„Trutz“ – Christoph Heins Abrechnung mit fanatischen Ideologien
27. November 2017 von Thomas Hartung
„Als er das chinesische Sprichwort zitierte, die schlechteste Tinte sei besser als das beste Gedächtnis, lachte Maykl so laut, dass der Dozent ihn fragte, was daran so lächerlich sei. Maykl erwiderte, Tinte würde vergilben und verschwinden, Papiere würden verlegt, gerieten in Vergessenheit, könnten abhandenkommen, in einem gut trainierten Gedächtnis sei dagegen alles für alle Ewigkeit fixiert, festgehalten bis zum Tod.“
Wenn ich drei aufeinanderfolgende Bücher eines Autors nicht nur mehr oder weniger lobend rezensiere, sondern auch noch in ununterbrochener Reihenfolge für ihre Aufnahme in die Literaturlehrpläne plädiere, muss es etwas Besonderes haben: um den Autor, seine Erzählweise, seinen Stoff – oder alles zusammen. Gemeint ist „Trutz“, das (erste?) Alterswerk von Christoph Hein.
Alterswerk darum, weil er so viel und so grausam und so willkürlich sterben lässt wie in kaum einem Text zuvor, weil ihm nach dem Tod seiner (einen) Hauptfigur die Handlung teilweise zerfasert und weil eher der Stoff, den er unbedingt und eher unelegant erzählen muss und der ihm manchmal fast verschwörungstheoretisch entgleitet, der Held ist und nicht die ihn transportierende Personnage.
Aber das wars auch schon an Kritteleien meinerseits – eher muss man den Autor würdigen, weil er mit 72 Jahren zwar erfahren, aber doch völlig unverschlissen, wenn auch wie immer ziemlich nüchtern-lakonisch zwei Familien auf Kollisionskurs mit den Ideologien des letzten Jahrhunderts schickt und dabei zwei Motivpaare unerbittlich verfolgt: Zufall gegen Berechenbarkeit und Vergessen gegen Erinnerung. „In diesen Roman geriet ich aus Versehen …“, beginnt der erste, „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“, lautet der letzte Satz.
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Kunst, oder besser, die Macht und Ohnmacht des Erinnerns. Würde man das epische Werk in ein dramatisches Genre transformieren, dann kann ein Roman über Erinnerung im 20. Jahrhundert nur eine Tragödie sein: Ideologien organisierten und sanktionierten Gedächtnisleistung politisch – das jeweilige System bestimmte, wie Vergangenheit gespeichert, bewahrt – und verändert wurde. Wer seine eigene Erinnerung damit nicht in Einklang bringen wollte und/oder konnte, hatte ein gefährliches Problem.
Dieses Problem hatten die beiden Roman-Familien, deren Mitglieder zwischen Hitler-Faschismus, Stalin-Terror und SED-Arbeiter-und-Bauern-Zwangsbeglückung einen Erinnerungs- und damit Überlebensmodus für sich praktizieren wollten. Einen Modus, der ihnen idealerweise mehr als die Leben und überdies noch sozialen Einfluss sicherte. Aber Hein wäre nicht Hein, wenn er nicht genau dieses Intellektuellen-Ansinnen innerhalb einer Odyssee durch die Zeiten und Systeme, durch groß inszenierte Lügen und im Kleinen verborgene Wahrheiten aufs Bitterste über den Jordan schickt.
Die Geschichte beginnt mit Rainer Trutz, dem Vater von Maykl, einem Bauernsohn, der aus der Provinz und einem engen Elternhaus ins Berlin der 20-er Jahre flieht und durch einen Zufall auf die sehr sympathisch gezeichnete Lettin Lilija Simonaitis trifft, Mitarbeiterin der russischen Botschaft, die dem angehenden Schriftsteller nicht nur die Türen zur Berliner Gesellschaft öffnet, sondern auch später in der Sowjetunion lange zu einer Helferin und Unterstützerin der Familien Trutz wird, bis sie selbst in die grausamen Mühlen der Stalin`schen Säuberungen gerät.
Das frivole Erstlingswerk von Rainer Trutz (!!!) erregt einiges Aufsehen – ein elegant verschweinigelter Roman, der Beachtung im Kulturbetrieb und Verachtung bei den Nazis findet. Prompt gerät er mit seinem zweiten Buch ins Visier der Gestapo und flieht mit Hilfe von Lilija mit seiner Familie nach Moskau. Doch dort im als sicherer Ort phantasierten Exil warten herbe Enttäuschungen auf sie. Rainer Trutz begegnet dort Waldemar Geijm, einem Professor für Mathematik und Sprachwissenschaften an der Lomonossow- Universität, der ein neues Forschungsgebiet begründet, wobei er sich auf alte Vorgänger beruft: die Mnemotechnik, die Lehre von Ursprung und Funktion der Erinnerung.
Dieser Prof. Geijm, der bald in Ungnade fällt und später in einem sibirischen Arbeitslager stirbt, unterrichtet mehrere Jahre seinen eigenen Sohn und den Sohn von Rainer Trutz, den kleinen Maykl in dieser Technik, deren Kunst Christoph Hein dann über sechs Jahrzehnte in Berlin bestaunen sollte: die sogenannte Mnemotechnik, die auf Ideen fußt, die der griechischen Dichters Simonides von Keos schon rund 500 Jahre vor Christus entwickelt hat. Sind Parteikreise erst daran interessiert, Gejms Ergebnisse militärisch und medial zu nutzen, erkennen sie bald, wie kontraproduktiv eine perfekte Erinnerung für ihr politisches System sein kann: Wer nicht vergisst, lässt sich nicht indoktrinieren.
„Die Mnemonik zieht eine Blutspur hinter sich her, bis heute. Bereits zu Beginn war das so, diese Wissenschaft begann mit einem Massaker. Ein gutes Gedächtnis war in der Geschichte der Menschheit stets eine tödliche Gefahr. Das Vergessen wird belohnt, nicht das Gedächtnis. Wenn Sie schnell und rasch vergessen, werden Sie glücklich auf Erden und können in Ruhe alt werden. Doch wenn Sie sich an alles erinnern, bekommen Sie Schwierigkeiten, und die können tödlich sein. So geht es bis in unsere Zeit, bis zu mir.“
Ganz stark sind prompt die Szenen, in denen Hein im Stile Orwells die unentwegte Umwertung von Kunst, Kino und Literatur zum Zweck der Massenmanipulation beschreibt. Etwa als nach der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts 1939 alle Bücher, Filme und Theaterstücke in der Sowjetunion freundlich für das Dritte Reich umformuliert, -geschnitten und -gebaut wurden, um dann 1941, nach dem Überfall durch die Deutschen, wieder in schönster antifaschistischer Pracht gezeigt werden zu dürfen.
Trutz macht sich Hoffnungen, für eine Emigrantenzeitung zu arbeiten. Es mangelt im Moskau von 1933 jedoch nicht an emigrierten deutschen Intellektuellen. Das Haupthindernis besteht allerdings darin, dass er kein Mitglied der kommunistischen Partei ist. Ein Redakteur wäscht ihm den Kopf:
„Wie willst du ein guter Journalist sein, wenn du nicht in der Partei bist? Zierliche Häkeleien verfassen, putzige Blümchenmuster, wie sie die bürgerliche Presse liebt? So etwas brauchen wir nicht. (…) Nein, Junge, in unserer Presse häkeln und stricken wir nicht, da machen wir Politik. (…) Hier herrscht Klassenkampf, verstehst du, jeden Tag, jede Stunde, in jedem Redaktionszimmer. Und nun mach, dass du verschwindest.“
Stattdessen landet Trutz als ungelernter Pionier beim U-Bahn-Bau in Moskau. Einigermaßen unbeschadet überlebt er, wird aber nach dem Krieg plötzlich denunziert. Eine alte Rezension, die er noch in Berlin für die „Weltbühne“ schrieb und in der er sich lustig machte über die Lobhudelei einiger berühmter Schriftsteller, die die Sowjetunion als Paradies darstellten, wird ihm zu Verhängnis. Links ist manchmal nicht links genug, je nachdem, von wo man schaut. Hitler, Stalin und der kleine Trutz: Die totalitären Systeme wechseln, aber der Möchtegernschriftsteller bleibt ein politisch Unbehauster. Er kommt in ein Besserungslager im Ural und wird dort von einem Wärter erschlagen – weil er keinen Schnaps dabei hatte.
Das letzte Drittel des Buches, der Vater ist da schon längst im eisigen Boden eines Gulags in Sibirien verscharrt, handelt davon, wie der Trutz-Sohn Maykl, inzwischen Vollwaise, nach dem Krieg nach Deutschland, in die alte Heimat seines Vaters, ausgewiesen wird. Auch dort drangsaliert, versucht er als Archivar zu überleben. Die historischen Wahrheiten, die er in den Papieren zutage fördert, sind seiner Karriere im SED-Staat natürlich hinderlich.
„Eine westliche Hetzschrift muss als Feindpropaganda zurückgewiesen werden. Die Broschüre als Fälschung zu bezeichnen und gleichzeitig Großmann vor Gericht bringen, das geht nicht. Also hat man sich für Großmann entschieden.“
Nach der Wende wird er Gem, den Sohn von Professor Geijm, wiedertreffen. Beide stellen fest: sie haben fast dieselben Erfahrungen gemacht wie ihre Väter. Eine dieser Erfahrungen ist für mich eine der Schlüsselstellen des Romans: vor einer Kommission hochnotpeinlich befragt, warum er nicht FDJ-Mitglied werden und welche Lehren er denn aus „der Geschichte“ überhaupt ziehen wolle, entspinnt sich dieser Dialog:
„Meine Eltern waren deutsche Antifaschisten, die sich vor Hitler in Sicherheit bringen wollten und in der Sowjetunion umkamen… Ich kann meiner Eltern wegen nicht Mitglied der FDJ werden“ –
„Schuld daran trägt nicht die Sowjetunion und schon gar nicht unser Staat. … Nein, Herr Trutz, den Tod Ihrer Eltern verschuldete Hitler mit seinem Überfall auf die Sowjetunion … An Ihrer Stelle und mit Ihrem Schicksal würde ich, meinen toten Eltern zu Ehren, sofort den Antrag stellen, in die Partei aufgenommen zu werden, damit sich diese Verbrechen nicht wiederholen…“
Fast überflüssig zu erwähnen, dass er auch privat unter seinem Gedächtnis leidet:
„In der kurzen Verhandlung sagte Sandra, es sei nicht möglich mit einem Menschen zusammenzuleben, der nie etwas vergessen könne. Seine Fähigkeit sei nicht hilfreich, sondern eine Krankheit, mit der sich und andere vergifte und allen die Lebenslust raube. Die Scheidungsrichterin möge ihm ein Training des Vergessens empfehlen.“
Vor einem Jahr erst ging es Hein in „Glückskind mit Vater“ um den Sohn eines hingerichteten Kriegsverbrechers, der aus der gerade gegründeten DDR flieht, um ausgerechnet bei Mitgliedern der Resistance in Marseille „Wein, Weib und Wahrheit“ kennenzulernen. Natürlich war der Held dann doch gar nicht so ein Glückskind, weil er die Last der Geschichte im Verlauf seiner Reise in Richtung Westen und wieder zurück nicht abwerfen konnte. Hier nun ging es nach Osten und retour – mit demselben Resultat. Hillgruber spricht im Tagesspiegel von „deterministischer Wucht“ und fühlt sich phasenweise an Weiss‘ „Ästhetik des Widerstands“ erinnert. Für Wolfgang Schneider hätte „Trutz“ den Preis der Leipziger Buchmesse verdient. Beiden mag ich nicht widersprechen.
Hein hat wieder einen ernsten, tragischen, lapidar erzählten Text vorgelegt, der nicht zuletzt auch davon handelt, wie unbequeme „Intelligenzler“ in der Provinz verdämmern – ein Standardmotiv bei ihm. Bereits in „Horns Ende“ (1985) resümierte die Titelgestalt, Direktor eines Provinzmuseums im fiktiven Bad Guldenberg: „Welch ein entsetzlicher Gedanke, ohne Gedächtnis leben zu wollen. Wir würden ohne Erfahrungen leben müssen, ohne Wissen und ohne Werte. Löschen Sie das Gedächtnis eines Menschen, und Sie löschen die Menschheit.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.