Wenn aus Flüchtlingen Gräber werden und Gauck dazu lügt
21. Juni 2015 von Thomas Hartung
Ein Journalist lernt als eine eherne Regel: wenn dich ein Ereignis laut loslachen oder vor Wut in die Tischkante beißen lässt, oder vor Entsetzen zu Tränen rührt – dann mache eine Glosse draus. Mich plagten am Wochenende alle drei Emotionen zugleich, weshalb ich lieber eine Polemik versuche.
Das Ereignis: 4600 Menschen demonstrieren in Stuttgart für Ehe und Familie. 5200 dagegen in Berlin für die im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge. Und parallel dazu missbrauchte Joachim Gauck den nationalen Gedenktag für die Vertriebenen des 2. Weltkrieges, um in geschichtsklitternder Weise einen Vergleich zwischen den Millionen Deutschen, die ab 1945 unter anderem aus Ostpreußen, Böhmen oder Schlesien vertrieben wurden, und den afrikanischen Wirtschaftsflüchtlingen der Gegenwart anzustellen. Wenn ich darüber wirklich nachdenke…
Nein, die Tiefendimension lasse ich mal und beschränke mich auf die zu Tage getretenen Berliner Erbärmlichkeiten, zuvörderst die Gauck‘schen. Das demagogische Fazit unseres Bundespräsidenten lautet: was damals funktionierte, muss es doch auch heute. Verantwortungslosigkeit ist das Harmloseste, was man ihm angesichts solcher hanebüchenen Äußerungen vorwerfen kann. Wer millionenfach unter furchtbarsten Bedingungen ins deutsche Kerngebiet strömte, waren autochthone Deutsche, Angehörige desselben Sprach- und Kulturraums, wie eben auch jene, von denen sie dann in Empfang genommen wurden. Die aber, die heute unter, ja, unangenehmen Umständen nach Deutschland kommen, entstammen einem völlig anderen kulturellen und zivilisatorischen Hintergrund, von sprachlichen Barrieren ganz abgesehen. Wer hier allen Ernstes behauptet, angesichts unserer im kollektiven Gedächtnis verankerten Erfahrungen der Nachkriegszeit kann die Aufnahme und Integration von Hunderttausenden Wirtschaftsflüchtlingen aus komplett anderen Erdteilen nicht mehr sein als ein Kinderspiel, beweist nur, wie ungeeignet er für das höchste Amt im deutschen Staate ist.
Aber vor allem: die Vertriebenen aus den verlorenen deutschen Territorien wären, wenn sie nur gedurft hätten, gerne in ihrer angestammten Heimat geblieben, um sie wieder aufzubauen. Sie flohen nicht für ein schönes Leben zum Nulltarif in ein fernes Schlaraffenland, sondern dahin, was von ihrem Staat noch übrig war. Sie erwarteten keine gedeckten Tische, sondern nichts als harte Arbeit und schwere Opfer. Wer hingegen die afrikanischen Länder wieder aufbauen soll, nachdem deren junge Generation komplett gen Europa ausgewandert ist, können uns weder Gauck noch Merkel oder gar Claudia Roth erklären – ganz abgesehen von der Diskussion, warum die arabisch-islamischen Golfstaaten mit dem riesigen Saudi-Arabien (das auch das kultische Mekka beheimatet) sich gegen jedwede Flüchtlinge sperren.
Aber hat man je eine afrikanische Regierung Alarm schlagen hören, hat sich die Afrikanische Union je zu einem Sondergipfel getroffen, um sich die Frage zu stellen: Was machen wir falsch? Nein! Wenn die Mächtigen in Afrika dieses Thema überhaupt ansprechen, dann, um die „Abschottung Europas“ zu kritisieren. So manche dieser afrikanischen Regierungen mag sogar klammheimlich froh sein, wenn die ambitionierten, aber frustrierten Menschen das Land verlassen – ansonsten würden diese vielleicht auf die Barrikaden steigen. So kann man die Arbeitslosigkeit einfach exportieren … und die Emigrierten stützen die Wirtschaft und indirekt das Regime, indem sie Geld nach Hause überweisen.
Aber weiter: die Kampagne des Zentrums für Politische Schönheit unter dem Motto „Die Toten kommen“. Dass 50 Teilnehmer, darunter Ex-Piraten-Geschäftsführer Ponader, wegen Landfriedensbruch, Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung verhaftet wurden, ist nur eine Randnotiz. Wichtiger: der Tenor der Medien, die über die verbotenerweise ausgegrabenen 100 Gräber vor dem Bundestag berichten. Der „Tagesspiegel“, lakonisch: „‘Und sie graben fleißig weiter.‘“ Gegraben wird mit allem, was zur Verfügung steht: Schaufeln, Skateboards und mit bloßen Händen. Die Stimmung ist fast ausgelassen, die meisten Aktivisten wirken zufrieden.“ Die „Zeit“, drastisch: „Gauck sagte also: ‚Wir würden unsere Selbstachtung verlieren, wenn wir Menschen, die vor den Toren unseres Kontinents auf dem Wasser treiben, sich selbst überließen.‘ Das Ziel der Berliner Aktivisten ist es, den Konjunktiv aus diesem Satz zu schmeißen. Die Selbstachtung ist dahin, es wird Zeit, sie wieder herzustellen.“
Was mich verstört, ist vor allem die Interpretation der Scheinpolitik, der Inszenierung, des Empörungszirkus, der sich tatsächlich so ernst nimmt: „Welche Werte sind in unserer politischen Klasse noch von Bedeutung, wenn die Unversehrtheit einer Wiese über der Trauer um tausende Tote steht?“, fragen die Piraten und meinen das nicht ironisch! Ist das „Umbuddeln“ einer Wiese („Zeit“) heute Trauer, soll solche „Moral to go“ heut Standard werden? Und wer trauert eigentlich um wen, um welche/wessen Familienangehörigen?
All das interessiert die Medien nicht, im Gegenteil; “ Und so war all das wohl eine gelungene Aktion“, freut sich unverblümt die „Zeit“. So machen also „Künstler“ auch noch ungewollt gute Werbung – für die Mafia, korrupte Polizisten, Schlepper und deren Helfershelfer. Aber warum auch sich mit komplexen Problemen auseinander setzen, wenn man stattdessen soviel ideologischen Müll verbreiten kann? „Schwarzes Revoluzzertheater mit Remmidemmi-Faktor“ erbarmt sich wenigstens die „Welt“ zu einer Relativierung.
Mein Fazit: effektvolle Lügen werden inzwischen als Freiheit der Kunst ausgegeben. Und die Leitmedien würdigen die freiheitlichen Effekte, anstatt die Lügen zu demaskieren – und vor allem die Hintergründe zu analysieren, auf denen die Lügen gegründet werden. Wenn fremdes Leid wichtiger wird als das der eigenen Bevölkerung, darf Honecker im Grab noch einer abgehen. Hey, Sozialismus, alles richtig gemacht.
Und der Scheinwerfer fällt und fällt nicht vom Himmel…