeinsam geteilten Normen und Werte von Vertrauensgeber und Vertrauensnehmer (im soziologischen Fachwortschatz „identifikationsbasiertes Vertrauen“) und die wahrgenommene Vertrauenswürdigkeit des Rezipienten als Vertrauensnehmer („eigenschaftsbasiertes Vertrauen“).
Die redaktions-/redakteursorientierte Begründung für die Divergenz zwischen Medien und Publikum ist zunächst im fehlenden identifikationsbasierten Vertrauen zu finden: es geschieht keine Meinungs- und Willensbildung mehr, sondern – durch überdies wenig vertrauenswürdige Journalisten – eine Darstellung jener Meinungen/jenes Willens, die zwar gesellschaftlich gewünscht und akzeptiert sind, aber individuell nicht als identifikativ, sondern bevormundend wahrgenommen werden. Das Vertrauen, das vom Publikum erwartet wird, sind die Medien selbst nicht bereit zu bedienen: „Vertrauen ist der Wille, sich verletzlich zu zeigen.“ (Osterloh/Weibel 2006:35) Wohin das führen könnte, hat jetzt Stefan Niggemeier thematisiert:
„Viele der seriösen Medien scheinen noch nicht zu ahnen, wie groß die Erosion des Vertrauens in ihre Arbeit ist und dass dieses Vertrauen die Grundlage für alles ist. Die Gefahr für uns alle ist, dass Menschen, die ihnen nicht mehr glauben, alles glauben.“
Das eigenschaftsbasierte Vertrauen nun erweist sich als umfänglicher. Denn welche Eigenschaften sind es, die Vertrauen in ein Medium bzw. in die es produzierenden Journalisten projizieren? Nach Grosser 2014 seien es sechs „Faktoren“, die „Vertrauenswürdigkeit im System Journalismus“ indizierten, wobei unter Koordinierung auch noch der Umgang mit Leserkommentaren zu fassen wäre (eigentlich eine eigene, siebte Kategorie) und das Vertrauen in die optische Anmutung, die „Inszenierung“ fehlt – eine achte Kategorie, die ich angesichts der Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung und damit -fälschung für immens wichtig halte und deren Notwendigkeit u.a. durch weitere nachgewiesene Manipulationen der ARD bei der Berichterstattung über Rußland/Putin bekräftigt wird:
Da Recherchefehler bereits weiter vorn konstatiert wurden, betrachten wir gleich den Selektionsaspekt: Sie meinen, den dramatischen „Vertrauensverlust in die Orientierungs- und Informationsleistung des Qualitätsjournalismus“ mit Beispielen für einen „oft mustergültigen, gleichermaßen orientierenden und informierenden Journalismus“ zu kontern wie diese: „Berichterstattung über den Missbrauch von Kindern in der Odenwaldschule, die hartnäckigen Recherchen in der NSA-Affäre, die Aufbereitung des NSU-Prozesses“. Ohne eine weitere Themendiskussion aufzumachen: sind die von Ihnen genannten Symptom für die allgemeine Publizistik oder doch eher die Ausnahme? Vielleicht will das Publikum lieber andere, ebenso drängende Probleme und vor allem Problemzusammenhänge „mustergültig, orientierend und informierend“ verhandelt wissen wie im Inland Bildungsnotstand und „Fachkräftemangel“, Zuwanderung und Islamismus oder Misswirtschaft und Verantwortungslosigkeit (Stichworte SachsenLB, BER oder Elbphilharmonie Hamburg); im Ausland Ukrainekonflikt und Friedenspolitik, Nahostkrise und IS oder TTIP und EU-Recht?
Oder regional: Meldungen, wonach die Polizei Zeugen zu einer Auseinandersetzung sucht, bei der ein 22-Jähriger durch einen Unbekannten schwer verletzt wurde, sowie zu einem Einbruch in einen Pizza-Service sind den DNN 111 + 61 = 172 Worte wert. Wenn andererseits Gäste einer AfD-Jugendparty einen jungen Radebeuler an der Elbe „attackiert“ haben sollen, ist die Skandalisierung mit dem Einstieg „Schwere Vorwürfe gegen die AfD…“ den DNN 356 Worte wert – mehr als das Doppelte.
Ohne damit die anderen Faktoren gering zu schätzen, soll hier nur noch das Vertrauen in die Darstellungsleistung kurz diskutiert werden, wobei ich der inhaltlichen Einordnung und Bewertung auch noch die formale Gestaltung beigesellen möchte. Und da ist seit rund anderthalb Jahrzehnten ein Prozess beobachtbar, den Konrad Adam so beschrieb (Hervorhebung von mir):
Die Buchstaben wurden fetter, die Farben greller, Bilder bunter, die Thesen fetziger, der Tonfall simpler und brutaler. Wenn sie schon nicht mehr viel zu sagen hatten, so sollte doch der Auftritt stimmen. Inszenieren statt informieren hieß das gar nicht einmal heimliche Rezept, nach dem gearbeitet und angerichtet wurde. Gebracht hat es nichts, weil man die schnelle Konkurrenz nicht dadurch einholt, dass man ihr nachläuft. Neue Leser sind kaum gewonnen worden, und alte kamen nicht zurück.
Was jetzt folgt, sind nur die Startseite-Schlagzeilen des Onlineauftritts der größten Dresdner (und zweitgrößten sächsischen) Tageszeitung vom 3.11.2014, 13.50 Uhr, in dieser Reihenfolge
- Topthema:
- Wer wird Oberbürgermeisterkandidat in Dresden?
- Dresden:
- Bahnunfall im Alberthafen
- Dresdens Pannen-Fichte
- Zwei Demos für Montag angekündigt
- Drei neue Flugverbindungen
- Sachsen
- Druck auf die Hochschulen
- Indernäd auf Säggsch
- Der tägliche Autoklau
- Daniel überzeugt Dieter Bohlen
- Politik
- Von der DDR haben viele genug
- Verlust von Senatsmehrheit droht
- Abgekanzelt mit links
- Die schwedische Sünde
- Panorama
- „Ade, Welt“
- „Bring‘ den Hintern da rüber“
- Geld zurück
- Karibische Ebola-Offensive
- Sport
- Die verdammte Nachspielzeit
- Wer rasiert, verliert nicht immer
- Doc im doppelten Einsatz
- Kultur
- „Deutsche Pazifisten können nicht mal Sahne schlagen“
- Die Katastrophe hat jetzt erst begonnen
- „Wir Musiker brauchen auch mal Stille“
- Wirtschaft
- Neuer Lokführerstreik droht
- „Das Laptop wird aussterben“
- Hautkrebs wird Berufskrankheit
- Leben und Stil
- Meine Tochter verdient etwas Besseres
- Happy Kids in Tollywood
- Multimedia
- Gefahr durch Cyberangriffe wächst
- Facebook bringt „Hidden Service“ für Tor-Nutzer
- Pirate-Bay-Mitgründer schuldig gesprochen
- Wissen
- Der Salamanderfresser
- Kathedralen für Stromspeicher
Fetziger, simpler, brutaler – von den 34 Themen/34 Schlagzeilen kommen 15 mit drei oder weniger Worten aus, ebenso viele ohne Voll- oder Hilfsverben. Mit Fresser, Gefahr, Angriff, Hautkrebs, Krankheit, Streik, Katastrophe, Ebola, Sünde, Verlust, Autoklau, Druck, Demo, Panne und Unfall finden sich 15 Substantive, die eine Droh- oder Gefahrensemantik initiieren. Rechnet man (in)finite Verbformen, Adjektive und Adverbien wie schuldig, aussterben, drohen (2 x), schlagen, verlieren, verdammt, abgekanzelt oder genug hinzu, wächst die Zahl auf 24 negativ konnotierte Wörter. Positiv besetzte Wörter wie Tochter, Stille, Sahne oder neu sowie das englische Kids muss man suchen.
Der Autoklau-Bericht bspw. wird so angeteast: „In der jährlichen Statistik der Versicherer bleibt Görlitz ein Spitzenreiter. Doch Sachsen wird für Diebe unattraktiver.“ Dieses Prinzip kann man gekreuzte semantische Präfigurierung nennen: ein im ersten Satz vermeintlich „objektiv“ gesetztes Thema wird im zweiten subjektiv verstärkt oder abgeschwächt bis negiert. Der 20. von 29 Sätzen liefert dann die Begründung:
„Der Schwerpunkt Frankfurt/Oder bestätigt aber auch eine Tendenz, die Kriminaloberrat Daniel Mende von der Polizeidirektion Görlitz schon lange bemerkte: ‚Diebe weichen mehr auf Brandenburg aus, weil in Ostsachsen Fahndungserfolge zunehmen.‘“
Darüber hinaus werden aber überwiegend statistisch untersetzte Diebstahl-Fakten dargeboten und der Leser mit dem Satz entlassen: „Conny Stiehl, Präsident der Polizeidirektion Görlitz, sieht keine Veranlassung, drumherumzureden: ‚Bei Aktivitäten gegen Autodiebstahl besteht Handlungsbedarf.‘“ Damit sind die beruhigende Schlagzeile und der beunruhigende Text nicht kongruent – wieder haben wir es mit einer Inkonsistenz zu tun, die gerade regional betroffene Leser, Politikinteressierte und mit dem Themenverlauf vertraute Abonnenten als kognitive Dissonanz erleben (vgl. jüngst Festinger 2012, Irle/Möntmann 2012).
Kognitive Dissonanz schafft zunächst Desorientierung, da bisher Gelerntes bezweifelt werden muss, und motiviert dadurch, die entsprechenden Kognitionen miteinander vereinbar zu machen.
„Dabei kann die bestehende Dissonanz durch eine bewusste Vermeidung zusätzlicher dissonanter Informationen und die bewusste Zuwendung zu konsonanten Inhalten verringert werden. Ist die Dissonanzreduktion erfolgreich, überwiegen im Resultat konsonante, also mit vorliegenden Prädispositionen verträgliche Informationen gegenüber dissonanten, kognitiv unvereinbaren Inhalten und führen gemäß einem Mehrheitsverhältnis zum Bedeutungsverlust der Dissonanz hervorrufenden Information.“ (Mothes 2008:153)
Weitere Strategien sind Einstellungsänderungen (Rechtfertigungen) oder gleich Verhaltensänderungen, die das Maß temporärer Rationalisierungen übersteigen. Den „Prädispositionen“ entspricht das Phänomen der Perserveranz, wonach einmal Gelerntes bewahrt werden will, denn:
„…die Parteien selbst [rücken] neben Inszenierungsmaßnahmen oft wechselseitig Probleme und Missstände in den Vordergrund…, steht der Rezipient als Bürger und Wahlberechtigter im Zentrum von Interessenkonflikten. Ihm wird es aufgrund der Handlungsweisen von Politik und Medien erschwert, eindeutige, konsistente Einstellungen zu wahren.“ (ebd.:162)
Man wehrt sich prompt gegen die als so empfundene „Umerziehung“, die im vorliegenden Fall darin zu bestehen scheint, trotz Faktenlage das sächsische Kriminalitätsproblem nach Brandenburg wegzuschreiben, um eine „Es ist doch nicht so schlimm“-Beruhigung zu produzieren. Das ist unredlich.
Selbst wenn das nur eine oberflächliche Ad-hoc-Analyse war – Michael Haller führt unter seinen „Zehn Gründen, warum die Zeitungen untergehen“ als ersten an: „Der Journalismus, warum missachtet er sein Handwerk?“ Dem wäre eigentlich nichts hinzuzufügen, ist es aber doch.
Denn an diesem Punkt treffen sich Publizistik und Medienökonomie. Sie bezeichnen es als tragisch, „dass die pauschale Kritik die Qualitätsmedien in einem Moment trifft, in dem manche von ihnen um ihre Existenz kämpfen.“ Aber wer hat denn wirklich ernsthaft und unvoreingenommen die Ursachen jenseits des multischuldigen Internet systematisiert? Andreas Vogel hat das dieses Jahr versucht und kam zu mindestens diesem einen bemerkenswerten Resultat:
„Befragt man die Zeitungsabbesteller, warum sie kündigen, nennt kaum jemand das Internet. Die meisten sagen, sie läsen keine Zeitung mehr, weil viele Inhalte sie nicht betreffen oder sie sei zu teuer geworden.“
Dabei wurden noch nicht mal die „Inhalte“ ausdifferenziert und angesichts von „native Advertising“ sowie anderen Formen nach der Attraktivität von Werbung gefragt, da auch die klassischen Anzeigenerlöse weiter zurückgehen. Stellenabbau, zu dem seit wenigen Tagen sogar eine Selbstmord-Metapher kursiert, Outsourcing, Billiglöhner und allgegenwärtige Qualitätseinbußen sind die logische Folge. Nochmals Vogel:
Die Verlage können natürlich nicht einerseits die Redaktionen verkleinern und andererseits die Zeitung ausdifferenzieren. Die Verleger müssen ihre Renditeerwartungen zurückfahren: Zweistellige Renditen im Zeitungsgeschäft sind heute eben nicht mehr realistisch. (ebd.)
Letztes Zwischenfazit: damit häuft sich ein unlösbares, weil systemisches Problem an: das Publikum soll mit Geld, von dem es immer weniger hat und das immer weniger wert ist, bezahlen für wenige und zunehmend dieselben Inhalte, die nicht seine sind, aufbereitet von wenigen Personen, denen es kaum vertraut, in einer Qualität, die mindestens verbesserungsbedürftig ist, innerhalb eines publizistischen Systems, das es nicht (mehr) als Partner wahrnimmt. Alexander Kissler hat das recht derb auf den Punkt gebracht:
Immer mehr Menschen haben den Eindruck, da werde an ihrem Leben, ihren Eindrücken, ihren Haltungen vorbei geschrieben. Da bastle sich eine abgehobene Medienelite die Welt, wie sie ihr und nur ihr gefalle. … Man achte nur auf die stetig wachsende Schere zwischen dem Tenor der jeweiligen Kommentare zum Weltgeschehen und den Leserbemerkungen gleich darunter. Die Entfremdung macht Fortschritte. Leser an Medium: du lügst, es ist ganz anders. Medium an Leser: Schnauze.
Ein praktisches Beispiel liefert der oben erwähnte MoPo-Beitrag zum Interview mit Claus Weselkys Ex-Frau, dessen Thema und Tenor u.a. so bei Facebook kritisiert wurden:
Meine Bilanz könnte schlechter nicht ausfallen. Sie, verehrter Herr Pörksen, nehmen eine „spürbare Neuordnung der Kommunikations- und Machtverhältnisse“ wahr und meinen: „Eigentlich müsste in diesen Zeiten die Solidarität besonders groß sein.“ Der Schluss wäre nur dann gerechtfertigt, wenn diese Verhältnisse zu einer gerechteren Ordnung für alle Beteiligten – Publikum, Redaktionen und Redakteure, Medien, Politik – führen würden. Hier aber hege ich massive Zweifel.
Um Vertrauen kann man werben, man kann darum bitten. Man kann es auch fordern. Man kann aber auch darum betteln. Genau diesen Eindruck vermittelt Ihr Text. Damit konterkariert er Ihr Eingangsstatement „Ich bin nicht als PR-Söldner im Dienste der Leitmedien unterwegs“. Als Küchenzuruf bleibt nämlich für mich haften: „Es ist gerade ziemlich kompliziert mit den Medien, aber eigentlich ist doch alles nicht sooo schlimm, das System funktioniert, also lasst uns bitte so weiter machen.“ Genau das ist es, was viele Bürger nicht mehr wollen, genau das ist es, was nicht mehr funktioniert, sondern im Gegenteil zu kollabieren droht.
Mag sein, dass mein Text ein wenig zu AfD-lastig wurde, aber das liegt ebenso in der Natur der Sache wie schlussendlich der erneute Verweis auf Brecht, diesmal auf sein Gedicht „Die Lösung“ (in „Buckower Elegien“, 1953), das den Aufstand vom 17. Juni des Erscheinungsjahres zum Thema hat und dessen Ende sich – umgeschrieben mit Brechts dramatischer Lieblingstechnik, der Verfremdung – heute vielleicht so lesen mag:
„Das Volk hat das Vertrauen der Medien verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Medien lösten das Volk auf und schrieben ein anderes herbei?“
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Thomas Hartung
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Der Autor ist diplomierter Pädagoge und promovierter Germanist, baute zwischen 1992 und 2001 als Journalist „Radio SAW“, „Antenne Sachsen“ und „Sachsen Fernsehen“ mit auf und arbeitete 32 Semester lang als Dozent für Medienkommunikation und -produktion an diversen deutschen Hochschulen. Seit der Gründung im April 2013 bis 24. Juni diesen Jahres war er stellv. Vorsitzender und Pressesprecher des AfD-Landesverbands Sachsen.
Da es hierzu Nachfragen gab:
Meine These der „Verwechslung von quantitativer Relevanz und qualitativer Evidenz“ ist tatsächlich eine bilaterale. Wenige oder Weniges kann sehr bedeutsam sein, Viele oder Vieles kann aber auch unbedeutend sein. Hans Ulrich Jörges nannte die erste Form im „Stern“ anlässlich des SPD-Entscheids zu Michael Müller als Wowereit-Nachfolger „Kaskade des Erschreckens“: „6353 Menschen: Das sind nicht mehr als 37 Prozent der 17193 stimmberechtigten SPD-Mitglieder, 0,25 Prozent der 2,4 Millionen Wahlberechtigten in Berlin und gar nur 0,18 Prozent der gut 3,5 Millionen Bewohner von Deutschlands größter Metropole.“
Ein aktuelles Beispiel aus einem Leserbrief der TA von dieser Woche: „Am 14. September haben 954.927 Wähler einen neuen Thüringer Landtag gewählt. Im Ergebnis leider ohne klare Mehrheiten. Kürzlich haben nun 3139 SPD-Mitglieder über die zukünftige Regierungskoalition abgestimmt, 2195 von ihnen haben sich für ein rot-rot-grünes Bündnis ausgesprochen. Das sind gerade mal 0,23 Prozent der Thüringer Wähler und 0,12 Prozent der Thüringer Wahlberechtigten! Sie bestimmen letztlich die Grundrichtung der Politik in Thüringen, und dass, wie alle einschlägigen Umfragen zeigen, entgegen der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung. Das ist, man kann es nicht anders sagen, die Pervertierung der Demokratie.“
Die Politik resp. die Medien produzieren aus Minderheiten Evidenz und sprechen zugleich Mehrheiten die Relevanz ab – das Moscheen-Zitat aus der ZEIT in meinem Text ist ein klassisches Beispiel dafür. Andererseits können sie auch Mehrheiten/Vielheiten die Evidenz absprechen und Minderheiten aufgrund verschiedener Faktoren relevanter machen als diese sind – ein Prozess, den man meist „Deutungshoheit“ nennt. Hier ist als Beispiel der Ausgang des Dresdner „Waldschlößchen“-Entscheids am 27. Februar 2005 zu nennen. Bei einer Abstimmungsbeteiligung von 50,8 %, d.h. marginal mehr als der Hälfte der Stimmberechtigten, stimmten 67,9 % der Dresdner für den Bau der Brücke und des Verkehrszuges – das war eine Zweidrittelmehrheit, mit der der Bau demokratisch legitimiert wurde. Ungeachtet dessen haben an diesem Tag aber nur ca. 38 % aller Dresdner dafür gestimmt – was die Brückengegner zum Anlass für ihre Deutung nahmen, dass damit ca. 62 % aller Dresdner nicht zugestimmt hätten, ergo die Brücke ablehnten und der Bau daher zu verhindern sei.
Ein publizistisches Beispiel liefert ein satirischer Kommentar von Hans Heckel zur oben erwähnten PEGIDA-Demo (der Name der Zeitung ist sicher leicht zu deuten): „Heute mokiert sich die genannte Dresdener Zeitung darüber, wie die nur 2000 Demonstranten von „Pegida“ es wagen könnten, sich als Stimme des Volkes aufzuspielen. Sie hat aber natürlich kein Problem damit, die kaum 200 Gegenmarschierer wie die Stimme der gesamten „Zivilgesellschaft“ dastehen zu lassen.“
Sehr geehrter Herr Dr. Hartung,
vielen Dank für diesen offenen Brief. Ich kann wohl ohne Übertreibung behaupten, dass waren soeben die informativsten und interessantesten 3 Stunden der letzten Monate.
Sie sprechen in Ihrem Brief viele Themen und Missstände an, welche mich als „einfacher Leser“ bereits seit längerer Zeit berührten und beschäftigen. Ein besonderes Thema war für mich die extreme Negativität der Schlagzeilen und Auswahl an berichtenswerten Inhalten. Der nicht vermittelte Unterschied zwischen Ausnahme und Regel, welche in mir einen immer mehr zunehmenden Zweifel an Menschheit und Menschlichkeit fördert.
Nochmals vielen Dank.
Mit freundlichen Grüßen
J. Knepper
[…] um es euphemistisch zu sagen, die zur Unglaubwürdigkeit der Politik beitragen und die ich hier bereits untersucht hatte. Das jüngste Beispiel bietet jene gewiss unabsichtlich komplett falsch […]
[…] um es euphemistisch zu sagen, die zur Unglaubwürdigkeit der Politik beitragen und die ich hier bereits untersucht hatte. Das jüngste Beispiel bietet jene gewiss unabsichtlich komplett falsch […]
[…] um es euphemistisch zu sagen, die zur Unglaubwürdigkeit der Politik beitragen und die ich hier bereits untersucht hatte. Das jüngste Beispiel bietet jene gewiss unabsichtlich komplett falsch […]
[…] “Halbe Ladung Wahrheit”:http://www.dr-thomas-hartung.de/?p=2463 […]
[…] Ladung Wahrheit”:http://www.dr-thomas-hartung.de/?p=2463 Dieser Beitrag wurde am Dienstag, 27. Januar 2015 um 02:32 Uhr veröffentlicht und wurde […]
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