Polen als analoges Land
20. März 2016 von Thomas Hartung
Mein Resümee zu meinem Kurztrip nach Breslau, das ich seit 12 Jahren mal wieder besuchte und wo ich das Angenehme sowohl mit dem Nützlichen als auch dem Politischen verband:
– es wird gefühlt doppelt so viel gebaut wie in Dresden. Dabei setzt die Stadt konsequent auf Tunnellösungen für Fußgänger/Radfahrer an großen Kreuzungen (was Dresden vor Jahrzehnten auch mal machte). Verkehrssicherheit und Verkehrsentlastung sind spürbar.
– die Anzugsordnung für Frauen bis 30 lautet: schwarze Strumpfhosen/Leggings, darüber einen schwarzen/pinken/roten/violetten Minirock. Diese Anzugsordnung gilt im öffentlichen Verkehr unabhängig von Alter und Beruf der Trägerin (als Staatsbahn-Angestellte ebenso wie als Studentin) und erst recht unabhängig vom Aussehen der Frau und/oder ihrer Beine, was ebenso ergötzliche wie schockierende Anblicke nach sich zieht.
– Polizei und Sicherheitskräfte sind präsent; in jeder Etage eines Einkaufszentrums („Galeria“) streift mindestens ein Wachmann. Andersfarbige Ausländer sind außer an den Hochschulen nicht wahrnehmbar. Es ist schizophren, dass ich mich in einem fremden Land sicherer fühle als im eignen.
– der gegrillte Karpaten-Quietschkäse schmeckt immer noch genial, ebenso wie Pirogen, Rote-Beete-Suppe und Krautwickel.
– An der Uni gibt es in jedem (!) Gebäude neben dem obligaten Pförtner eine kostenlose Garderobe mit Garderobenfrau! Die barocke Aula Leopoldina, erst recht die altehrwürdigen Seminarräume (teilw. 1638) lassen genau jenen Geist der „Sieben Freien Künste“ atmen, die viele heutige „Professoren“ gar nicht mehr kennen. Und die Germanistik hat dort mehr mit Linguistik zu tun als viele pseudolinguistischen Subjektivisten, die von ihrer Forschungsfacette zu keiner Gesamtschau mehr gelangen.
– Die „Galerianki“, die ich zu den Cottbusser „Tagen des Osteuropäischen Films“ in einem traurig-schockierenden Streifen vor Jahren kennen lernte, gibts es noch immer. Das sind teilweise minderjährige Mädchen, die sich von (älteren) Männern zum Shopping einladen lassen und dafür dann mit Sex bezahlen. Liebe als Ware, während die wahre Liebe verliert und selbstverschuldet stirbt – das Szenario ist nachvollziehbar. Dabei erscheinen sächsische Galerien wie der „Elbepark“ als Baby, die Breslauer „Galerie Dominikańska“ als KiTa-Kind und die Berliner „Alexa“ als Teenager gegenüber den Galerien bspw. in Dubai. Dabei schockierte mich anfangs und ärgerte mich später, dass diese Einkaufszentren bis auf den Namen der Supermärkte sich kaum bis gar nicht von deutschen unterscheiden: von Mister Minute über C&A bis Saturn ist alles zu finden, was ich sowieso schon kenne. Das empfinde ich als beleidigend, gleichmacherisch, seelenlos. Welch ein Glück, daneben noch kleine Piekarnias oder Kioske zu finden, in denen man ohne Ärger sich individuell bedient und als Person und nicht als Kunde ernstgenommen fühlen kann.
– die Stadt ist nicht nur sehr sauber, sie ist auch jung, und die Menschen sind dabei werthaltiger.
+ Studenten kommen in den Zug, grüßen und fragen, ob sie sich setzen dürfen. Und dann holen sie tatsächlich Schnellhefter mit handschriftlichen Aufzeichnungen heraus und fragen sich ab.
+ Es gibt viel Grün und viele Spiel/Sportplätze. Viele Kinder darauf, die bolzen, sich balgen, Roller fahren, schaukeln, Basketball probieren… und nicht eins hat ein Handy in der Hand (es scheint mir eine internationale Regel zu sein, dass einsetzende Pubertät und Handynutzung hoch korrelieren, zumal bei Mädchen).
– der Bürokratieauswuchs ist in Polen immer noch spürbar: für die „grenzüberschreitende“ Fahrt zwischen Görlitz und Zgorzelec wird eine Null-Cent-Fahrkarte mit Kontrollabschnitt verteilt – als „Spezialangebot“.
– Das heutige Niederschlesische Woiwodschaftsamt befindet sich im von Feliks Bräuler entworfenen, 1945 provisorisch eingeweihten Gebäude von Gauleiter Karl Hanke – man stelle sich diese „Geschichtsvergessenheit“ sächsisch vor… Überhaupt: Geschichte – die ist sehr präsent, nicht nur die deutsche, auch die von Solidarnosc und dem bürgerlichen Widerstand. Der Gründer der Kukis-Partei (der sogar eine eigene Zeitung herausgibt) hält in seiner Kneipe (www.konspira.org/) dieses Andenken hoch.
– Neben Apotheken finden sich auffallend häufig Bestattungsinsitute… (überdies mit so klangvollen Namen wie „Gloria“).
– Sowohl das sächsich-schlesische Verbindungsbüro als auch die deutsche evangelische Gemeinde mit einem sehr royalistischen Pastor 😉 berichten von Wanderungsbewegungen privater UND unternehmerischer Art aus Sachsen hin nach Schlesien. Eine der Begründungen ist die Sicherheitslage.
– Der Bahnhofsgong vor den Ansagen bescherte mir ein Dejavu: es war der „Sanostol“-Dreiklang.
– die Polinnen sind wunderschöne Frauen, die ihre Augen oft und wetterunabhängig hinter pseudostylischen Sonnenbrillen verbergen.
– Polen lebt in wesentlichen Teilen analog. Zwar sieht es auf den Dörfern entlang der Bahnstrecke teilweise so aus wie in der DDR 1988. Aber man hat das Gefühl, wieder im ständigen Improvisationsmodus zu sein, der ebenso herausfordert wie Lust auf ein Ankommen in einer besseren Zukunft weckt. In Deutschland empfinde ich das Gegenteil: ein unperfektes Angekommensein, von dem aus es nur noch abwärts geht.
Eine wohltat wie sie über mein Geburtsland schreiben. Nicht die üblichen Phrasen und Beleidigungen. Schön wäre es wenn sie sich klar zur deutsch-polnischen Grenze äußern könnten. Es würde mir helfen.
Danke