Nicht die Hand Gottes
11. November 2017 von Thomas Hartung
Es sei die Hand Gottes gewesen, die am 22. Juni 1986 jenes 1:0 im Viertelfinale der Fußball-Weltmeisterschaft gegen England im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt erzielte, ließ Argentiniens Fußballgott Diego Armando Maradona einst verlauten. Mit der Hand hat es der Fußball-Weltverband FIFA im Herbst 2017 auch wieder – aber nicht als irreguläres Körperteil zum Tore schießen, sondern als reguläres zum Spielen dürfen. Bei der U17-WM in Indien, für die auch Deutschland qualifiziert ist, will der Verband das Alter aller gemeldeten Spieler überprüfen: mit Hilfe von Bildern der Handgelenksknochen aus der Magnetresonanztomografie (MRT). Im Gegensatz zur herkömmlichen Röntgenuntersuchung bringe sie keine Strahlenbelastung mit sich und könne mit 99-prozentiger Sicherheit nachweisen, dass keiner der Akteure vor dem 1. Januar 2000 geboren wurde.
Grund sei der fünfmalige U17-Weltmeister Nigeria, der 2013 und 2015 den Titel geholt und zuletzt für Aufsehen gesorgt hatte. Medienberichten zufolge bestanden gleich 26 Spieler aus dem aktuellen Kader den Test nicht. In Deutschland wird allerdings eher der Fall Youssoufa Moukoko diskutiert. Der angeblich 12 Jahre junge BVB-Stürmer schießt in der Staffel West der B-Junioren-Bundesliga, also in der Liga von 16- und 17-Jährigen, Tore ohne Ende – in 7 Spielen traf der Dortmunder schon 17 Mal, gefolgt von Rene Biskup, der auf acht Treffer kommt. Daneben erzielte er 20 Tore für die deutsche U16-Nationalmannschaft – bei neun Einsätzen. Es wird aber immer lauter vermutet, dass der Angreifer, der eine 18jährige Freundin hat, in Wahrheit älter ist. Jetzt gibt’s selbst beim BVB Streit über die Personalie.
Moukoko ist Deutsch-Kameruner, seine Geburtsurkunde des deutschen Konsulats in Jaunde (der Hauptstadt Kameruns) weist den 20. November 2004 als Geburtsdatum aus. Er spiele in der Dortmunder U17, „weil wir glauben, dass er sportlich in diese Altersklasse gehört“, sagt Lars Ricken, der Nachwuchskoordinator des BVB, im Podcast der „Ruhr Nachrichten“. „Er ist zwölf. Das ist einfach Fakt. Daran gibt es keinen Zweifel“, sagte Ricken. Einige Medienberichte nannte er in diesem Zusammenhang „enttäuschend“. „Er spielt in einer richtig guten Mannschaft und wird von seinen Mitspielern sehr gut begleitet.“ In einem Interview mit dem Internetportal „Spox“ jedoch hat sich Dortmunds U23-Leiter Ingo Preuß so zitieren lassen:
„Ich könnte mir bei Youssoufa vorstellen, dass sein Alter lediglich geschätzt worden ist. Vielleicht ist er in Wirklichkeit ein, zwei Jahre älter. Er ist aber mit Sicherheit noch nicht 17. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
In der Debatte hat das Bezirksamt Hamburg Nord nun Auskunft erteilt. Wie die Behörde gegenüber der „Welt“ erklärte, wurde der Deutsch-Kameruner am 20. November 2004 in Yaoundé geboren und ist demnach tatsächlich erst zwölf Jahre alt. Auskunft über die Art und Weise des Prüfverfahrens konnte aufgrund datenschutzrechtlicher Bestimmungen nicht erteilt werden. „Die Botschaft in Jaunde hat keine deutsche Geburtsurkunde ausgestellt“, teilte das Auswärtige Amt der Zeitung demnach mit. Beim Standesamt Hamburg-Harburg sei 2016 eine Nachbeurkundung von Moukokos Geburt erfolgt.
Nun ist eine „Urkunde“ aber kein Beweis, selbst wenn das deutsche Standesamt die Echtheit des Dokuments beglaubigt hat. In Kamerun erhält man gegen Geld praktisch jede Urkunde, die man haben will. Einen Alterstest mit einer Handknochenmessung, so wie ihn die Fifa nun bei der U17-WM für alle Spieler vorgegeben hat, lehnt der BVB aber ab. Und da liegt der Hase im Pfeffer: denn ebenso, wie der erfolgreiche UMA („unbegleitete Minderjährige Asylsuchende“) auf der Welle der Minderjährigkeit surft, machen das Zehntausende andere – und Erfolglose – ebenso.
In Deutschland wurden zum Stichtag 9. Februar 61.893 Unbegleitete betreut – darunter 16.664 junge Volljährige, wie das Bundesfamilienministerium der „Welt“ mitteilte. Während Volljährige ins Asylverfahren geraten, sind Minderjährige ein Fall für die Jugendhilfe. Statt ins Asylbewerberheim geht es in Wohngruppen, statt des Ausländeramtes ist das kommunale Jugendamt zuständig. UMA’s haben Anspruch auf Obhut, Schulbildung, Krankenversicherung und muss selbst keinen Asylantrag stellen. Dadurch steigen auch die Kosten.
Das Bundesverwaltungsamt hat für sie einen durchschnittlichen Kostentagessatz von 175 Euro pro Kopf ermittelt, also 5250 Euro monatlich. Dieser Betrag enthält sowohl die Kosten der Inobhutnahme als auch die Hilfen zur Erziehung. Stagniert die Zahl der Unbegleiteten auf dem aktuellen Niveau, ergibt sich also ein Betrag von 3,95 Milliarden Euro für das laufende Jahr. Trotz der vergleichsweise hohen Straffälligkeit in dieser Gruppe wurde im Jahr 2016 kein Unbegleiteter abgeschoben, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei hervorgeht.
Dass es dabei Betrug gibt, ist hinlänglich bekannt. Eines der bekanntesten Beispiele ist Hussein K., der im Oktober 2016 in Freiburg eine Studentin vergewaltigt und ermordet haben soll. Der Fall sorgte bundesweit für Aufsehen. Der Verdächtige lebte als angeblich 17-jähriger UMA in einer Pflegefamilie. Nun kommt ein medizinisches Gutachten zu dem Schluss, dass er zur Tatzeit mindestens 22 Jahre alt war. In dem Fall ist das Alter gerichtsrelevant, denn mit 22 fiele der Mann im Falle eines Prozesses bereits unter das härtere Erwachsenenstrafrecht.
„Die Landesregierung darf nicht länger zusehen, wie sich ein Geschäftsmodell etabliert, bei dem Eltern ihre Kinder mit Schleppern nach Deutschland schicken, um sie hier gut versorgt zu wissen und womöglich anschließend vom Familiennachzug zu profitieren“, erklärte Björn Thümler, der CDU-Fraktionschef in Niedersachsen, der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Er warnt auch vor einer Kostenexplosion bei der Jugendhilfe im Bereich Uma. Demnach hat allein sein Land 2016 mehr als 278 Millionen Euro dafür im Haushalt zurückgelegt. 2015 waren es noch 44 Millionen Euro, 2013 lediglich 14 Millionen. Allein das Land Niedersachsen hat zwischen dem 01.11.2015 und dem 13.01.2017 insgesamt 4 927 UMA in Obhut genommen, davon 4 641 (94,2 %) Jungen. Das Alter wurde 926 Mal durch Ausweispapiere geprüft, in 3 213 Fällen beruht die Altersfeststellung dagegen auf der Selbstauskunft der Betreffenden.
Nun werden verlässliche Methoden der Altersfeststellung wie eben radiologische Untersuchungen selten angewendet. Dabei hat die Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik, die zur Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin gehört, einen international anerkannten Diagnosestandard entwickelt. Dieser erlaubt zwar nicht die zweifelsfreie Altersfeststellung, aber doch die eines Mindestalters. Während diese Untersuchungen etwa in Österreich vorgenommen werden, nutzen in Deutschland aus ethischen und gesundheitlichen Gründen nur wenige der rund 600 Jugendämter diese Möglichkeit.
Die Verlässlichkeit und Aussagekraft solcher Untersuchungen wird allerdings regelmäßig auch von Radiologen angezweifelt – in der Regel aus deduktiven Gründen: bevölkerungsweite statistische Daten könnten nicht auf die Ebene des Individuums angewendet werden. So seien mehrere Studien zum Ergebnis gekommen, dass zwischen dem tatsächlichen Alter und dem Skelettalter keine signifikanten Zusammenhänge bestehen, sondern beide Werte im Einzelfall sogar um mehrere Jahre voneinander abweichen könnten.
Überdeutlich wurde das in der Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP) vom November 2015, in der als häufigste Art der Knochenaltersbestimmung die Bestimmung des Knochenalters nach „Greulich und Pyle“ erwähnt wurde. Der als Referenz herangezogene Atlas basiere aber „auf einer Population aus den 1930er Jahren und beachtet nicht, dass das mittlere Knochenalter je Altersgruppe in den letzten 80 Jahren deutlich angestiegen ist“. Dazu kämen Differenzen zwischen verschiedenen Ethnien, wie das „Deutsche Ärzteblatt“ (Jg. 111, Heft 18, 2. Mai 2014) berichtete, und fehlende Normwerte für die jeweils einzelnen Ethnizitäten. Deswegen könne eine Handröntgenaufnahme somit keine wissenschaftliche Methode darstellen, sondern im Gegenteil eine unnötige, medizinisch nicht verantwortbare Strahlenbelastung; das gälte auch für die „modernere“ und weniger strahlenbelastende Methode einer „Computertomographie des Sternoclaviculargelenkes“.
In juristischem Kauderwelsch bestätigte diese Haltung für Sachsen das Innenministerium auf eine Anfrage der AfD: „Radiologische Untersuchungsbefunde der Zähne oder des Handskeletts oder weitere radiologische Merkmale der individuellen Reifung dürfen aufgrund der rechtlichen Gegebenheiten nur herangezogen werden, wenn identitätsgesicherte Aufnahmen mit bekanntem Entstehungszeitpunkt bereits vorliegen.“ Aha. Und wo bzw. von wem sollen die gemacht worden sein? Prompt brachte die sächsische AfD-Fraktion schon am 28. Oktober 2016 einen Antrag „für die konsequente medizinische Altersfeststellung von angeblichen Minderjährigen“ in den Landtag ein, der gemäß dem Katalog der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik auch die „Erfassung anthropometrischer Maße“ beinhaltete – und natürlich von allen Altparteien abgelehnt wurde.
Zu konstatieren ist also, dass der Fußball-Weltverband ein Verfahren anwenden will, um die politische und ökonomische Funktionalität eines sportlichen Großevents zu sichern. Dasselbe Verfahren soll in Deutschland dagegen nicht angewendet werden, um die politische und ökonomische Funktionalität eines souveränen Nationalstaats zu sichern. Schizophrener kann man die Realität dieses Landes nicht kennzeichnen.
Haben Sie eigentlich aktuelle Zahlen, wie viele UMAs aktuell zuwandern? Die Zahl derer hat RAPIDE abgenommen. Kamen letztes Jahr noch über 35 TSD, so sind es dieses Jahr in der Zeit von Jan bis Okt. gerade einmal 8 TSD auf ganz Deutschland bezogen. So werden aktuell kaum noch UMA an die Jugendhilfeträger vermittelt. Die von Ihnen heraufbeschworene Flut ist erstaunlicherweise extrem abgeflacht. Komisch. Oder?
Es geht nicht um die Zahl der UMA’s, sondern um deren Alterbestimmung. Ich habe keine „Flut“ heraufbeschworen, sondern lediglich Statistiken und Politiker zitiert.
Auch das Problem wird sich von selbst erledigen. Die UMAs werden nach und nach aus der Jugendhilfe ins Asylsystem entlassen (was derzeit bereits in hohem Maße geschieht) und durchlaufen da den normalen Asylprozess. Also, wo bitte ist das Problem? Wenn ein weiterer unaufhaltsamer Strom von UMAs kommen würde, verstünde ich ihre Argumentation. So ist es in meinen Augen nur platter Populismus.