Neger sind keine Lösung
1. Februar 2018 von Thomas Hartung
„Wer hat‘s erfunden“? – die Antwort auf die Frage am Ende der Ricola-Werbung ist offenbar auch richtig, wenn es darum geht, wer „Neger“ in diesem Jahrzehnt wieder ins deutschsprachige Kreuzworträtsel gebracht hat. Es war ein Flugblatt der Schweizer Demokraten (SD) im Wahlkampf 2011, das nach Befund der Oberstaatsanwaltschaft Zürich nicht gegen die Antirassismus-Strafnorm verstoße: nicht alles sei strafbar, was geschmacklos sei, sondern nur, was die Menschenwürde in grober Weise herabsetze, so die Sprecherin Corinne Bouvard. Die Aussage zum Lösungswort lautete: „Es ist auch für sie besser, auf ihrem Kontinent zu bleiben“.
Nachdem bereits 2015 die Kirchenzeitung „Kirche + Leben“ des Bistums Münster den als „N-Wort“ verpönten Begriff auf die Frage nach einer „Menschenrasse“ wissen wollte, wiederholte sich das Ereignis nun Mitte Januar 2018 in der Unternehmenszeitschrift „Klinoskop“ des Klinikums Chemnitz. Die Frage lautete diesmal: „Mensch mit schwarzer Hautfarbe“. „Das ist ein Fauxpas, der geht gar nicht“, erklärte ein Sprecher. Von der 12 500 Mal gedruckten Ausgabe wurden 8 500 Exemplare wieder eingesammelt. Das Heft werde komplett neu gedruckt und verteilt, sagte der Sprecher.
Das Kreuzworträtsel wurde den Angaben zufolge von der Chemnitzer Agentur „Cartell“ mittels eines IT-gestützten Generators erstellt. Gegen das Unternehmen, dessen Geschäftsführer pikanterweise der Grünen-Fraktionschef Thomas Lehmann ist, würden nun rechtliche Schritte geprüft. Rassismus in Sachsen, wieder mal? Natürlich war die Geschichte in allen Medien. Einige davon (bspw. der Kölner „Express“) schreckten nicht davor zurück, Substantive wie „Skandal“ zu verschlagzeilen – im Fall Kandel textete das Blatt zuerst „Streit in Drogeriemarkt“ und dann „Bluttat in Drogeriemarkt“.
Um die Absurdität nochmals zu betonen: 1992 hat Stephan Remmler in Köln auf einem von der Initiative „Arsch huh, Zäng ussenander“ veranstalteten Konzert noch gesungen „Mein Freund ist Neger“, um zur Verbundenheit mit Menschen anderer Hautfarbe aufzurufen. Heute ist das Wort Grund für die Einleitung rechtlicher Schritte und das Einstampfen/Neudrucken einer fünfstelligen Zeitungsauflage ungeachtet aller Bekenntnisse zum Umweltschutz. Das ganze Problem hätte sich nicht gestellt, hätte man gefragt nach einem verstorbenen Mainzer Karnevalisten, einem Nebenfluss der Ruhr, einem Stadtteil von Olpe, einem Ein-Mann-Torpedo der deutschen Kriegsmarine oder einem Biermischgetränk. Was ist da nur schiefgelaufen?
Als Schwarz und Weiß noch Hautfarben waren
Werfen wir einen Blick in unsere Sprachgeschichte. Das alt- und mittelhochdeutsche Lehnwort „Mohr“ aus dem lateinischen „maurus“ für die Bewohner Mauretaniens stand bereits seit dem Mittelalter verallgemeinert für „Menschen mit dunkler Hautfarbe“; hier spielte wiederum das griechische ἀμαυρός (amauros, „im Ganzen dunkel“) mit hinein. Es wird heute vor allem im historischen oder literarischen Zusammenhang oder als Teil von Bezeichnungen (z. B. als Wappenfigur) gebraucht.
Andere Quellen sprechen von St. Mauritius, dem Anführer der Thebanischen Legion in Ägypten zur Römerzeit, der sich weigerte, Christen nur um ihres Glaubens willen zu töten, lieber selbst unschuldig sterben wollte und so zum Märtyrer wurde. In ottonischer Zeit stieg er zum Schutzpatron des neuen Erzbistums Magdeburg auf. Im Magdeburger Dom findet man seine Plastik als Vollblut-Afrikaner. Auch ein Teil seiner Reliquien wird dort aufbewahrt, ein weiterer Teil im Dom zu Vienne in Burgund und weitere Überreste in einem Kloster bei Genf. Nach der eingedeutschten Namensform sind die St. Moritz-Kirchen nach ihm benannt, ebenso die Moritzburg bei Dresden, in Halle/Saale und in Zeitz. Auch der Ski-Ort St. Moritz und die Insel Mauritius sind wohl (zumindest indiekt) nach ihm benannt.
Spätestens seit dem 18. Jahrhundert wurde Mohr auf deutschem Gebiet von „Neger“ abgelöst. Dieses Wort nun stand für „Schwarzer“ in Ableitung aus dem französischen Wort für „schwarz“ (nègre), das vom spanischen „negro“ stammt, das wiederum auf das lateinische Wort „niger“ für die Farbe Schwarz zurückgeht. In den deutschen Wortschatz aufgenommen wurde es laut der Gebr. Grimm vom Lexikografen Johann Christoph Adelung, der als Oberbibliothekar der Kurfürstlichen Bibliothek in Dresden arbeitete. Es ist also unumstritten, dass sowohl Mohr als auch Neger auf die dunkle Hautfarbe abstellten.
Aber schon im Mittelalter zeichnete sich ab, dass mit der Hautfarbe neben der Oberflächendifferenz auch tiefensemantische Bezüge herstellbar sind. So erweiterte Wolfram von Eschenbach die Gralsgeschichte des Chrétien de Troyes um die Begegnung von Parzivals Vater Gahmuret mit der schwarzen Königin Belacane, für die er kämpft und mit der er den Sohn Feirefiz zeugt, der später seinem Halbbruder Parzival hilft, den Gral zu finden. Das könne man einerseits als Strategie in der Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam lesen, die andererseits aber nicht in der hegemonialen Konfrontationsrhetorik der Kreuzzüge, sondern als Utopie eines kulturübergreifenden, Differenz akzeptierenden Rittertums erzählt werde, so Hinrichsen/Hund in ihrem Aufsatz „Rassismus Macht Sprache“. Wolfram reagiere damit auf aggressive Erzählungen wie das Rolandslied des Pfaffen Konrad, in dem sich heidnische Könige mit ihren Kriegern „swarz unt übel getan“ auf die Christenheit stürzen.
600 Jahre später dann das Gegenmodell. Heinrich von Kleists „Die Verlobung in St. Domingo“ thematisiert das Verhältnis von Schwarzen und Weißen nach dem Zusammenbruch der Sklavenhaltergesellschaft in Haiti zu Beginn des 19. Jahrhunderts anhand zweier Einzelschicksale: einem Weißen, der irrtümlich seine schwarze Geliebte erschießt. Anke Körner erklärt die romantische Novelle lapidar als „gescheiterte Utopie der Gewaltlosigkeit“. Ganz anders die schwarze Dozentin Marie Biloa Onana:
„Sie gibt den rassistischen Theorien Immanuel Kants literarische Form und nimmt dabei die allgegenwärtige Diskriminierung und Stereotypisierung Schwarzer in der deutschen Kolonialliteratur nach 1884 vorweg“.
Kleist schildere die Revolution in Haiti als die Zeit, „als die Schwarzen die Weißen ermordeten“, er ließ „eine Gruppe von Weißen auf der Flucht durch das ‚Mohrenland‘ ziehen, das er aber voller ‚Neger‘ sah und dabei dieses Wort derart penetrant häufig benutzte, dass man meinen könnte, er wäre zur Propagierung solch gewaltsamer Sprache durch einen königlich-preußischen Diskursbeauftragten veranlasst worden. Theodor Körner nutzte Kleists Erzählung als Vorlage für eine rassistische Theaterschnulze“, so Hinrichsen/Hund – gemeint war „Toni“ („…Gefährlich wird‘s, im Haus zu übernachten/ Die Negerbanden streifen rings umher/Wir sind nicht sicher vor den schwarzen Gästen…“, 1812).
Zwischen Sklave und Beruf
In diesen 600 Jahren also soll „Neger“ im deutschen Sprachraum eine Stereotypisierung erhalten haben, die nicht auf die Wahrnehmung natürlicher Unterschiede zurückginge, sondern als pejorative, abwertende Komponente sich bereits während des spanischen und portugiesischen Sklavenhandels entwickelt habe: die „Bezeichnung“ wäre mit dem „Wort“ Sklave konnotiert und im Weiteren mit anatomisch-ästhetischen (hässlich), sozialen (wild, ohne Kultur), sexuellen (abnorm) und psychologischen (kindlich) Vorstellungen verknüpft und nicht zuletzt durch die Debatten um den Rasse-Begriff von Linné, Kant, Meiners etc. befeuert worden. So lautet der Erklärungsversuch von Dakha Deme aus dem Jahr 1993, auf den heute mehrfach der wikipedia-Artikel „Neger“ rekurriert. Das Klischee der Kulturlosigkeit bedient etwa Johann G. Scheffners (1736-1820) Gedicht „Der Neger und die Bäuerin“.
Deme ist übrigens Inhaber des Lehrstuhls für Germanistische Linguistik an der Universität Dakar (Senegal). Damit scheint zunächst kanonisiert, dass unsere Germanistik die Etymologie eines neuzeitlichen deutschen Lehnworts unkommentiert von einem senegalesischen Nichtmuttersprachler interpretieren lässt. Anekdote am Rande: Leopold Senghor, der erste Staatschef des Senegal und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, erklärte seinerzeit das Wort sogar zum Adelsbegriff:
„Meine Négritude ist kein Schlaf der Rasse, sondern Sonne der Seele“.
Die Hermeneutik wird nicht einfacher, wenn man weiß, dass es schon lange einen Nachnamen „Neger“ im deutschsprachigen Raum gab, bevor sich das Wort als Synonym für einen Schwarzen im 17. Jahrhundert zu verbreiten begann – als eine der mundartlichen Varianten des Berufsnamens des Nähers. Das schon im Althochdeutschen belegte Tätigkeitswort „nähen“ erscheint ab mittelhochdeutscher Zeit in mehreren regionalen und mundartlichen Varianten, darunter neben „nêjen“, „nêwen“ oder „nêhen“ auch in den verhärteten Varianten „nêgen“, „nâgen“ und „neigen“. „Die Familiennamen Näger, Neger und Neiger sind klar als Berufsnamen des Nähers zu identifizieren“, so der Namensforscher Jürgen Udolph in der WELT.
Im Falle des Mainzer Dachdeckers Thomas Neger und seinem Firmenlogo, das einen Neger zeigt und das sich der Inhaber zu ändern weigert, führte diese Polysemie zu einem erbitterten, medial ausgetragenen Streit zwischen ihm und Namenskritikern. „Die Namensänderung würde einen fünfstelligen Betrag kosten, Fassadenlogos, Internet und, und, und. Wir sehen dazu keine Veranlassung. Fakt ist: Es ist nicht verboten“, so der Enkel der Mainzer Karnevallegende 2015 ebenfalls in der WELT.
Prompt tauchten in der Stadt Aufkleber auf, mit Negers Gesicht darauf und dem Satz: „Rassismus einen Namen geben“. Der Facebookseite „Ein Herz für Neger – Solidarität für Thomas Neger“ steht die Facebookseite „Das Logo muss weg“ gegenüber – sie hat übrigens weniger Anhänger. Im Raum steht gar der Begriff des „Warenrassismus“ für den Erwerb und Verzehr von (Konsum)Gütern a la „Negerkuss“. Der Vorwurf: Wer seine Ware ästhetisch aufpolieren möchte, bedient sich im rassistischen Bilderhaushalt.
Zwischen Diffamierung und Satire
Dieser Streit ist nur ein Puzzleteil von vielen, die seit der Jahrtausendwende die Entwicklung hin zu einem unguten Gesamtbild von sprachpolitischer Korrektheit deutlich werden lassen. Zwar durfte sich Harald Schmidt 2002 in einer Ausgabe seiner Late-Night-Show auf Sat.1 mit dem Begriff „Neger“ noch minutenlang sarkastisch auseinandersetzen. Aber bereits am 15. Juni 2000 urteilte das Amtsgericht Schwäbisch Hall: Wer einen Schwarzen öffentlich als „Neger“ bezeichnet, darf ungestraft „Rassist“ genannt werden. Für die Richterin sei es „schwer vorstellbar“ gewesen, dass dem Betroffenen „der diffamierende Charakter des Ausdrucks „Neger“ nicht bekannt gewesen sein soll.
15 Jahre später fällt eine Richterin am Amtsgericht Hamburg-Barmbek ein ähnlich hanebüchenes Urteil gegen eine 78-Jährige wegen Beleidigung. Sie muss eine Geldstrafe von 100 Euro zahlen, weil sie einen farbigen Jungen als „Neger“ bezeichnet hatte. Diese Beschimpfung wiege schwerer als der Ausdruck „Nutte“, mit dem der Elfjährige die Rentnerin zuvor belegt hatte. Staatsanwaltschaft und Verteidigung hatten auf Freispruch plädiert. Verteidiger Stefan Lanwer zeigte sich nach dem Urteil entsetzt: „Das ist politische Rechtsprechung“.
Manchmal treibt diese Hermeneutik auch absurde Blüten. So ziert das Cover des Buchs „Singen können die alle! Handbuch für Negerfreunde“ des schwarzen Kölner Comedians Marius Jung ein nackter Schwarzer mit einer großen Schleife vor dem Penis. Das Referat für Gleichstellung und Lebensweisenpolitik der Universität Leipzig verlieh ihm prompt einen Negativ-Preis für die „stereotype Darstellung eines nackten schwarzen Menschen, der durch eine rote Geschenkschleife objektiviert wird. Dies erinnerte uns an rassistische Motivik.“ Harald Martenstein wütete darob 2014 in der ZEIT:
„Die Vorstellung, dass vermutlich zumeist schwanenweiße Jungs und Mädels in Deutschland einen rabenschwarzen Künstler wegen Rassismus an den Pranger stellen, nur weil dieser schwarze Bengel sich die Frechheit erlaubt, so etwas ihren deutschen Quadratschädel Überforderndes wie Satire und Sarkasmus zum Einsatz zu bringen, hat etwas Gespenstisches, oder? Das Cover kann man missglückt finden, wer es rassistisch findet, hat vor allem ein Bildungsproblem.“
Die Publizistin Tina Uebel ärgert sich ebenfalls in der ZEIT:
„Wie sollen wir miteinander reden – und Rassismus diagnostizieren! –, wenn sich die Ansicht durchsetzt, nicht Kontext und Intention bestimmten die Bedeutung eines Wortes, sondern die schlichte Abfolge von Vokalen und Konsonanten? Ein Buch „Singen können die alle! Handbuch für Negerfreunde“ zu betiteln ist Satire. In der nächsten Umdrehung der N-Wort-Schraube kommt es zu Absurditäten wie beim Berliner Theatertreffen, wo dem Darsteller eines Neonazis verboten wurde, auf der Bühne „das N-Wort“ auszusprechen. In den Kulissen verabschiedet sich die narrative Darstellung von der Wirklichkeit.“
Anders in der Schweiz, wo Comedian Marco Rima („Samstagnacht“, RTL) seit Jahren entsprechende Witze machen kann: „Warum gebe ich einem Neger nur weiße Schokolade zum Essen? Damit er sich nicht in die Finger beißt.“ Für die grüne Berner Gemeinderätin Franziska Teuscher werden mit solchen Witzen laut „Tagesanzeiger“ definitiv Grenzen überschritten: „Falls Rima den Begriff ‚Neger‘ verwendet, schockiert mich das. Es ist allgemein bekannt, dass dieser Begriff stark diskriminierend ist. Auch Comedians müssen sich ans Recht halten und zum Beispiel die Antirassismus-Strafnorm beachten.“ René Tanner, Rimas Manager, meint in der „Aargauer Zeitung“ trocken, dass „die Ironie wohl nicht alle verstehen“. „Witze sind ein Katalysator für unsere Ängste und Sorgen, wir können uns ja nicht ständig politisch korrekt verkrampfen“, so Rima bereits 2003 in der „Weltwoche“.
Als der SVP-Nationalrat Erich Hess während einer Debatte im Berner Stadtrat 2017 sagte, dass man auf dem Vorplatz des Kulturzentrums Reithalle „hauptsächlich Neger am Dealen“ sehe, zeigten ihn die Jungen Grünen an. Die Berner Staatsanwaltschaft entschied, dass die Äußerungen nicht rassistisch seien. Der Beschluss empört die Jungen Grünen: „Erich Hess hat afrikanischstämmige Menschen pauschal als Drogendealer abgestempelt“, dass dies ohne Konsequenzen bleibe, sei „inakzeptabel“.
Signalwort oder rassistisches Schimpfwort?
Fast so verkrampft wie in Deutschland fühlt es sich dagegen in Österreich an – mit Ausnahme des Adjektivs „neger“: einem ostösterreichischen, alten Synonym für pleite, ja mittellos mit der Herkunft „im Dunklen, Verborgenen“ (ähnlich „schwarzfahren“), das – volksetymologisch abschätzig mit schwarzen Zuwanderern in Verbindung gebracht – Habenichtse und Schnorrer suggeriert. Der Österreichische Presserat bewertete 2014 die Verwendung des Begriffs „Negerkinder“ in einem Kommentar in der Zeitschrift „Meine Steirische“ als Verstoß gegen den Ehrenkodex und verneinte einen satirischen Kontext. Weiterhin führte er aus, dass der Begriff „Neger“, obwohl er in der Vergangenheit als unbedenklich gegolten haben mag, inzwischen eine diskriminierende Bedeutung besitze.
Als „Negerkonglomerat“ bezeichnete der ehemalige FPÖ-EU-Spitzenkandidat Andreas Mölzer in einer Europawahlkampfrede die Europäische Union und ein seiner Meinung nach zunehmendes Chaos in der EU. Die „auf diese Weise ausgedrückte rassistische und stark abwertende Bedeutung des Ausdrucks“ macht es zum Unwort des Jahres 2014. Das Oberlandesgericht Innsbruck erkannte 2017 einem in Österreich lebenden Brasilianer 1500 Euro samt acht Prozent Zinsen zu: Ein Kollege hatte ihn als „Neger“ beschimpft.
Aktuell neigt sich das Pendel eindeutig der negativen Hermeneutik zu. Eine Person, die das Wort „Neger“ verwendet, ist zwar nicht automatisch ein Rassist, so die Einschätzung von Albrecht Plewnia vom Mannheimer Institut für Deutsche Sprache. Der Germanist beklagt eine reflexhafte Reaktion in den sozialen Netzwerken auf bestimmte Begriffe: „Ein Signalwort reicht aus, um einen Shitstorm auszulösen.“ Konkret ging es um Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), der 2015 in der Sendung „Hart, aber fair“ sagte: „Roberto Blanco war immer ein wunderbarer Neger, der den weißen Deutschen wunderbar gefallen hat.“ Blanco ist CSU-Ehrenmitglied, der Kontext nicht ehrenrührig. Bis heute darf auch die sächsische Rosenlöcher Heimtiernahrung GmbH ihr Vogelfutter „Negersaat“ anbieten.
Für den Mainzer Ethnologen Matthias Krings dagegen macht es einen Menschen zum Rassisten, wenn er Neger sagt, selbst wenn man es früher auch gesagt habe und doch gar nicht böse meine. Und für Oliver Marquart vom Portal rap.de ist es gar ein „rassistisches Schimpfwort. Es stellt schwarze Menschen als Weißen unterlegen, als zur Sklaverei geborene, minderwertige Wesen dar. … in diesem Wort stecken 500 Jahre Sklaverei, Kolonialismus, Völkermorde, schlimmste Verbrechen.“
Den theoretischen Subtext solcher Wertungen lieferte u.a. Hund 1999, für den „in einem langwierigen und keineswegs gradlinigen Prozess ein im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts zusehends negativ gekennzeichnetes Mohrenbild mit der im 18. Jahrhundert entwickelten Ordnungskategorie Rasse zum Begriff des Negers verschmolzen“ wurde. Diese auf Wikipedia genüsslich zitierte These wird sonst nirgendwo akademisch aufgegriffen. Andere sehen in der Behauptung einer früheren nicht-diskriminierenden Verwendung des Wortes gar eine „Verkennung sprachgeschichtlicher Kontexte und kolonialistischer Begriffs- und Konventionalisierungsgeschichte“.
Signalwort oder rassistisches Schimpfwort? Der Düsseldorfer Sprachwissenschaftler Rudi Keller löste dieses Paradoxon in seinem Buch „Sprachwandel“ (2003) als „konnotative Leiter“ auf seine Weise: bei der Auswahl der Bezeichnung, mit der wir über Mitglieder einer Kategorie reden, wähle man sicherheitshalber immer einen Begriff, der positiver konnotiert ist als der neutrale. Bis in die 60er Jahre (und in der DDR bis 1989, im Bewusstsein ihrer Sprachträger aber bis heute) war Neger ein neutraler Begriff, der wie von Anbeginn als Benennung einer Differenz zu den hellhäutigen, „weißen“ Mitteleuropäern durch dieselben diente.
Vor allem im Zusammenhang mit dem zunehmenden Bewusstsein für die Ungleichbehandlung von Schwarzen in den USA griffen Politik und Medien sicherheitshalber zum nächsthöheren Begriff auf der konnotativen Leiter: Schwarzer oder auch Farbiger, und damit wurde der Begriff Neger nach unten gedrängt. Die Genese dieser konnotativen Leiter lässt sich gut am Beispiel des „Nicknegers“ nachvollziehen: eine Figur auf Spendensammelbehältern in Kirchen und anderen Einrichtungen in Form eines Negers, der dankend nickt, wenn eine Münze eingeworfen wird.
Nach der Aufforderung von Bistumsleitungen zur Entfernung der Missionsspardosen verschwanden diese nach 1960: Der Zeitgeist hatte sich so weit gewandelt, dass im Rahmen der kirchlichen Eine-Welt-Entwicklungspolitik die Bewohner ärmerer Länder nicht weiter als hilflose Bittsteller, sondern als gleichberechtigte Partner betrachtet wurden. Nach der Jahrtausendwende sind sie fast nur noch bei Sammlern oder in Museen zu finden. Ab 2004 warb die Christoffel-Blindenmission mit einem Plakat um Spenden, auf dem ein schwarzer Blinder abgebildet war, dessen Augen als Geldeinwurfschlitze dargestellt waren. Die Kampagne, für die die Agentur BBDO noch einen Preis des Gesamtverbands Kommunikationsagenturen gewonnen hatte, wurde nach Protesten 2006 eingestellt.
„Mentales Gift“
Der Mechanismus, warum überhaupt dieses Leiterprinzip „Subtext schlägt Text“ Fuß fassen kann, ist also kein neutraler, wissenschaftlicher, „objektiver“, sondern ein ideologisch-emotionaler. Diefenbach/Ullrich erklärten ihn in ihrem Buch „Es war doch gut gemeint“ mit der Unmöglichkeit, die Wirklichkeit in ihren Schattierungen mit der Sprache der politischen Korrektheit so zu beschreiben, dass er allen Kommunikationsteilnehmern gerecht wird. Man braucht sich nur vorzustellen, ob ein Gegenüber es begrüßt, als Schwarzer bezeichnet zu werden, nur weil man sich selbst einen Weißen nennt.
Denn: „immer taucht jemand auf, der im Namen einer Gruppe, der er nicht einmal zwingend angehören muss, Widerspruch anmeldet: So geht das nicht. Das darf nicht gesagt und schon gar nicht geschrieben werden“. Die Autoren nennen das „mentales Gift“, destruktiv und gesellschaftszerstörend, denn damit werden die Verhältnisse von Relevanz und Evidenz umgekehrt: Was anfangs der besten Absicht folgte, Minderheiten zu schützen, drohe inzwischen, die Gesellschaft zu beschädigen.
So schrieb 2007 der Verein „Schwarze Filmschaffende in Deutschland“ (SFD) dem WDR einen Brief (Betreff: Tatort „Ruhe Sanft“) und wetterte gegen den „diskriminierenden, kolonialrassistischen, semantischen Charakter“ des folgenden ironischen Trialogs:
Nadeshda: „Wie heißen noch mal die Leute, die immer schwarz rumlaufen?“
Boerne: „Neger. Also, ich wollte sagen … [sucht nach Worten] Mitbürger afro … amerikanischer … Also Thiel, wie nennt man die denn jetzt eigentlich korrekterweise?“
Thiel: „Nadeshda, fragen Sie doch mal bei den Grünen nach. Na, die kümmern sich doch um solche Dinge, Dosenpfand und so …“
Jüngstes Beispiel: Der Geschäftsführer der Kommunalen Ausländer- und Ausländerinnenvertretung (KAV) Frankfurt, Thomas Usleber, sagte der „Hessenschau“, Worte wie „Neger“ oder „Mohr“ seien zu Recht als rassistisch anerkannt. Er fordert, die Stadt solle sich dafür einsetzen, dass sich die Frankfurter „Mohren-Apotheke“ und die „Apotheke zum Mohren“ neue Namen suchen. In der Begründung für den Antrag heißt es, Frankfurt müsse „Flagge gegen die Verwendung rassistischer Bilder und Bezeichnungen zeigen“.
Zwar werden Frankfurter Stadtverordnete der Fraktionen „Die Frankfurter“, „Bürger für Frankfurt“ und der AfD mit Reaktionen zitiert wie „Bekloppt“, „Leute, die sonst nichts zu tun haben“ oder „Kann man nicht ernst nehmen“. Tahir Della, Sprecher der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland, kontert prompt:
„Der Begriff wird von schwarzen Menschen als rassistisch wahrgenommen“, und diese Wahrnehmung solle doch Grundlage des Handelns sein, unabhängig davon, ob man sie nachempfinden könne oder nicht.
Er wünsche sich, dass das „M-Wort“ aus dem deutschen Sprachgebrauch verschwindet. Und wer noch? Für den schwarzen Philosophen und Lyriker Achille Mbembe ist Schwarz keine Farbe, sondern eine Demütigung. Aber für wen noch? Wie viele gedemütigte „schwarze Menschen“ beträfe das im Verhältnis zu den Nicht-Gedemütigten in Deutschland? Dass man es nie jedermann recht machen kann, wusste bereits Platon. Und hier tritt das Problem zutage, das Neo Rauch 2017 in der ZEIT auf den Punkt brachte:
„Heute werden Minderheiten zu Mehrheiten stilisiert, an deren Bedürfnislagen wir uns auszurichten haben, sofern wir nicht mit der Brandmarke des Sexismus oder Chauvinismus ausgestattet werden wollen. Das ist ein Zustand, der nicht hinnehmbar ist auf Dauer“.
Vertreter von Minderheiten erheben also medial potenzierte Wünsche/Forderungen (oder andere Personen, bspw. Richter oder Studenten, ungesicherte und/oder emotionale, oft auch mit Meinung verwechselte Argumente, vielleicht gar in „Wir“-Form), deren Qualität, Gehalt und Provenienz nicht hinterfragt, sondern gesetzt werden und die damit per se als diskurswürdig und diskursfähig gelten, obwohl sie bestenfalls anmaßend sind und schlimmstenfalls hysterisch, in jedem Falle aber dem gesunden Menschenverstand tradierter Mehrheitsdiskurse konträr gegenüber stehen. Peter Graf Kielmansegg kritisiert in der FAZ bspw. den „kulturrevolutionären Akt“ der „Ehe für alle“ als „individuelle Entscheidung auf Kosten des Gemeinwohls“ wider jegliche Erfordernisse kultureller Kontinuität, eine Entscheidung „gegen stabile Mehrheitsanschauungen, die die eigene Lebenspraxis betreffen“. Vor allem nach dem Gesetz der Schweigespirale (und weiteren medienpsychologischen sowie -soziologischen und auch machtpolitischen Phänomenen) beanspruchen die neuen Aussagen plötzlich Diskurshoheit, obwohl sie nicht ansatzweise über die soziale und/oder wissenschaftliche Verankerung verfügen, die dieser Hoheit entspräche. Kurz: es geht um Deutungshoheit, mithin immer um Macht.
Die Folge ist laut Diefenbach/Ullrich eine gestörte Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft, verbunden mit Rückzügen in Nischen, in denen nur noch Gleichgesinnte warten. Für eine freie Gesellschaft – darauf angewiesen, ihre inneren Befindlichkeiten nach außen zu tragen und öffentlich zu verhandeln – sei das eine Katastrophe. Die Ideologie der politischen Korrektheit ähnele in ihrem Aufbau einer Religion, deren Anhänger trotz der inzwischen zu besichtigenden Schäden an der Meinungsfreiheit dogmatisch an ihrem Glauben festhielten.
Dieser Umdeutungsprozess ist „Neger“ bereits widerfahren. Man kann zwar meinen, damit kontextfrei die Differenz der Hautfarben zu bezeichnen. Vertreter gefühlter Mehrheiten werden jedoch sofort den Subtext betonen und behaupten, man bediene den rassistischen Stereotyp, will man nicht – bestenfalls – als ungebildet oder rückständig gelten. So herrsche 2015 für Stefan Kuzmany vom SPIEGEL „in zivilisierten Kreisen dieses Landes längst Einigkeit darüber, dass das N-Wort eine Beleidigung für Menschen dunkler Hautfarbe ist und deshalb nicht verwendet werden soll“. Sollte man das als überhebliche Pharisäerhäme abtun oder sich einfach als unzivilisiert bezeichnen? Oder sollte man endlich sagen: „Dann ist es halt beleidigend, Punkt?“ Dieter Nuhr und Peter Sloterdijk brachten das mit ihren Bonmots „Ich habe kein Verständnis dafür, dass die bei uns lange erkämpfte Meinungsfreiheit nicht mehr ernst genommen wird, wenn sich jemand beleidigt zeigt.“ sowie „Es gibt kein Recht, von Beleidigungen frei zu bleiben, erst recht keinen Anspruch auf Überempfindlichkeit.“ auf den Punkt.
Neger steht nämlich auch noch in der Literatur. Die Debatte, die in Deutschland spätestens 2002 mit den unsäglichen Hannoveraner Vorgängen um Agatha Christies Krimi „Zehn kleine Negerlein“ begann, erreichte 2013 ihren Höhepunkt anhand der Kinderbuchklassiker von Otfried Preußler und Erich Kästner sowie den deutschen Übersetzungen von Astrid Lindgren. Anlass war die Entscheidung des Thienemann-Verlags, neben anderen möglicherweise diskriminierenden Wörtern in Preußlers „Die kleine Hexe“ vorbeugend „Neger“ zu ersetzen – sinnigerweise durch „Messerwerfer“.
Der Jim in „Huckleberry Finn“ kann aber kein „Farbiger“ (o.ä.) sein, weil das ein umgekehrter lexikalischer Anachronismus wäre. Denn ein vielleicht politisch korrektes Ersatzwort ändert am (wie auch immer beschaffenen) Faktum selbst nichts. Das trifft auf die Nicht-Hörenden genauso zu wie auf die Nicht-Sehenden. Der Unterschied ist, dass „Taube“ und „Blinde“ von den Betroffenen nicht als Beleidigung angesehen werden, weil sie als Worte sozial nicht geächtet waren. Reinhard Mohr (!) beklagte in der Welt:
„…die ebenso blitzschnelle wie bedenkenlose Moralisierung aller Diskurse, die die Widersprüche der Realität unter sich begräbt. Es geht um Affekte statt um Argumente. Ein Reizwort reicht, und schon gerät die praktische Vernunft unter die Räder. Schande, Scham und der Aufschrei im Chor ersparen das Selberdenken. Nie war die Moral to go billiger zu haben. Beinahe alle Lebensäußerungen werden einem ausgeklügelten Filtersystem unterworfen: Darf man das sagen? Darf man das machen? Ist das korrekt?”
„Man wird schwarz geboren, aber zum Neger gemacht“, behauptet Jonas Hampl 2013 in der ZEIT: „Ich bin froh, dass ich meinen Kindern nicht vorlesen muss, dass Pippis Vater ein Negerkönig ist. Früher hatte das vielleicht etwas Spannendes, Exotisches. Aber wir leben im 21. Jahrhundert. Heute tut es weh…“ Einerlei, ob er damit subjektiv richtig liegt: Zeugt es nicht einerseits von Weltwissen, die Sub- und Kontexte von „Neger“ semantisch einordnen zu können, und andererseits gereiftem Selbstbewusstsein, mit sozialen Enttäuschungserfahrungen umzugehen – zumal der Autor selbst feststellt „Das Wort Neger zu vermeiden, wird den Rassismus nicht ausrotten.“
Fazit: Ein gelöstes Kreuzworträtsel führte 1981 nach dem weltweit größten Schriftprobenvergleich mit 551.198 untersuchten Proben zur Aufklärung eines der bekanntesten Kriminalfälle der DDR. Ein Junge war in Halle entführt, missbraucht, erschlagen und aus einem Zug geworfen worden – in einem Koffer mit einigen alten Zeitungen, deren Kreuzworträtsel teilweise gelöst waren: der so genannte Kreuzworträtselmord. Das Urteil: lebenslänglich für den Täter. 37 Jahre später wird in einem Kreuzworträtsel ein Lösungswort gesucht, das seinerseits Auslöser einer juristischen Auseinandersetzung mit Urteilsverkündung zu werden droht. Das Urteil: noch offen. Das Urteil gegen das Wort „Neger“ aber steht bereits fest: ewige Verbannung mit anschließender vollständiger Tilgung.
Vielleicht muss man ja angesichts vieler neuer nichtchristlicher Mitbürger den Begriff „Kreuzworträtsel“ in ein paar Jahren auch inkorrekt finden und „Kreuz“ umgehend durch einen neutralen Begriff ersetzen. Immerhin: bei „Zamba“ als Lösungswort war noch nirgends ein Aufschrei zu vernehmen. Einerlei ob die Frage „weiblicher afroindianischer Mischling“, „weiblicher Mischling aus Neger und Indianerin“ oder „weiblicher Nachkomme eines schwarzen und eines indianischen Elternteils“ lautet.
PS.: Die Inhaberin der Mohren-Apotheke in Frankfurt-Eschersheim hat am 30. Januar das Logo, das eine schwarze Frau zeigt, von ihrer Internetseite entfernt.
PPS.: Christian Tauchnitz erklärte Anfang Feburar in der FAZ, die Beziehung von Mohr, Moritz oder Mauritius zu Apotheken beruhe darauf, dass er als Heilkundiger galt und die Trennung der Berufe von Arzt und Apotheker erst durch Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen im Jahre 1237 verfügt wurde.