Verhalten sei nicht angeboren? Falsch!
14. November 2017 von Thomas Hartung
Liebe Judith Sevinc Basad,
eigentlich wollte Ihnen zu Ihrer Initiative „Studenten für Demokratie und Meinungsfreiheit“ gratulieren, stieß aber mit einigem Entsetzen auf Ihren „causa“-Text im „Tagesspiegel“ zum Problem Geschlecht und Verhalten. Da behaupten Sie, dass es für die These, dass männliches oder weibliches Verhalten angeboren sei, keine wissenschaftlichen Beweise gebe und der Diskurs durch Vorurteile und verdrehte Fakten dominiert werde. Das kann nicht Ihr Ernst sein. Da ich keine Lust habe, zur Kommentierung meine Daten einem weiteren Medium zu überlassen, publiziere ich meinen „Leserbrief“ hier.
Zunächst ist Ihnen hoffentlich bekannt, dass die Humanbiologie fünf Ebenen der Geschlechtsentwicklung unterscheidet; dies sind:
I Genetisches Geschlecht: das Geschlechtschromosomenpaar ist bei Mann und Frau verschieden. Das männliche XY steht dem weiblichen XX gegenüber. Eizellen sind immer vom Typ X, während Spermazellen X oder Y sein können: das Erbgut des Vaters entscheidet, ob ein Sohn oder eine Tochter entsteht.
II Gonadales Geschlecht: die morphologische Entwicklung der inneren Geschlechtsorgane beginnt ab der 7. Woche der Schwangerschaft, die Differenzierung ist genetisch induziert (Y-Chromosom) und hormonell gesteuert. Die Geschlechtsdifferenzierung verläuft nur bis zur Bildung der Gonaden unter dem unmittelbaren Einfluss der Gene. Sobald die Gonaden ausgebildet sind, erfolgt die weitere Differenzierung allein aufgrund der Hormonwirkung (Testosteron bzw. Östrogen und Progesteron).
III Morphologisches Geschlecht: wird rein durch die äußeren sichtbaren Geschlechtsmerkmale (Genitalien) definiert.
IV Zerebrales Geschlecht: Die geschlechtsspezifische Determination bestimmter Gehirnstrukturen, das zerebrale Geschlecht, erfüllt zwei Funktionen. Zum einen die Programmierung hypothalamischer, für die Steuerung der Hormone zuständiger Zentren und zum anderen die Ausbildung von Gehirnstrukturen, in denen die Basis für geschlechtstypisches Verhaltensdispositionen vermutet wird, vor allem den Hypothalamus, das limbische System und den Balken (das Corpus callosum): Frauen und Männer aktivieren bei der Lösung der gleichen Aufgaben verschiedene Bereiche des Gehirns.
V) Soziales Verhaltensgeschlecht: weibliche Gehirne sind personal-empathisch verdrahtet, männliche nichtpersonal-systemisch (allerdings beeinflusst der Hormonspiegel das Einfühlungsvermögen). So wurden in der legendären Studie von Cohen in Cambridge (2001) über 100 Neugeborene im Alter von einem Tag gefilmt. Jungen schauten länger auf einen mechanischen, runden, mobilen Gegenstand (ein System mit vorhersagbaren Bewegungsgesetzen) als auf ein menschliches Gesicht (ein Objekt, das fast unmöglich zu systematisieren ist). Im Alter von einem Jahr schauten sich Jungen lieber einen Film über vorbeifahrende Autos an (vorhersagbare mechanische Systeme) als einen Film mit „sprechenden Köpfen“ (bei abgedrehtem Ton), bei Mädchen verhielt es sich genau umgekehrt. Das ändert sich auch später nicht: Männer nehmen Details und bewegte Objekte genauer wahr, Frauen dagegen Farben. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede treten also zu einem Zeitpunkt auf, da Kinder kaum Gelegenheit hatten, prägende Sozialisations- und andere Erfahrungen zu sammeln, die diese Unterschiede erklären könnten.
Zum weiteren werden Rollenerwartungen nicht nur von außen an Junge/Mann – Mädchen/Frau herangetragen, sondern auch durch spontanes Verhalten des jeweiligen Geschlechts ermutigt. Es sind letztlich die „Vorgaben“, die den interaktiven Prozess „Disposition – Sozialisation“ anstoßen und in eine bestimmte Richtung lenken. Psychologie lässt sich nicht auf Biologie reduzieren, aber dass Biologie und Psyche nichts miteinander zu tun hätten, hieße einem Dualismus das Wort reden, der bereits überholt ist. Vorgabe ist nicht Fixierung, Vorgabe ist Aufgabe. In der Wahrnehmungs- und Entwicklungspsychologie gelten folgende „Vorgaben“ als gesichert, die die meisten Genderisten quasi in Gänze ablehnen:
- Sprachfähigkeit: Mädchen fangen etwa einen Monat früher an zu sprechen als Jungen, ihr Wortschatz ist größer, Männer haben eine doppelt so hohe Anfälligkeit für Sprachstörungen wie zum Beispiel Stottern.
- Gruppenstruktur: Jungen begründen rasch eine auf Körperstärke bezogene „Dominanzhierarchie“, Mädchen legen auch eine Rangordnung fest, aber sie orientieren sich dabei an anderen Qualitäten als an simpler Körperkraft oder einem raubeinigen Auftreten.
- Konfliktbewältigung und Aggression: Jungen reagieren in den ersten Lebensjahren primär aggressiver, haben eine geringere Frustrationsgrenze und geraten öfter in Konflikte, die sie brachial aushandeln; Mädchen ziehen sich eher zurück, wenn sie in eine Situation geraten, bei der es darum geht, um ein Objekt zu streiten, sie brauchen länger, bis sie auf einen Konflikt reagieren, weil sie vorher mehr überlegen. Frauen wollen häufig Probleme besprechen, Männer verdrängen und leugnen sie.
- Spielverhalten: Jungen wählen spontan andere Spielzeuge (Autos, Bausteine) als Mädchen (Puppen, Schmusespielzeug). Daneben sind beim Spiel mit Bausteinen unterschiedliche Spielergebnisse auffällig: Jungen bauen (phallische) Türme, Mädchen (beschützende, uterine) Häuser.
- Empathie und Beziehung: Mädchen reagieren schon im Alter von 12 Monaten deutlich empathischer als Jungen auf den Kummer anderer Menschen, zeigen mehr Anteilnahme durch traurigere Blicke, mitfühlende Lautäußerungen und tröstendes Verhalten. Frauen legen bei Freundschaften im Allgemeinen mehr Wert auf Empathie, während Männer eher gemeinsame Aktivitäten schätzen.
- Begehren: Frauen neigen dazu, über die charakterlichen und emotionalen Qualitäten ihres Partners nachzudenken, was darauf schließen lässt, dass sie ihr Einfühlungsvermögen nicht einfach ausblenden können, nicht einmal, wenn sie an Sex denken. Im Gegensatz dazu neigen Männer dazu, sich auf die körperlichen Merkmale der Partnerin zu konzentrieren.
- Gewalt: „Es gibt keine bekannte menschliche Gesellschaft, in der das Ausmaß an tödlicher Gewalt zwischen Frauen auch nur annähernd an das der Männer heranreicht.“ Der Krieg, so Heraklit, ist der Vater aller Dinge. Und Gewalt die Grundlage alles Männlichen, ergänzen US-Forscher: „Ein weiblicher Mozart fehlt, weil es auch keinen weiblichen Jack the Ripper gibt.“
Das ist das eine. Das andere ist: weder kann jemand sein Geschlecht abwählen, noch erfährt er es als bloße Rolle. Trivialzynisch: während einst Männer und Frauen ihre Leiblichkeit als normal, natürlich und generativ (aus)lebten und dabei Konzepte von Mensch-Sein heraufdachten, sollen sie jetzt ein idealiteres „Konstrukt Mensch“ als normal leben und dabei/danach Konzepte von Frau-/Mann-Sein bzw. Mutter-/Vaterschaft herabdenken: das Bewusstsein bestimmt das Sein. Das führt anfangs zur psychischen Deformation des Menschen und später zu fehlender Generativität (vgl. Eriksons „psychosoziale Krisen“) – der Mensch stirbt aus; Tilo Sarrazin hatte es nur prägnanter formuliert.
Wer Mann- und Frausein prinzipiell als austauschbare, da symmetrische Rollenspiele und also inszenierte Identität auslegt, blendet die Generativität aus, dass Frauen Mütter und Männer Väter werden (ein geschlechtsbedingtes und biologisches Faktum, das zu lebenslangen Bindungen führt) – oder bekämpft sie im Sinne eines „traditionellen“ Feminismus, der Geschlecht bestenfalls als paradoxe Kategorie begreift.
Fortpflanzung nun verläuft (wie zu Teilen auch Erziehung) aber immer asymmetrisch: Frauen gebären, Männer nicht. Seit der „sexuellen Revolution“ will der westliche Feminismus die Asymmetrie aufheben: die Befreiung der Frau wird an die Befreiung vom Kind geknüpft, erst dann herrschten Geschlechtergleichheit und damit Geschlechtergerechtigkeit.
Die neuen Ungleichheiten und Machtverhältnisse entstehen nicht mehr entlang einer Trennung „Mann = Patriarchat, Unterdrücker“ versus „Frau = Opfer, Unterdrückte“, sondern verlaufen entlang eines kalten Markts, für den der Mensch als Subjekt nicht zählt: Frauenkörper etwa sollen marktdiktiert gesund und schön sein, weswegen viele Frauen schon ihre eigene Körperlichkeit als problematisch empfinden und zunehmend verunsichert sind – es entsteht ein zwiespältiges Verhältnis zum eigenen Leib. Eine Autorin namens Sarah Diehl („Die Uhr, die nicht tickt. Kinderlos glücklich – Eine Streitschrift“, Hamburg 2014) bringt tatsächlich zu Papier: „Der Mutterinstinkt wurde von Naturwissenschaftlern und Pädagogen erfunden, er ist nicht biologisch in den Frauen verankert“.
Einerseits soll das Geschlecht also immer bedeutungsloser werden, konstruktivistisch gedacht soll ja jeder wählen, wie und was er ist. Paradoxerweise wächst aber genau in dieser faktischen Gleichheitsgesellschaft der Druck, erst recht anzuzeigen und idealtypisch zu verkörpern, dass man eine Frau ist oder ein Mann – das Phänomen der Kommerzialisierung des Körpers. Wenn der „Leib“ nur als Körper erfahren, ohne Bezug auf das Geistig-Seelische zum Körper degradiert wird, wird der Mensch selbst zum Objekt, zur Ware. Die Akzeptanz des Leibes als integralem Identitäts-Bestandteil aber ist u.a. für Erich Fromm wesentlich für die gesunde Entfaltung der eigenen Persönlichkeit.
Wird nun beim Menschen die „biologische“ Reproduktion vom sozialen Sinngehalt dieser Reproduktion (Generativität als Weitergabe des Lebens) getrennt, übernimmt die Logik des Marktes Angebot und Nachfrage. Das geht im Fall der Reproduktion und des medizinischen Fortschrittwahns insbesondere auf Kosten der Frau, Indizien sind u.a. Leihmütter, Eizellen-Lieferantinnen, Abtreibung… . Kinder aber als Geschenk anzunehmen, eine lebenslange Bindung als Verantwortung zu entwickeln – Gender-Theorien können diese Widersprüche nicht adäquat erklären und müssten eingestehen, dass biologische Vorgabe und soziales Verhalten nicht beliebig kombinierbar und inszenierungsfähig sind.
Es ist genau diese Beliebigkeit und Austauschbarkeit, die unsere Gesellschaft in allen Bereichen an den Tag legt und die leider durch solche Texte wie Ihren gelobhudelt statt kritisiert wird. Damit wird eben nicht die Meinungsfreiheit gestärkt, die Sie an anderer Stelle eingefordert haben, sondern Unwissenschaftlichkeit als reguläre Meinung in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht. Das ist hanebüchen und spricht den akademischen Traditionen dieses Landes Hohn.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Hartung