Handeln – christlich oder politisch oder beides? Oder…
21. Dezember 2015 von Thomas Hartung
Langsam pirschen sich die Kritiker der Asylpolitik (und nicht nur der) an ein Kernproblem, wenn nicht gar an das Kernproblem des gegenwärtigen Flüchtlingschaos heran. Es ist die Frage politischen Handelns unter „christlichem Duktus“ – oder besser die (Un)Möglichkeit christlichen Handelns unter politischem Duktus.
Heinz Theisen, Politikwissenschaftler an der Katholischen Hochschule Köln, hat das Dilemma erstmals – und noch relativ unbeachtet – am 4. Oktober mit dem bemerkenswerten Satz „Wir können nicht länger von ‚Religionsfreiheit‘ reden, wo wir einer totalitären Herausforderung gegenüberstehen“ in den Diskurs eingebracht. Dass er in seinem Text nicht die Islamkritiker als „rechts“ einsortierte, sondern den Islamismus, der von der Ablehnung individueller Freiheiten bis zur Befürwortung von Ungleichheit dafür alle Voraussetzungen erfülle, soll nur am Rande erwähnt sein. Wichtiger ist seine Religionskritik, die die moralischen Entgrenzungen von „Glauben“ mit der physischen Begrenztheit jeden Seins in Verbindung setzte:
„Letztlich war es der universalistische Geist des Westens selbst, der zur Destabilisierung seiner Nachbarschaft beigetragen hatte. Hinter unserem politischen Universalismus verbirgt sich nicht weniger als der Liebesuniversalismus des Christentums, allerdings in einer profanierten, verkitschten Form ohne Erbsünde, ohne irdisches Jammertal. Solche Direktübertragungen des Himmels auf die Erde gehen immer schlecht aus, weil sie Absolutes mit Relativem und Unendliches mit Endlichem verwechseln. Wer sich quasi-religiös legitimiert, hält bereits Warnungen vor einem grenzenlosen Europa und vor Überdehnungen unseres individuellen Menschenrechtsverständnis für „rechts“. Wenn jede differenzierte Argumentation moralisierend abgewürgt wird, kommt es auch zu keinem differenzierten Handeln. Auch das derzeitige sprachliche Durcheinander über Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge, Migranten, Zuwanderer und Einwanderer ist aus der Moralisierung heraus erklärbar.“
Sein Schluss ist naheliegend:
„Erst die verspätete Anerkennung der Notwendigkeit von Grenzen und Begrenzungen würde den moralisierenden Universalismus des Westens überwinden helfen und zu einer neuen realpolitischen Strategie überleiten. Diese müsste von Träumen über eine unipolare westliche Weltordnung Abstand nehmen.“
Zur Begründung klarer Grenzziehung und damit klarer Strukturen bemühte er auch den seiner Meinung nach gescheiterten Begriff der Leitkultur, den er entsprechend substituieren will:
„Nach der jahrzehntelang gefeierten ‚Offenheit Europas‘ für die Vielfalt an Kulturen und Religionen kann es keine Leitkultur mehr geben. Je liberaler wir hinsichtlich kultureller Unterschiede in der Gesellschaft sind, desto wichtiger wird die politische Integration in die Leitstruktur der staatlichen Ordnung. Dazu gehört neben dem Gesetzesgehorsam der Respekt vor staatlichen Institutionen, von den Schulen bis zu den Gerichten, unabhängig davon, ob man deren Werte und Urteile teilt. Erst die Anerkennung der gemeinsamen staatlichen Leitstruktur ermöglicht unterschiedliche gesellschaftliche Kulturen.“
Einen Monat später legte der Autor in der NZZ nach, indem er das Ende der „bipolaren Weltordnung“ auf den Kampf zweier Thesen zurückführte: die vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) im Sinne einer unaufhaltsamen Ausdehnung der westlichen Demokratie – und die vom „Kampf der Kulturen“ (Samuel P. Huntington) im Sinne eines über diese westliche Ausdehnung entstehenden Zusammenpralls unterschiedlicher Werteordnungen bei zugleich westlicher Verabsolutierung weltlicher Machtziele. Sein Credo:
„Das Scheitern des Westens jenseits seiner Grenzen spricht nicht gegen westliche Werte, wohl aber gegen unsere Fähigkeit, diese Werte zu universalisieren.“
Leider drückt er sich darum, dieses „unser“ europäisch und erst recht national zu differenzieren: meint er den Glauben, die Regierung, die Bevölkerung oder alles zusammen? Und wie verhält sich „unsere Fähigkeit“ zum Wunsch, ja zum Willen, diese Universalisierung vorzunehmen, zu gestalten, wenn in Sachsen (und den anderen neuen Ländern) drei Viertel der Bevölkerung eben nicht „gläubig“ sind? Dennoch erkennt er richtig, dass mit der Verbreitung nach außen eine Vernachlässigung nach Innen einherging:
„Der häufige Mangel an Konsequenz in der Verteidigung des Eigenen hat mancherorts dazu geführt, dass das Monopol der Staatsgewalt gefährdet ist. Eine wehrhafte Gesetzgebung und ihre konsequente Umsetzung sind kein Mangel an Liberalität, sondern die Voraussetzung ihrer Bewahrung. Selbstverständlich muss auch das Asylrecht Grenzen haben. Es steht – so Rupert Scholz – nicht über anderen Verfassungsnormen, sondern funktioniert nur im Rahmen der verfassungsmässigen Ordnung, vor allem der Rechts- und Sozialstaatlichkeit.“
Was nun? „Selbstbehauptung braucht Selbstbegrenzung“ meint Theisen, denn die „Grundelemente jeder Staatlichkeit – Staatsgebiet und Staatsvolk – werden nicht (wie von vielen erhofft) in einem interkulturellen Regenbogen aufgehoben, sondern von einer Verstrickung der Kulturen infrage gestellt.“ Der Schluss liegt nahe: der Westen muss seine Universalitätsansprüche zurücknehmen, was letztlich auch bedeutet, anderen ihr individuelles Welt- und Menschenbild zuzubilligen und nicht das eigene (gutmenschliche) zum Maß aller Dinge zu erheben.
Mit mehrwöchiger Verspätung ist das Problem dann in der Publizistik angekommen: es rückte realpolitisch erstmals wirklich ins Bewusstsein Vieler, als die grüne Vizeregierungschefin Schwedens vor laufender Kamera in Tränen ausbrach, da sie Ende November den Paradigmenwechsel der schwedischen Flüchtlingspolitik im Sinne verschärfter Asylgesetze verkünden musste. Åsa Romson hatte sich noch im Sommer so sehr für Flüchtlinge eingesetzt, dass sie die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer gar mit Auschwitz verglich. Menschen ertrinken zu lassen sei nach ihrer Logik also faschistische Vernichtungspolitik – die sie jetzt Monate später selbst vertreten müsse? Dass hier entweder der Vergleich oder die Politik falsch ist, liegt auf der Hand.
Die Causa Romson führte in Deutschland nun allerdings nicht zu einer Richtungsänderung des Diskurses und vor allem der Politik hin zum richtiger- und logischerweise eingeforderten begrenzenden Pragmatismus, sondern dem Gegenteil: einer Bekräftigung jener christlichen Kaninchenhaltung, sich der Schlange freiwillig an die Giftzähne zu schmeißen. Da wird nämlich Merkels Rede auf dem Karlsruher Parteitag nicht nur als größte gefeiert, die sie je gehalten habe, sondern ihre Haltung gewürdigt, die auf dem christlichen Menschenbild basiere: „Das ist das Fundament der Partei. Die Menschen sind froh, wenn das ausgesprochen wird.“ Merkel führte Politik also wieder auf Moral und Glaube zurück, in dem sie das Wort vom „humanitären Imperativ“ in den Mund nahm: „Eine Partei, die im C ihre Grundlage findet. In der Würde des einzelnen Menschen. Es kommen deshalb keine Menschenmassen, sondern einzelne Menschen zu uns.“
Diese gelinde gesagt schräge, für eine Volkswirtschaft gar schädliche Aussage wurde von kaum einem Medium relativiert, Werner Patzelt gehörte anfangs zu den wenigen Kritikern:
„Man kann religiös gerne einen Widerpart setzen. Aber bloß, weil jemand religiös etwas anders sieht, als es andere sehen, ändert sich nicht die Weise, wie Politik funktioniert und wieviel eine Volkswirtschaft verkraften kann. An dieser Stelle ist gerade die Union aufgefordert, eine Balance zwischen dem zu halten, was christlich-religiös wünschenswert ist, und dem, was politisch möglich ist.“
Hier wurde zwar erstmals verdeutlicht (wenn auch noch nicht ausgesprochen), dass eine verantwortungsvolle Politik sich nicht auf die bestenfalls 15 % Ankömmlinge berufen kann, die (eventuell) rasch integrierbar sind, sondern sich auf die relevante Mehrheit von mindestens 85 % konzentrieren muss, die uns eben nicht be-, sondern entreichern. Das hat gestern erst wieder die WELT thematisiert:
„Ab dem kommenden Jahr wird sich die neue Armut nach und nach auch in den offiziellen Statistiken niederschlagen, erwarten Forscher und Sozialverbände: zuerst in Form steigender Hartz-IV-Empfänger und dann in einem wachsenden Anteil der unteren Einkommensschicht. „Die Armutsgefährdungsschwelle liegt in Deutschland bei knapp 1000 Euro im Monat. Der Großteil der Flüchtlinge wird voraussichtlich noch jahrelang ein niedrigeres Einkommen haben“, sagt der Politologe Klaus Schroeder von der Freien Universität Berlin voraus. „Die Armutsgefährdungsquote wird deshalb in den kommenden Jahren zwangsläufig spürbar ansteigen.“
Dennoch wurden mehrheitlich die hinter den Worten der Kanzlerin stehende Haltung gelobt und die Kritiker diffamiert: „Im sächsischen Schkeuditz schlug ihr erst Unverständnis und dann Wut entgegen, als sie an die christliche Nächstenliebe appellierte. … Die Remissionierung des deutschen Ostens ist eine Operation, die Jahrzehnte in Anspruch nehmen würde.“ Remissionierung? Ist nur ein gläubiger Christ ein guter Staatsbürger? Pseudoreligiöse Diffamierung trifft es wohl eher.
Aber entlang dieser beiden Raster „Religion vs. Politik“ sowie „religiöser Westen vs. atheistischer Osten“ verlaufen genau jene Scheidelinien, die als Grenzen zu akzeptieren nur die wenigsten bereit sind. Immerhin hat Heiner Rank konstatiert, dass das Recht gebrochen wird, um den Traum grenzenloser Solidarität zu verwirklichen, obwohl Grenzen für eine offene Gesellschaft unverzichtbar sind – man kann nun mal nicht alle lieben. Und weiter:
„Geldpolitik wie Migrationspolitik unterliegen der Illusion der Grenzenlosigkeit. Mario Draghis „Whatever it takes“, sein unbegrenztes Schutzversprechen für den Euro, ist das monetaristische Pendant der Migrationsökonomik: einer vermeintlich unbegrenzten Aufnahmekapazität Europas für die Fremden ohne Obergrenze. Uneingeschränkt kann immer nur die Hilfsbereitschaft sein, nicht aber die tatsächliche Hilfe.“
Denn in einer Welt ohne Grenzen kann man den Gültigkeitsbereich verschiedener Rechtsnormen nicht mehr definieren. Schon in Parallelwelten wie in Gelsenkirchen steht die kaputtgesparte Polizei machtlos bestens organisierten Familienclans gegenüber, hier gilt bereits das Recht des Stärkeren. Härtere, potentiell Gewalt legitimierende „Rechtsnormen“ sind in direkter Konkurrenz kurzfristig anderen nun mal überlegen. Die moralischste und höchste Zivilisation nutzt nichts, wenn wir steinzeitlichen Vorstellungen nicht adäquat entgegentreten wollen und können, so dass es uns ergehen wird wie den Römern. Wenn ein absolut gesetzter Wille nach äußerem Frieden zum Verlust des inneren Friedens führt, muss man Prioritäten setzen. Ist diese Priorität nicht der innere Friede, stirbt der Staat und wird von anderen einverleibt. Das zuzugeben ist offenbar eine Hürde, die westsozialisierte Mitbürger nicht überspringen können – ob noch nicht, sei dahingestellt. Rank ist kurz vor dem Sprung:
„Europa wird nicht mehr durch das Recht integriert, – sondern durch den Rechtsbruch, falls man dies noch Integration nennen darf und nicht besser als Zeichen des Zerfalls deuten muss. Die Krise Europas resultiert nicht aus überzogener, sondern aus unzureichender Rechtstreue. Wer dies beklagt, wird entweder als Legalist verspottet oder, schlimmer noch, mit Achselzucken übergangen.“
Entsprechend deutlich verweist er auf den illusionären Charakter, der jedem Glauben eignet:
„Die Utopie der vollkommenen Entgrenzung ist die große Illusion des herrschenden Universalismus. Von Schillers Ode an die Freude (‚Seid umschlungen, Millionen‘) führt ein direkter Weg in die Eine-Welt-Läden Westdeutschlands. „Alle Menschen werden Brüder“ mag gut gedichtet sein, aber es ist schlecht praktiziert. Inzwischen beginnt die Erste Welt, sich vor den Folgen ihres Universalismus zu fürchten. Der menschenrechtliche Moralismus scheitert am ökonomischen Gesetz der Knappheit.“
Fürchten ist wiederum eine abgeschwächte Form von ängstigen – und trotz der jüngst konstatierten Wiederkehr der „German Angst“ ist genau diese Emotion das Letzte, womit die politmediale Kaste umgehen will. Deutlich wird das an den Grenzen, die jenen gesetzt werden, von denen man die Übertretung einkalkuliert und sie sofort auf eine nie in Betracht gezogene Perspektive verengt, bspw. die eines „kulturalistischen Rassismus“. Eine Keule, die jetzt sogar Patzelt hervorholt, weil er seine Weltprinzipien offenbar nicht relativieren will und/oder kann und sein schon bei Merkel zu beobachtender Grundsatz „Einzelner vor Allgemeinheit“ eben jede Grenzziehung verhindert. Aber das ist hanebüchen, denn darum geht es nicht. Es geht darum, was Beatrix von Storch in einem Interview exzellent so formulierte:
„Nächstenliebe ist ein christliches Gebot. Aber das ist ein Appell an die einzelne Person. Frau Merkel und jeder, der sich dazu berufen fühlt, kann und darf gerne so viel helfen, wie er mag. Aber es kann nicht sein, dass eine Regierung und eine Kanzlerin einer ganzen Nation Nächstenliebe aufzwingen wollen. Christliche Nächstenliebe geht nicht auf Befehl.
Eine Bundesregierung kann also nicht christlich handeln?
Storch: Eine Bundesregierung kann nicht von jedem Individuum im Staat Nächstenliebe einklagen. Genau wie Liebe lässt sich das nicht erzwingen. Es muss von den Menschen kommen und es soll von den Menschen kommen.“
Was uns hier unter christlichem Deckmantel befohlen wird, ist letztlich dieselbe „Solidarität“, die unter weltanschaulichem Deckmantel bereits die DDR auszeichnete: damals allerdings richtete sie sich nur an einzelne Länder (Vietnam, Nicaragua usw.), heute dagegen soll sie die ganze Welt umfassen – zu dem Preis, dass sich Fremdenfreundlichkeit in Bürgerfeindlichkeit kehrt. Und das ist eine Linie, die nur zum Preis der Selbstaufgabe überschritten werden kann, aber: „Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung“ erklärte Sloterdijk.
Daher muss man die Frage, die Beatrix von Storch noch nicht eindeutig beantworten wollte, unmissverständlich bejahen: eine Bundesregierung hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, unchristlich zu handeln, wenn es das Interesse eines Volkes bedarf, das sich unchristlichen Eindringlingen gegenübersieht, gegen die weder legislative noch judikative Mittel eingesetzt werden, da die Exekutive in selbstverschuldeter Agonie treibt. Selbstliebe statt Nächstenliebe (vgl. 3. Buch Mose) und Freundesliebe statt Feindesliebe (vgl. Bergpredigt; Mt 5–7) heißen die spirituellen Gebote der Stunde. Ja sogar die eigene zweite Wange nicht hinzuhalten, sondern die erste des anderen anzugehen sollten dann kein Tabu mehr sein dürfen. Und eben diese Selbstbehauptung zu leben, die ihnen abgesprochen, dieses Recht auf Selbstverteidigung zu beanspruchen, das ihnen verweigert wird – dafür schließen sich mehr und mehr Menschen in Bürgerbewegungen zusammen, um meistens wöchentlich ihre Stimme zu erheben.
Edit 11.01.2016: Erst jetzt bin ich auf das Weihnachtsinterview aufmerksam geworden, dass der tschechische Kardinal Dominik Duka der slowakischen Tageszeitung „Dennik N“ gab. Darin heißt es – und mehr muss man dazu auch nicht sagen -:
„Mitgefühl und Emotion ohne vernünftiges Verhalten führen in die Hölle“, sagte Duka in dem Interview. In dieser „Flüchtlingswelle ohne jede Kontrolle, in der die dazu verpflichteten Staaten völlig versagt“ hätten, müsse sorgfältig geprüft werden, „wer tatsächlich hilfsbedürftig und im Leben bedroht ist oder wer auch eine bestimmte andere Mission erfüllt“, so der böhmische Primas, der wie Kardinal Schönborn dem Dominikanerorden angehört. Die Flüchtlingswelle bediene bekanntermaßen „auch bestimmte Pläne und Programme der Dschihadisten“.