Offener Brief an Jana Hensel
26. September 2017 von Thomas Hartung
ich habe Sie noch nie gesehen. Auch war ich nicht auf dem Marktplatz von Finsterwalde. Aber ich habe Ihren „Offenen Brief“ an die Kanzlerin gelesen. Darin fordern Sie sie unter anderem auf, „mit den Pöblern, den Störern, den vielen Männern“ zu reden, sich „von den Rassisten der AfD, von ihren menschenverachtenden Parolen und Forderungen“ zu distanzieren und „denen“ zu sagen, „was es heißt, Deutscher zu sein.“ Aber damit nicht genug – in einem Interview mit dem DLF legten Sie noch mal nach und bezeichneten AfD-Anhänger als „ehemalige NPD-Anhänger. Für die ist Angela Merkel eine Hassfigur.“ So muss auch Diederich Heßling empfunden haben, wenn die verhassten, aber nützlichen Sozialdemokraten eine Rede seines Kaisers zu stören wagten. Das hätte ein FDJ-Wandzeitungsredakteur an der EOS nicht besser hinbekommen.
Schrieben Sie nun einen redaktionellen Beitrag im Auftrag der CDU-PR-Abteilung? Einen Bewerbungstext als Nachfolgerin von Steffen Seibert? Eine Leseprobe aus Ihrem nächsten Roman, Arbeitstitel „Die Kindertränen von Finsterwalde“? Ich habe diesen Brief mehrfach gelesen, ja lesen müssen, und meine Gefühle waren jedes Mal andere: Staunen, Wut, Bestürzung… ein Potpourri, das mich zu einer ebenso offenen Antwort förmlich herausforderte, denn: ich bin erstens ein Mann und zweitens in der AfD – jener Partei, der Sie noch am 26. April in fünf politischen Punkten Recht gaben. Ich ließ mir für die Antwort bewusst Zeit – nicht nur, um nicht zu emotional zu retournieren, sondern auch, um mit unserem Wahlergebnis meine Argumentation abzurunden.
Habe ich wirklich den Text einer Autorin gelesen, die wie ich aus dem „falschen Land“ kommt, wie Sie eine Ihrer Figuren sagen ließen; die gerade mal 14 Jahre jünger ist als ich und dasselbe Fach studierte, in dem ich promovierte: Literaturwissenschaft? Die mich, ein ehemaliges LDPD-Mitglied, kurzerhand in die NPD schickt? Die eigentlich wissen muss, wo sie lebt und mit wem; die in verschiedenen Texten und Interviews die „Zone“ reflektierte, in „Zonenkinder“ die Mechanismen der DDR-Propaganda akribisch sezierte, die dafür plädierte, dass „wir Ostdeutschen anders bleiben“ sollten, die… nun ganz hin und weg von „Mutti“ ist?
Fehlte nur noch, dass diese sprachliche Liebedienerei mit der Grußformel „Untertänigst, Ihre Jana Hensel“ geendet hätte. Haben Sie sich die 1819 Kommentare unter Ihrem Brief angesehen? Ich habe es getan. Haben Sie sich die Kommentare unter ihren sonstigen Äußerungen in diesem Jahr angesehen? Auch das habe ich getan. Haben Sie sich eigentlich irgendetwas gedacht bei diesem Text; was muss geschehen sein, dass Sie so viel Realitätsverleugnung publizieren wollten?
Die Fabula beginnt damit, dass Sie mit ihrem Sohn von Berlin in die Niederlausitz zu Merkels Wahlkampfauftritt gefahren sind, „nicht nur, aber auch, weil er Sie sehen wollte. Für Martin Schulz wäre er nicht so weit gefahren.“ Auf die Idee muss man erstmal kommen: als Berlinerin mit einem Neunjährigen nach Finsterwalde zum Wahlkampf zu fahren. Als Beginn einer Satire hätte ich das gut gefunden. Alleine die Autofahrt muss man sich leisten können, bei vielen reicht heute das Geld dazu schon nicht mehr.
Überhaupt: ihr Sohn, der den Text rahmt. Dass Sie nicht wissen, „ob man von einem neunjährigen Kind schon sagen kann, dass er ein Fan ist“, lasse ich ebenso unkommentiert wie die eindeutige „schwarze“ Parteinahme wider den roten Buchhändler. Aber dass er „auf seine kindliche Art stets gut von“ Merkel spräche, während er „von Donald Trump nicht“ so rede, ist eine hanebüchene Aussage. Klar, ich hatte als 9-jähriger auch ganz profunde Vorstellungen von Ulbricht und Breshnew und Nixon und habe mit meinen Eltern ständig über sie gesprochen. Da mussten die Mathearbeit, das Atze-Heft oder das Fahrradfahren schon mal hinten anstehen. Mal im Ernst: ist das Ihr Ernst? Es bedurfte nicht dieser stilistischen Figuration, um pseudoliterarisch die kindliche Unschuld als Kontrast zum vermeintlich schuldigen Pöbel zu setzen, dem die gepeinigte Kanzlerin ausgesetzt ist. Aber ich gehöre auch nicht gerade zu der Zielgruppe, die in Politikern Mütterlichkeit, Güte und Gnade sucht.
Absurd wird es dann zum Ende des Textes: „…ich spürte sein Unwohlsein und wohl auch etwas wie Angst.“ Sie meinen, die zarte Kinderseele nähme durch dieses Erlebnis Schaden? Selbst Rosamunde Pilcher war nicht so kitschig und auch nicht so extrem in ihren Übertreibungen. Wie haben es meine Eltern und ihre Generation geschafft, aufgewachsen in den Nachkriegsjahren, nicht zum Soziopathen zu werden, zum Borderliner, zum AHDS-Junkie, und was man da noch so alles in schwieriger Kindheit erleben darf? Heute kümmert sich Sachsen darum, dass jede Schule einen Sozialarbeiter hat – früher brauchte man diese Art Geldverbrennung nicht. Politiker sind übrigens dem Volke verpflichtet und nicht umgekehrt. Wenn es der so „verletzlich“ wirkenden Frau auf der Bühne zu viel gewesen wäre, kann sie gerne zurücktreten und sich dann sozialpädagogisch betreuen lassen. Schule des Lebens halt. In Deutschland wird niemand gezwungen, Kanzlerin zu werden.
Vielleicht wäre Ihr Sohn von diesem Pfeifkonzert nicht so verängstigt, hätten Sie ihm auf der langen Autofahrt erklärt, dass Merkel vor Menschen sprechen wird, deren Anliegen sie seit Jahren ignoriert, Menschen, denen als Rassismus ausgelegt wird, wenn sie sich mit der deutschen Fahne in der Hand gegen ungezügelte Zuwanderung wehren, Menschen, die nicht mehr wollen, dass in unserem Land im Namen einer Religion unsere Mitbürger umgebracht werden. Hätten Sie ihn darüber aufgeklärt, dass diese Frau in nur einem Jahr eine Million Menschen ins Land gelassen hat, die einer Religion angehören, die Frauen und Nichtmuslime unterdrückt, Demokratie ablehnt sowie Religions-, Meinungs- und künstlerische Freiheit unterdrückt. All das hätten Sie tun können, aber taten es nicht.
„Auf der Autobahn rollte er sich in seinem Sitz zusammen und sagte zu mir, wie schön er es fand, Sie einmal mit eigenen Augen gesehen zu haben. Dann schlief er ein.“ Ich stelle mir gerade vor, wie Loriot diesen Text gelesen hätte… Abgesehen von der fötalen Haltung und davon, dass es zu meiner Zeit dafür das Sandmännchen gab (die Metapher des Sandstreuens beute ich hier nicht aus), liest sich das wie eine Ode auf die Erscheinung der Jungfrau Maria, die ob der politischen Profanitäten nur noch keine Möglichkeit hatte, in einer Wolke gen Himmel zu fahren. Kein Wunder, dass sie trotz aller Abwesenheit vorzeigbarer Erfolge bei solch hingebungsvoller Anbetung, ja Vergötterung doch wieder amtieren darf. Aber immerhin: Merkel ist die erste Bundeskanzlerin, die ins Amt gebuht und gepfiffen wurde! Andererseits passt dieses Ende zu dem distanzlosen, gefühligen Duktus, der mich an ein kleines Mädchen erinnert, das einer Prominenten einen Strauß Blumen überreicht und dazu ein Gedicht aufsagt.
***
Viele Kommentare zu ihrem Text sind notabene auch in der fiktiven Form eines Briefs und/oder jener Rede gehalten, die Sie einforderten, und ranken sich im Wesentlichen um drei Problemkreise: soziale Marktwirtschaft vs. Kapitalismus, Ostalgie vs. Demokratie und Politik vs. Kritik. „Liebe Ostdeutsche, dass viele von Euch nur den Mindestlohn zum Leben haben und sich auf einen Lebensabend in Armut einrichten müssen, ist mir völlig wumpe“, beginnt ein User etwa seinen sarkastischen Redeentwurf. „Dafür habt Ihr jetzt ja schöne Innenstädte. Und meinen neoliberalen Umbau der Gesellschaft hin zu einer marktkonformen Demokratie halten weder Ochs noch Esel auf. Warum ich das mache, weiß ich eigentlich selbst nicht so genau. Ich bin halt einfach nur gerne Kanzlerin…“ Und setzt als Pointe: „Sie muss das den Leuten gar nicht mehr sagen. Die wissen das schon.“ Da fällt mir sogleich ein literarischer Vorschlag in Form von Ringelnatz‘ Gedicht „An die Masse“ ein, das Sie hier hätten zitieren können:
„Ich halte zu euch, aber liebe euch nicht, Weil ihr das niemals versteht. Und ich liebe – ich liebe – ich liebe euch doch, Weil ihr solcher Liebe entgeht. Wenn ihr einmal Gelegenheit habt, Laut zu brüllen gegen Mauern, Dann schweige ich. Ich bin mehr begabt Als ihr. Und kann dann nur trauern.“ (1929)Auf die Idee, dass die „schönen Innenstädte“ vielleicht die einzigen blühenden Landschaften inmitten einer Wüste vergilbter Hoffnungen und vertrockneter Träume sind, kamen Sie offenbar noch nicht. Auch nicht, dass wir uns statt um marktkonforme Demokratie vielleicht besser um demokratiekonforme Märkte kümmern sollten. Und erst recht nicht, dass die Lebensbedingungen vieler Menschen im Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten – Stichworte Löhne, Miete, Rente… – vor 1990 besser waren als jetzt.
Einen bitteren Brief genau diesen Inhalts – ebenfalls an Angela Merkel – schrieb Anfang des Jahres eine 45jährige, völlig desillusionierte Ostdeutsche namens Heidi Langer (Sie finden ihn leicht im Netz), in dem sie die erlangte „Freiheit“ und den Kanzler-Amtseid („dem Wohle des deutschen Volkes“) reflektiert. Darin heißt es u.a.
„Wie kann man ‚den Nutzen eines Volkes mehren‘, indem man zulässt, dass Armut und Elend im Land um sich greifen, Rentner, die ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet haben, ihre Renten über Hartz 4 aufstocken müssen, Kinderarmut um sich greift und gleichzeitig angeblich ein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen ist? Wie kann man ‚Schaden von einem Volk abwenden‘, indem man die Interessen der Menschen denen von großen Wirtschaftskonzernen unterordnet…?“
Und das ist beileibe keine subjektiv empfundene Wahrheit, wie etwa in der Vorwahlwoche Jacob Augstein im SPIEGEL bestätigen musste:
„Dumm ist nur, wer glaubt, sein eigenes Wohl und das Wohl der ‚Wirtschaft‘ seien identisch. Denn die Volkswirtschaft hat sich vom Volk abgekoppelt. Was gut für VW ist, ist längst nicht mehr gut für die Deutschen. Wer also sagt, dass es ‚uns‘ gut gehe, der lügt. Aber nicht nur das. Er legt auch Zeugnis seiner eigenen politischen Fantasielosigkeit ab. Denn in diesem Satz steckt immer: Besser wird’s nicht. Für viele Menschen im Land ist das keine gute Nachricht.“
In einer echten sozialen Marktwirtschaft kippen die zu kurz Gekommenen nicht hinten runter, gehen persönliche Schicksalsschläge nicht mit sozialem Absturz und Existenzverlust einher und klafft die Schere zwischen arm und reich nicht immer weiter auf. Haben Sie einmal darüber nachgedacht, wie überhaupt in einem System, das auf Konkurrenz basiert, Konsens hergestellt werden kann?
Inzwischen ist alles, was mit dem Begriff „sozial-“ verbunden war, in Bausch und Bogen diskreditiert und nach dem Motto „wenn jeder an sich selber denkt, ist an alle gedacht“ eine Kultur der Ellenbogen und ungezügelten Profit-Egomanie auf allen Ebenen etabliert worden, deren Folgen wir heute gesamteuropäisch ausbaden dürfen: privatisierte Gewinne, sozialisierte Verluste – einerlei, ob in Griechenland, der Commerzbank oder Air Berlin.
Auch Daniel Grüneke, ein 32 Jahre alter Konstruktionsmechaniker Schiffbau, Vater eines kleinen Sohnes und bei einem Dutzend Leiharbeitsfirmen tätig, schrieb vor zwei Wochen einen Offenen Wutbrief nicht nur an Merkel, sondern gleich an die ganze CDU (Sie finden auch den leicht im Netz), im dem er angesichts eines vollmundigen Wahl-O-Mat-Zitats versuchte, einen „Einblick in das Ausmaß der Demütigungen, Perspektivlosigkeit, Entrechtungen, Nötigungen, Erpressungen, Drohungen, Lohn- und Nebenkostenbetrug und den völligen Entzug der Lebensgrundlage bis hin unterhalb des Anpruches auf Arbeitslosengeld 2“ zu liefern. Ein Kernsatz lautet:
„…einen Monatslohn von maximal 1600€ netto. Zum Vergleich: Dies entspricht exakt dem ALG2-Anspruch meiner dreiköpfigen Familie. Entgegen der Werktätigkeit hätte ich im Falle der Arbeitslosigkeit jedoch 365 Tage Urlaub und jede Menge Zeit der Welt zu erklären, warum Arno Dübel Recht hatte.“
Ansgar Neuhof verallgemeinerte ebenfalls in der Vorwahlwoche:
„Deutschland, das Land mit dem niedrigsten privaten Median-Haushaltsvermögen der EU, mit der (zweit)höchsten Steuer-/Abgabenquote der OECD-Staaten, mit einem der EU-weit geringsten Rentenniveaus, mit nicht oder nur wenig über der Preissteigerung liegenden Lohnzuwächsen, mit den (zweit)höchsten Strompreisen in der EU, mit der höchsten Zunahme an Leiharbeit und Erwerbsarmut in der EU, dafür aber mit einer sich überproportional bedienenden politischen Kaste, mit der höchsten Zuwanderung in die Sozialsysteme und deutlich zunehmender Kriminalität, mit einer trotz sprudelnder Steuereinnahmen teilweise verfallenden Schul- und Verkehrsinfrastruktur und unterfinanzierter Polizei und Bundeswehr.“
Und all das soll kein Grund sein, der Kanzlerin mal richtig die Meinung zu sagen? Dieser Politik und diesem Politikstil entgegenzuwirken, ist nicht nur ein ehrenwertes, sondern auch überaus dringendes und notwendiges Unterfangen, dessen Lautheit mangels einer parlamentarischen Opposition dabei fast unausweichlich war.
***
Dann: die „Zone“. Sie schrieben einst selbst, dass in keinem anderen Land die Wirtschaft so stark zusammengebrochen war nach Währungsunion und Wiedervereinigung: sie verlor 27 Prozent gegenüber dem Wert von vor 1989. Nur in Bosnien und Herzegowina findet man ähnliche Zahlen – allerdings nach dem Jugoslawienkrieg. Sie schrieben einst selbst, dass das Nettovermögen westdeutscher Haushalte den Wert im Osten um mehr als das Doppelte übertrifft, Stichwort Wohlstandsgefälle. Und dabei wurde Ihnen doch nachgeschrieben, dass man mit einer „Bewusstseinsführung“ wie der in „Zonenkinder“ niedergelegten nirgends in einem Leben ankäme. Da sollen alle anderen also angekommen sein? Aber wo?
Ein Kommentator schrieb pauschalisierend vom „Wessi“ als „neuer Besatzungsmacht“, der alle Schaltstellen der Gesellschaft besetze: „…ihm gehören Häuser, Boden, Betriebe … er stellt die Professoren, Bürgermeister, Chefs… Und eine Menge Ostdeutscher fühlen sich inzwischen wie Gastarbeiter im eigenen Land. Hätten sie das gewusst, hätten viele wohl auf Bananen und Reisefreiheit, die sie sich eh nicht leisten können, verzichtet…“ Die Ostgebiete wurden also doch noch erobert – wenn auch anders und nicht in erhoffter Quanti- und Qualität.
Ein anderer konstatierte, dass auch 27 Jahr nach der Wende, „die wir Ossis mit unseren Demos erzwungen haben“, der Arbeitsmarkt im Osten noch immer weit abgehangen sei, Stichwort „Niedriglohnkolonie“. Da verstünde niemand, warum mit Massenzuwanderung ungelernter Wirtschaftsflüchtlinge Konkurrenzprobleme geschaffen werden müssten. Ich sehe auf der ganzen Welt kein Land, in dem die Wirtschaft die Arbeiter mit sittenwidrigen Löhnen abspeist und zugleich nach mehr Arbeitern ruft. Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich wirbt mit „Niedriglohn als Standortvorteil“ und faselt zugleich etwas von „Respekt“ und einer „Kultur des Miteinanders“ – vor bzw. mit wem eigentlich?
„Die Bundesregierung ist dem deutschen Volke verpflichtet, im Grundgesetz kann ich nicht entdecken, dass damit Mulikulti gemeint ist“, lese ich bei demselben Schreiber weiter. Der Osten habe nach 1945 an die UdSSR Reparationsleistungen erbringen müssen, aber keinen Marshallplan gehabt: „Hier haben unsere Großeltern und Eltern in die Hände gespuckt und aufgebaut. Hier wurde nach dem Krieg gehungert!“ Und ein dritter ärgert sich, dass seit nun bald 27 Jahren die Menschen im Osten Staatsbürger 2. Klasse seien: „Sie haben die gleichen Steuern und Abgaben, aber niedrigere Löhne und Renten“. Dagegen zu protestieren sei nicht „rechts“. Richtig.
Das ist aber nur die aktuelle Hälfte der Wahrheit. Hinzu kommt eine historische Hälfte, die viel viel schwerer wiegt und etwas zu tun hat mit Schweigen als psychologischer Kategorie. Mit Verstummtheit, auch, aber eher mit Sprachlosigkeit – die jetzt, nach über zweieinhalb Jahrzehnten, überwunden wird, wie Stefan Locke in der FAZ fast erstaunt feststellen musste. Gemeint sind die erschütternden Geschichten aus der erschütternden (Nach)Wendezeit, die Verletzungen, Demütigungen, Ohnmächte. Der weiß Gott nicht konservative Locke sieht sich gezwungen, einen Diplomingenieur mit dem Satz zu zitieren: „Nur die Erinnerung an die Geborgenheit im Sozialismus und meine Familie haben mir geholfen, das alles zu überstehen.“ Ein Technischer Direktor habe, ohne je wieder einen richtigen Job zu erhalten, eine ABM nach der anderen absolviert und sich dann „durchgewurschtelt bis zur Frühverrentung“. Ein weiterer Ingenieur erzählt, wie er auf dem Bau landete, bis auch dort nach dem ersten Boom Schluss war, dann ebenfalls: ABM, Vorruhestand… Ich habe auch nach der 221. Bewerbung aufgehört, die Absagen zu zählen. 2014 war jeder 6. Ostdeutsche immer noch überqualifiziert und unterbezahlt.
Ein Aspekt ist also die Umwertung: auch tausende Kumpel etwa wurden in der DDR verehrt als Helden an der Kohlefront, heute sind sie arbeitslose Umweltzerstörer. Ein anderer Aspekt ist die zumal finanzielle Abwertung. Es geht um Bergleute und Krankenschwestern, deren Rentenbeiträge aus der DDR heute nicht mehr anerkannt werden, um in der DDR geschiedene Frauen, die heute vielfach in Altersarmut leben, weil es keinen Versorgungsausgleich gab, um DDR-Eisenbahner, deren Betriebsrenten, für die sie Beiträge zahlten, „einfach weggewischt“ wurden, die aber die Renten der West-Bahner zu ihren Lasten mitzahlen – und in der mehrheitlich westdeutschen Gewerkschaft keinerlei Unterstützung finden. Übrigens holt all diese Geschichten in Sachsen witzigerweise gerade die SPD aus der Verdrängung – obwohl sie die entsprechenden Linken-Gesetzentwürfe zur Rentenanpassung alle ablehnt hatte.
Einerlei: es bleibt die Bitternis einer endgültigen Ankunft in einem System, das für viele nichts von dem einlöste, was ihnen vor 27 Jahren verheißen wurde. Einem System, dass über Nacht vom gelernten Klassenfeind zum erhofften Menschenfreund werden sollte und vor dem gerade, aber vergeblich Intellektuelle warnten (hören Sie sich bspw. nochmal die Reden von Wolf, Hein oder Müller am 4. November auf dem Berliner Alex an). Einem System, das im Gegensatz zu den „Selbstwirksamkeitserfahrungen“ der Wende jetzt zunehmende Abstiegs- und Verlustängste, Entheimatungsgefühle (der Begriff stammt von Wolfgang Thierse, SPD) und Unkontrollierbarkeitsempfindungen verantwortet, Enttäuschung auf Enttäuschung häuft und damit die Prophezeiung, dass es niemandem schlechter, aber vielen besser gehen sollte, mehr und mehr ad absurdum führt.
Und genau das ist der Knackpunkt. Sie kennen ebenso wie ich den Begriff der „Inneren Emigration“, mit dem u.a. die Literaturwissenschaft jene Autoren bezeichnet, die sich aus welchen Motiven auch immer zwischen 1933 und 1945 nicht ins Ausland absetzten, sondern in Deutschland blieben. Aber die mussten nur 12 Jahre ertragen und hatten danach Alternativen. Wir mussten inzwischen 27 Jahre ertragen und haben keine Alternativen! Žižek hat mit seiner Einschätzung der „Freiheit der politischen Wahl“ Recht: eigentlich gab es diese Wahl nie, und an dem Punkt, an man wählen könnte, hatte man bereits gewählt. Genau das ist es, was die Bürger der Neuen Länder im Erlebnis zweier Systeme mit Stärken und Schwächen unbequem sein lässt! Selbst Helmut Kohl gab gegenüber dem Historiker Fritz Stern auf die Frage, welche Fehler er bei der Wiedervereinigung gemacht habe, nach einigem Zögern zu, dass er es versäumt habe, offen darüber zu reden, dass nicht alles in der DDR falsch war und im Westen nicht alles richtig. Ich will die DDR nicht zurück, aber diese sogenannte Bundesrepublik will ich erst recht nicht!
Und diese von Millionen jahrzehntlang verdrängte und nun eingestandene Gewissheit, um seine Träume, sein Leben betrogen worden zu sein, die bricht sich jetzt Bahn, und zwar laut Bahn gegen eine Frau, die offensichtlich all das repräsentiert, von dem die Betrogenen, Entwerteten enttäuscht sind, ja was sie hassen. Ist die „beleidigte Entschlossenheit“, die einmal die ZEIT konstatierte, nichts weiter als die trotzige Entschlossenheit, die nicht erfolgte oberflächliche Einheit, die in Wirklichkeit PR-Sprech des „Beitritts“ war, nun zu Ende zu bringen als Wiederaneignung von Entwendetem, ja als Sehnsucht, im eigenen Land endlich anzukommen? Was meinen Sie denn, warum gerade die AfD mit dem Slogan „Hol dir dein Land zurück“ so erfolgreich ist? Christoph Dieckmann hat den psychologischen Mechanismus schon 1998 (!) analysiert:
„Bar aller Psychologie schien der Westen zu glauben, der DDR-Anschluss nach Artikel 23 des Grundgesetzes habe nicht nur das Verfahren der Vereinigung geregelt, sondern auch ihr Wesen. Die Ostdeutschen wollten die Einheit, also würde Einheit werden. Sie hatten ihre Eigenstaatlichkeit beendet, also war da nichts Eigenes. Sie wünschten parlamentarische Demokratie, also würden sie Demokraten sein… Aber wer heiratet, vermählt sich nicht mit der eigenen Geschichte, sondern mit einer fremden. Das gilt für Aschenputtel und Prinz.“
Und auch das alles ist nur eine Seite der Medaille. Die andere ist die gegenwärtige bundesrepublikanische Darreichungsform von „Demokratie“ als „Freiheitlich-Demokratische Grundordnung“. Und genau die sehe ich wie viele andere, nicht nur AfD-Mitglieder, seit geraumer Zeit außer Kraft gesetzt. Wenn nämlich erstens zum Verständnis dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung die Zumutung gehört, hunderttausende Eindringlinge ungeordnet in unser Land zu lassen; sie undifferenziert mit dem schon länger hier lebenden „Pack“ gleichzustellen, das dieses Land und sein Sozialsystem erst erschuf; hunderttausende „Schutzsuchende“, vor denen Frauen Schutz suchen müssen, wenn also statt Grenzen Weihnachtsmärkte gesichert werden, vor Trinkwasseranschlägen gewarnt wird; wenn Zumutungen wie TBC, Anti-Vergewaltigungsshorts oder gar der Islam zu Deutschland gehören sollen, ja wenn ich plötzlich ungefragt Bewohner eines Einwanderungslands sein soll, dann ist dieses Verständnis von Grundordnung nicht mein Verständnis von Grundordnung. Das ist im Gegenteil das Chaos einer poststalinistischen Psychopathin und ihrer durchgeknallten Pseudoelite! Unsere schöne deutsche Sprache unterscheidet Gäste und Flüchtlinge, Heuchler und Helden, Verfolgte, die Asyl suchen und Asylsuchende, die ganz andere Dinge finden wollen. In einem Kommentar, der mich sehr erschreckte, las ich den Satz „Ich habe jüdische Freunde, die mich fragen, warum habt ihr uns vergast und die bewerft ihr mit Bananen?“
Wenn zweitens zum Verständnis dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung Zumutungen gehören wie das Denunzieren Andersdenkender, die private und berufliche Vernichtung wegen abweichender Meinungen oder AfD-Engagements, das Einführen gesetzlich ungedeckter Straftatbestände wie Hass-Kommentare oder Fake News, und das Verstoßen gegen europäisches Recht, ja das Grundgesetz, wie zwei Tage vor der Wahl selbst der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages zugeben musste, dann ist dieses Verständnis von Demokratie nicht mein Verständnis von Demokratie! Sowas hatten wir schon, ich will es nie wieder!
Und wenn drittens zum Verständnis dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung Zumutungen gehören, die Millionen ach so unfreier DDR-Bürger nur aus Geschichtsbüchern kannten, Zumutungen wie Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Kinderarmut, Altersarmut, Analphabetismus und dergleichen mehr, dann ist dieses Verständnis von Freiheit nicht mein Verständnis von Freiheit! Dem Menschen ist Verstand gegeben, um die Widrigkeiten des Lebens bestmöglich zu kontrollieren und zu eliminieren – hier werden diese Widrigkeiten bei vollstem Verstand befördert. Ich sage nur: rechtsfreie Räume, unerfüllbare Rentenversprechen, Existenzängste des Mittelstands, unkontrollierte Zuwanderung – was ist das für ein Land, das mit Flüchtlingen besser zurecht kommt als mit dem eigenen Volk? Auf unseren Schultern lastet nicht das Elend dieser Welt!
Stellvertretend für viele ähnliche Statements in den Wochen vor der Wahl sei ein 76jähriger Wolgaster angeführt, den die Berliner Zeitung so zitiert „Blühende Landschaften? Stattdessen ist die Arbeitslosigkeit zuerst gekommen – und die Armut. Man hätte die Verhältnisse angleichen müssen, nicht den Westen übernehmen. Das brauchen wir nicht.“ Die Fehler seien bis heute nicht eingestanden worden und auch nicht korrigierbar. Im Gegenteil, in Wolgast etwa seien nach den Industriebetrieben das Kreisgericht, das Arbeitsgericht, das Finanzamt und die Krankenkassen geschlossen worden. Und „jetzt steht das Krankenhaus auf der Kippe“.
Viele andere Menschen, nicht nur ich, empfinden, dass wir uns seit Jahren zurück entwickeln! Wir wurden entbildet, entsozialisiert, entsolidarisiert, entwertet, ja entwürdigt von jenen, die uns zu repräsentieren vorgaben und -geben. Es gab keinen Aufbau Ost, nur einen Umbau Ost als Nachbau West. Den wollte ich nicht, den wollte keiner! Früher sprachen wir von allseitig gebildeten Menschen, heute müssen wir von einseitig verbildeten, ach was, einseitig verblödeten Objekten sprechen – selbst ein Subjekt setzt ja ein Ich voraus! Nein, Objekte sind es, inhaltsleere, wesenlose Hüllen, die man in beliebigen politischen Koordinatensystemen beliebig hin und her verschieben kann! „Auf und nieder, auf und nieder, wer nicht hüpft, der ist Pegida“ – das ist kein Ausdruck irgendeines ebenso lauten wie sportiven Protests verbildeter Dresdner Studenten. Das ist auch kein Ausdruck irgendeiner Ideologie. Das ist einfach nur infantil!
„Die über Nacht sich umgestellt, zu jedem Staate sich bekennen, das sind die Praktiker der Welt; man kann sie auch Halunken nennen“ wusste schon Heinrich Heine. Nichts hat sich seitdem geändert! Die Systemlemminge von einst mutierten zu Wendehälsen, die Wendehälse wurden die Systemlemminge von heute und können im sächsischen Landtag besichtigt werden: dieser Bodensatz der Diktatur darf heute als Fettfilm der sogenannten Demokratie wieder oben schwimmen! Und zu diesem Nachbau West müssen wir die CDU als demokratie- und politikunfähige Machterhaltungsmaschinerie im Stile einer SED 2.0 addieren. Zusammen mit Linksgrün bildet dieser Chaotisch-Diktatorische Unfall der deutschen Parteienlandschaft das Konsensmeinungskartell eines Landes, in dem sich in einer Dresdner Ortsbeiratssitzung eine grüne Bürgermeisterin nicht entblödet, das Mantra „Wir schaffen das“ der schwarzen Kanzlerin zu verteidigen! Dieses Land ist ebenso schizophren wie seine durchgeknallte Pseudoelite!
Haben Sie sich mal ernsthaft mit unseren MdEP, MdB und unseren Bundesministern befasst? Da tummeln/tummelten sich zunehmend mehr Doktorschwindler (Guttenberg, CSU; Schavan, CDU; Chatzimarkakis, FDP…), Lebenslauferfinder (Hinz, SPD) oder gar ungelernte Hilfsarbeiter wie Claudia Roth (Grüne), die als Bundestagsvize in meinen schlechtesten Zeiten mehr Einkommen im Monat hatte als ich in meiner Selbständigkeit mit zwei akademischen Graden im Jahr – obwohl ich teilweise das Doppelte des Deputats eines FH-Professors schrubbte. Ganz zu schweigen von Bonusmeilenbetrügern (Özdemir, Grüne), Kinderpornographen (Edathy, SPD), Drogenjunkies (Beck, Grüne) usw. usf. Was sollte ich mit einem System am Hut haben, das derlei zu- und solcherart Personal hochkommen lässt? Von solchen Menschen würde ich mir nochmal nicht die Uhrzeit oder gar irgendetwas anderes sagen geschweige mich regieren lassen!
Diejenigen dagegen, die sich ihren bildungsbürgerlichen Humanismus, der einst per definitionem links war (!), ihre aufgeklärte Klassizität, ihre Verantwortungsethik über alle Ideologie und erst recht alle Staatswesen oder besser gesagt Staatsunwesen hinweg bewahrt haben und sich in diesem Land engagieren wollen, um es voranzubringen, die werden für all das, was ihnen generationenlang „normal“ vorkam, jetzt günstigstenfalls als Konservative, aber viel schlimmer als Rechte, Nazis, Faschisten und Rassisten diffamiert! In wie vielen falschen Filmen kann man eigentlich noch sein? Ich bewohne meine Wohnung, du nicht. Ich fahre mit meinem Fahrrad, du nicht. Ich telefoniere mit meinem Handy, du nicht. Bin ich jetzt Rassist, weil ich für mich „Dinge“ beanspruche, die ich anderen vorenthalte? Und all das soll kein Grund sein, der Kanzlerin mal richtig die Meinung zu sagen?
***
Letztens: Kritik und Politik. Proteste mit Trillerpfeifen gegen Merkel gab es schon immer, in den Jahren zuvor von Grünen, Linken, DGB & Co. Da habe ich allerdings keinen Brandbrief von Ihnen gelesen. Selbst Helmut Kohl musste Pfiffe ertragen, schon am 10. November 1989 bei einer Rede vor dem Schöneberger Rathaus. Er wurde im Osten gar ausgebuht, als nicht die blühenden Landschaften kamen, sondern das Arbeitsamt, und durfte in Halle sogar ein paar rohe Eier vom Revers klauben. Nur weil ich satt bin und ein Dach über dem Kopf besitze, muss ich nicht grundsätzlich jeden politischen Irrweg beklatschen. Dazu mehrt gerade ein gewisser Wohlstands- oder Sicherheitsgrad immer die Sorge darum, dass dieser nicht Bestand haben könnte, zumal für spätere Generationen.
Aber 2017, konstatiert Tilo Sarrazin völlig zu Recht, sind Pfeifkonzerte, laute Zwischenrufe und Hau-ab-Chöre nur eine Gefahr für die Demokratie, wenn sie Angela Merkel oder Heiko Maas gelten. In allen anderen Fällen leisten die Störer dagegen einen Beitrag zur Rettung der Demokratie. Dazu passt Ihr beleidigt-weinerlicher Ton in Richtung Protestierer einerseits, und Ihre sich bereitwillig für andere entschuldigende, devote Stimme („Sie sind doch so mächtig, Sie standen doch auf einer großen Bühne“) in Richtung Merkel andererseits. Wehren Sie vielleicht die Wucht der Volkswut ab? So dürften sich auch die Tintenstrolche der DDR-Journaille im friedlichen Herbst 1989 gefühlt haben.
Denn immerhin sind Sie mit ihrem Fahrzeug wieder nach Hause gekommen, ohne dass es von „Demonstranten“ durch Feuer zerstört, Sie durch Steine oder andere Wurfgeschosse verletzt, ja körperlich angegriffen wurden, wie es einem 73jährigen Mitglied meiner AfD-Ortsgruppe am Wochenende vor der Wahl im Dresdner Umland geschah. Auch wurde die Bühne der Kanzlerin oder gar sie selbst weder „betortet“ noch mit Farbe oder Ähnlichem beworfen, der Veranstalter des Auftritts nicht bedroht… es gab lediglich Unmutsbekundungen und Äußerungen von Nicht-Zustimmung zur Politik der Rednerin. Googeln Sie doch einfach mal, wie viele AfD-Veranstaltungen durch Pöbeleien, Trillerpfeifen oder sonstige „Events“ gestört wurden. Ja, Gleiches mit Gleichem zu vergelten ist keineswegs die feine englische Art, zumal wir bürgerliche Wähler erreichen wollten (und das leider nur zum Teil schafften, sonst wäre die FDP nicht so stark geworden), die sich von lautstarkem Geschrei eben nicht angesprochen fühlen.
Der Vergeltungsgedanke widerspricht zwar der (christlichen) Gesinnungsethik, ist aber im so genannten „gesunden Volksempfinden“ tief verwurzelt. Das können sie erbärmlich nennen, müssen es aber nicht. Es braucht die eigene Toleranz, dem Andersdenkenden zumindest einmal zuzuhören, freie Meinungsäußerung darf nicht die Meinung anderer missachten. Es braucht aber erst recht die Akzeptanz der Regierung, die Themen der Bevölkerung endlich aufzugreifen und sich nicht nur die Rosinen der Gefälligkeit heraus zu picken. Sie könnten sich fragen, wie ohnmächtig und verzweifelt diese Menschen sein müssen, weil sie, ihre Interessen, ihre Bedürfnisse einfach nicht gehört werden. Sie könnten aber auch einfach nur feststellen, dass viele Bürger mit der Politik der Bundeskanzlerin unzufrieden sind und das friedlich, aber laut zum Ausdruck brachten.
Finden Sie es nicht auch erstaunlich, dass Merkel bei vielen ihrer Wahlkampfveranstaltungen ausgebuht und ausgepfiffen wird – auf YouTube gibt es Aufzeichnungen zu fast jedem dieser wenig schmeichelhaften Auftritte, zuletzt am 22. September in München. Finsterwalde ist ein Symptom, kein Einzelfall. Ich erwarte daher von Ihnen, wenn AFD-Politiker Reden halten und von einer wütenden Antifa-Meute ausgepfiffen werden, dass Sie das Pfeifkonzert der Antifa, das undemokratische Stören des Rederechts künftig auch verurteilen. Andernfalls messen Sie mit zweierlei Maß, so dass man Ihren Text schon aus diesem Grund nicht mehr ernst nehmen kann und Sie als Merkel-Groupie ansehen muss, oder haben schlimmstenfalls das Prinzip der Meinungsfreiheit nicht verstanden. Sie kennen ebenso gut wie ich Günter Eich, in dessen Gedicht „Wacht auf“ es u.a. heißt:
„Schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind! Seid misstrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen! Wacht darüber, dass Eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere Eurer Herzen gerechnet wird! Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“ (1950)Früher waren gute Autoren, ja Intellektuelle natürliche Opposition, wenn nicht gar kratzbürstige Dissidenten. Heute schreibt man ex-post Ergebenheitsadressen („Sie hingegen sind mehr als nur ein Symbol, Sie sind weiter gekommen als jeder andere von uns, der nach dem Mauerfall in die freie Welt aufgebrochen ist…“), wenn sich die Postkartenidylle nicht wie gewünscht einstellen will. Es bleibt ein sentimentales Rührstück ohne wirkliche Pointe: Merkel will doch nicht diskutieren. Sie will regieren. Nebenbei: vielleicht hätte Merkel diskutiert – so sie dazu in der Lage gewesen wäre. Sie herrscht, ohne zu regieren. Die Sprache der Macht ist Schweigen. „Vor einem Putin oder Trump geben Sie doch auch nicht klein bei“ – vor einem Erdogan aber auf jeden Fall.
Letzter Punkt: die Lautstärke, die neben anderen paraverbalen Aspekten wie Artikulation, Sprechtempo oder Sprachmelodie nicht von Stimme und Sprache zu trennen ist. Und was der gemeine Wähler, in Ostdeutschland, gar im deutschen „Schandfleck“ Sachsen (Hamburger Morgenpost) zumal, seit einigen Jahren sprachlich aushalten muss, ist an Perfidie nicht zu überbieten.
- Der CDU-Politiker Albert Stegemann (MdL) kommentierte das Abschneiden der AfD in Mecklenburg-Vorpommern mit „Scheiss Nazis!!!“ auf seiner Facebook-Seite
- „Herr lass Hirn vom Himmel fallen“ rief Claudia Roth (Grüne) zu Demonstranten vor der Dresdner Frauenkirche am Tag der deutschen Einheit.
- Die linke Landtagsvizepräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Mignon Schwenke, erklärte die AfD-Fraktion während einer Regionalkonferenz zu potentiellen Mördern.
- Der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) sieht hinter Pegida „Neonazis in Nadelstreifen“.
- Bundesvize Ralf Stegner ließ aus Anlass des Kölner Reker-Attentats seine Follower auf Twitter wissen, dass Pegida in Köln „mitgestochen“ habe. Auch warnte er, „anständige Deutsche“ dürften niemals die „rechtsextreme AfD-Bande“ wählen, denn diese sei „verantwortlich für rechte Gewalt“. Außerdem forderte er, man müsse „Positionen und Personal der Rechtspopulisten attackieren“, weil diese „gestrig, intolerant, rechtsaußen und gefährlich“ seien.
- CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer bezeichnete die AfD als „Lügenpartei“, kurze Zeit später warnte sein Parteikollege Joachim Hermann in einem Welt-Interview, in der AfD seien „Wölfe unterwegs“.
- SPD-Chef Sigmar Gabriel hat Demonstranten aus Sachsen als „Pack“, welches „eingesperrt werden muss“, bezeichnet. Außerdem behauptete er erst in der Vorwahlwoche „Wenn die AfD in den Bundestag einzieht, haben wir zum ersten Mal nach Ende des Zweiten Weltkriegs im deutschen Reichstag wieder echte Nazis.“
Soll reichen. Wer die Menschenwürde verteidigen will, darf sie niemandem absprechen, das nur nebenbei. Wer so diffamiert wird, soll sich nicht lautstark wehren dürfen? Die Kehrseite dieser Beschimpfungen ist nicht nur das Verkünden teils haltloser Schönwetterbotschaften, denen die Demonstranten den Donner der Realität entgegen schleuderten, sondern die volkserzieherisch intendierte semantische Verengung vieler Wörter aus Gründen der Politischen Korrektheit. Der Tagesspiegel behauptete, Worte wie Krise, Welle oder Lawine seien „Pegidasprache“. Gehören dann Atheisten wie ich als Ketzer auf den Scheiterhaufen, wenn ich mal „Gott sei Dank“ sage? Die „Zeit“ will uns einreden, dass „Flüchtling“ allein wegen der Negativendung „ling“ diskriminierend sei. Und der Präsident des Landtags von Rheinland-Pfalz, Hendrik Hering, verstieg sich gar zu der Behauptung, dass „Pegida-Versteher“ Prof. Dr. Patzelt wie die Nazis für eine Verrohung der Sprache verantwortlich sei.
Wundert Sie da, dass sich Bürger nicht nur die Deutungshoheit über ihr Leben, sondern auch über ihre Sprache zurückholen wollen? Eine offene Gesellschaft ist mit einem geschlossenen Sprachsystem nicht vereinbar. Für Mohrenkopf, Zigeunerschnitzel & Co. muss man nicht kämpfen, das muss man einfach nur sagen, denn es gibt nichts Unsagbares, sondern nur Unsägliches. Unsäglich ist, dass die AfD „marschiert“, während normale Menschen demonstrieren; dass die AfD „pöbelt“ oder „hetzt“, während normale Menschen fordern oder kritisieren; dass AfD-Politiker „brüllen“, während normale Politiker sprechen und rufen. Aber wer uns mit solchen Beschimpfungen als geistige Brandstifter diffamiert, betreibt genau jene Menschenfeindlichkeit, die er anderen vorwirft, um dann scheinheilig zu fragen, wo bloß der Hass herkommt.
Und all das soll kein Grund sein, der Kanzlerin mal richtig die Meinung zu sagen? Und vor allem: all das wollen Sie nicht gewusst geschweige beim Abfassen Ihres Textes nicht mit bedacht haben? So naiv kann man gar nicht sein. Nicht nur, dass die sogenannten Volksparteien das Volk nicht mehr verstehen, auch die Autoren dieses Volkes tun das nicht mehr. Wenn sie es überhaupt wollen.
***
Nun also: eine Wahl, wie sie nicht im (Dreh)buch stand. Fast 13 % haben ihre Stimme, ja, auch uns gegeben, aber vor allem gegen Merkel erhoben. In Sachsen haben wir bei den Zweitstimmen Platz 1 errungen, mit den Erststimmen drei Direktmandate und mit den Zweitstimmen weitere acht geholt. Über einige der Gründe habe ich jetzt 10 Seiten lang nachgedacht. Wir wollen 2019 diesen Sieg verteidigen und die schon länger hier Regierenden ablösen, die nur noch die Macht verwalten, aber keine Zukunft gestalten. Um die hat der Sachse nämlich keine Angst, sondern kämpft dafür. Wenn Sie das auch tun, im Interesse Ihres Sohnes beispielsweise, freut sich
Ihr Dr. Thomas Hartung Stellv. Landesvorsitzender AfD Sachsen