Staatskunst als Indiz für Staatsversagen?
18. Juli 2017 von Thomas Hartung
„Wenn ein Gras wächst, wo nah ein Haus steht,
und vom Schornstein steigt der Rauch,
soll’n die Leute beieinander sitzen,
vor sich Brot und Ruhe auch,
und Ruhe auch.
Das ist der einfache Frieden,
den schätze nicht gering.
Es ist um den einfachen Frieden
seit Tausenden von Jahren
ein beschwerlich Ding.“ (Gisela Steineckert, 1980)
Es war für mich die Metapher der 14. Documenta: die vom Fridericianum wabernden Qualmwolken, das Kunstwerk „Expiration Movement“, das der 1968 in Bukarest geborene Künstlers Daniel Knorr eigens für Kassel entworfen hat. Fünf Rauchmaschinen „Fogmaster“ laufen, die sonst von der Feuerwehr zu Übungszwecken verwendet und auch beim Militär eingesetzt werden, wenn etwa bei Lufteinsätzen ein Kraftwerk unter Rauch verschwinden soll. Apropos Militär: selbst das fiktive Parlament im Foyer war in Tarnfarben gehalten – ein Schelm, der Arges dabei denkt…
Fogmaster? Fog? Nein, es ist bestenfalls tertiär der „Nebel des Grauens“, den man damit verbinden könnte (und den ich manchmal verband!). Der Macher intendiert laut SüZ Physiologisches: den Zustand des Ausatmens. „Jetzt wird nicht mehr inhaliert, jetzt lassen wir los“, erklärt er, und weiter „Natürlich liegt auch die Assoziation zu einer Papst-Wahl nahe, aber eher noch der Gedanke an die Enklave in Rotenburg – ganz in der Nähe – wo nach dem Krieg die Währungsreform verhandelt wurde.“
Daneben spielten Betrachterperspektive, Windrichtung und Wetter eine interpretative Rolle, da sich je nach Lage andere Assoziationen eröffneten: „Manchmal wird das Fridericianum von Weitem vielleicht aussehen wie ein industrieller Bau, eine Fabrik. Das ist ja auch passend, die Documenta ist ein Ort der Kunstindustrie. Natürlich erinnert der Rauch auch an Vorgänge wie die Bücherverbrennung der NS-Zeit – in Kassel wurde die Reichskristallnacht geprobt, da liegt es nicht fern, daran zu denken. Auch die Krematorien der Vernichtungs- und Konzentrationslager waren nicht weit entfernt.“
Da war es heraus.
Nix mit Frieden, schon gar nicht einfach, erst recht nix mit Brot und Ruhe während des Beieinandersitzens. Das Gegenteil war gewollt, ist gewollt, und soll auch weiter gewollt sein. „Wir hoffen, dass die Documenta 14 einer von vielen Schritten sein wird auf dem Weg in eine Welt, in die wir leben wollen“, schreibt der Kurator Adam Szymczyk über die in Athen und Kassel stattfindende Schau. Diese Kunsterfahrung solle „der Versuch einer ganz neuen Existenzweise“ werden. Cathrin Lorch meint prompt eine sanfte Utopie zu erkennen, einen exterritorialen Ort, „an dem die Künste und die Künstler miteinander arbeiten, ausstellen und feiern“ und an dem „weder Kunststile noch Gattungen von Belang“ seien.
Das sehe ich nun komplett anders: es ist allein die gutmenschliche Aussage, die zählt – „richtige“ Inhalte statt stimmige Formen. Und diese Aussage, die nicht herausfordert, sondern einengt, schreckt selbst vor der Feuer-Metapher nicht zurück, die ich übersetze als „Krieg“ – und damit die Aussage des wunderschönen Steineckert-Gedichts ins Gegenteil kehrt; wie heute so vieles, was vor 1989 galt. Ein gewaltsamer, durchaus unartifizieller Prozess, vor dem viele flüchten – und der genau darum auch die Fluchtorte heimsucht. Der Rauch – ein Menetekel. Krieg, Flucht/Vertreibung, Nichtankunft/Unbehaustheit, und auch Ungewolltsein – viele Objekte haben leider mit Propaganda zu tun, mit Slogans, mit griffigen Motiven von Karikaturisten als mit Kunst, die ihr Gewicht und ihre Bedeutung eigentlich daraus schöpfen sollte, dass sie frei ist.
Schlimmstes Beispiel: der Film „77sqm_9:26min“, der die „Gegen-Ermittlungen“ der Londoner Künstlergruppe „Forensic Architecture“ zusammenfasst, die sich, elf Jahre nach dem NSU-Mord an Halit Yozgat, noch einmal mit dem Fall beschäftigten. Künstler, Architekten, Filmemacher, Kulissenbauer und Performer rekonstruierten minutiös den Tatort, das Internet-Cafe in der Holländischen Straße 82 in Kassel, anhand von geleakten Akten und einem Polizei-Video. Es geht um die Antwort auf die Frage, ob Andreas Temme, ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, entgegen seiner Aussagen nicht doch Zeuge des Verbrechens war. „Es gibt Fakten in einer Ära des Post-Truth“, wird Eyal Weizman von „Forensic Architecture“ zitiert, „und wenn die Polizei und der Staat nicht auf drängende Fragen antworten, ist es Zeit für uns, die Ermittlungen zu übernehmen, mit dem Werkzeug der zeitgenössischen Kultur“.
Vordergründig manipulativ sind auch die Objekte der folgenden Aufzählung, die auf Künstler und Werkstitel verzichtet, da sie mir nebensächlich erscheinen. Eine 53teilige Fotoserie zu Nordhessen etwa wird im Begleittext mit den Worten präsentiert „Heimat ist ein angeeigneter Raum. Sie existiert objektiv nicht in der Wirklichkeit. Wir schaffen uns die Vorstellung einer Heimat aus dem Bedürfnis heraus, irgendwo dazuzugehören. Heimat ist dort, wo die meisten Menschen nie gewesen sind und nie ankommen werden. Ausgenommen dieser Platz unter einem Haufen Erde…“
Oder die Installation „Amereida Phalène Latin South América“ der „Ciudad Abierta“ (Offene Stadt), eine sich als Kommune, pädagogisches Experiment und praxisnahes Architekturlabor in einem verstehende Gruppe umherziehender Künstler und Dichter aus Chile. In der Karlsaue angepriesen als humaner Begegnungsort mittels einer improvisierten, umweltverträglichen Form des Bauens aus Naturmaterialien (Holz und Stoff), ließ er mich aber vor Beklemmung frösteln. Die Hölzer eckig, Zacken, Begrenzungen und Barrieren bildend, der Stoffbaldachin so niedrig, dass er bedrückend wirkte… wer sich hier trifft, ist alles andere als entspannt.
Oder die Installation verschiedener und verschieden geschichteter Stacheldrahte neben den Torsi angedeuteter Flüchtlinge; in der Etage darüber ein hermetisch verschlossenes Flüchtlingszelt: was ist wohl darin, was ist wohl fernzuhalten… Ganz zu schweigen von pauschalen Schuldzuschreibungen wie etwa den weißen Menschen, mit denen Gott eigentlich nur „sorry“ sagen wolle…
In der SüZ durfte sich Kia Vahland mäßig aufregen:
„Die Documenta interessiert sich herzlich wenig für Gegenargumente, nicht einmal zu dem Zweck, sie zu widerlegen… Man kann auch durch Nichtinformation manipulieren. Wer alle Autoritäten abschafft, inszeniert sich selbst als letzte Instanz. Die Documenta in Kassel erreicht diesen Effekt mit gezielter Einseitigkeit in der Präsentation. Frühere Ausgaben verstanden unter politischer Kunst die Dokumentation des Weltzustandes, man erfuhr viel über Hafenarbeiter in Südafrika oder die Wohnungsnot von Hurrikanopfern. Sie zeigten, was in der Aufmerksamkeitsökonomie der Massenmedien öfter mal zu kurz kommt, subjektive Berichte vom Leben der anderen. Anteilnahme aber genügt den Kuratoren diesmal nicht, jetzt geht es um Parteinahme.“
Dem ist wenig hinzuzufügen. Kaum ein Objekt, das mich ad hoc ästhetisch ansprach. Kaum eine Fotografie, die durch Komposition, Licht oder Tiefenschärfe begeisterte. Kaum ein Bild, das durch Idee, Farbe oder Technik betörte. Statt dessen Plakativität, Simplizität – und, noch gar nicht erwähnt, Gigantismus, der manchmal monumental, manchmal monströs wirkt. So steht auf dem Platz vor dem Fridericianum das größte Kunstwerk der Gegenwart: die Argentinierin Marta Minujin hat dort mit tätiger Mithilfe vieler Kasseler einen „Parthenon of Books“, einen Akropolis-Tempel aus Büchern aufgeschichtet. Das Besondere: nur Bücher, die irgendwo auf der Welt zensiert waren, durften verbaut werden. Darunter waren Texte aus der ehemaligen Sowjetunionm aber auch Mickey Mouse (in der DDR verboten) – und natürlich die Werke, die bei den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten ins Feuer geworfen wurden.
Der Treck von vier Reitern, die der schottische Konzeptkünstler Ross Birrell am Tag der Vernissage in Athen in Richtung Kassel aufbrechen ließ, könnte nicht nur eine der längsten Wanderungen der „Land Art“ werden, sondern auch auf andere Trecks verweisen. Und mindestens an zwei Stellen in der Stadt wispern die Lautsprecher mit Pope L.s Installation, die 9438 Stunden lang Textfetzen zu „Nation, Volk, Stimmung, Sprache, Zeit“ aus anonymen Stimmen in die Ohren der Kunstinteressenten bläst. „Toleranz ist eine Tugend“ bekomme ich von einer Altstimme in minutenlanger Schleife penetriert. Auch Olu Oguibes „Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument“, ein Obelisk aus Beton, 16 Meter hoch, nimmt den Holzhammer. Am Sockel ist das Bibel-Zitat „Ich war ein Fremdling und Ihr habt mich beherbergt“ aus dem Matthäus-Evangelium in vier Sprachen zu lesen, darunter ist auch Arabisch.
Was bleibt? Die Hoffnung auf die nächste Dokumenta – ohne Ideologie (jede DDR-Kunstausstellung war unpolitischer), ohne Migrationsvordergrund (Staatskunst ist für mich immer ein Zeichen von Staatsversagen) und: ohne Daniel Knorr, der Pistolen und Ausweise mit einer Fünfzig-Tonnen-Presse in Bücher presst, die in Athen und Kassel verkauft werden und von deren Erlösen er den Rauch bezahlen kann. Hoch lebe der Kapitalismus, hoch lebe die Kunst, hoch lebe… jeder, der sich sein persönliches Denkmal errichtet, um wenigstens der Lebenskunst zu frönen.