„Wo man singet, laß dich ruhig nieder“
23. April 2018 von Thomas Hartung
Was hat Heino mit dem aus Ghana gebürtigen Ex-Fußballnationalspieler Gerald Asamoah und dem türkischstämmigen, ersten muslimisch-deutschen Schützenkönig Mithat Gedik gemeinsam? Alle drei wurden von Nordrhein-Westfalens neuer Heimatministerin Ina Scharrenbach (CDU) im Dezember 2017 zu „Heimatbotschaftern“ berufen. Auf dem ersten NRW-„Heimatkongress“ im März 2018 strebte die stets sehr korrekt und etwas streng auftretende Unions-Politikerin an, den Heimatbegriff und seine „unsichtbaren Wurzeln“ individuell zu beleuchten. Ohne Asamoah und Gedik, aber mit Heino.
Der Barde wollte einige Wurzeln in einem individuellen Geschenk an Scharrenbach sichtbar machen: seinem Doppelalbum „Die schönsten deutschen Heimat- und Vaterlandslieder“ von 1981. Hätte er das mal lieber gelassen. Auf dem Cover der Schallplatte ist zwar der Vermerk enthalten, Kinder könnten damit im Schulunterricht bestens „mit dem deutschen Liedgut vertraut gemacht werden“. Aber manche der 24 Lieder wurden zu Hitlers Zeiten auch ins „Liederbuch der SS“ aufgenommen.
Nein, es geht nicht um „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“ von Hermann Claudius von 1914, das bis heute Schlusslied von SPD-Parteitagen ist und sich nicht auf der Platte, wohl aber auf S. 45 des Liederbuchs findet. Es geht um ein Lied aus der Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon Anfang des 19. Jahrhunderts: das von Max von Schenkendorf 1814 (!) verfasste Stück „Wenn alle untreu werden“, das später von der SS als „Treuelied“ instrumentalisiert wurde und auf S. 13 abgedruckt ist.
Dass mit dem Lied in der NS-Zeit auch Widerstand gegen das Regime zum Ausdruck gebracht wurde, hat niemand interessiert. So berichtet Heinrich Böll in seinen Lebenserinnerungen, dass er es mit einem Freund aus Widerstand gegen das von der Hitlerjugend gesungene Horst-Wessel-Lied anstimmte – und dafür Schwierigkeiten bekam. Heino verwendete für seine Version sogar eine andere Melodie als sie in der SS üblich war – vergebens, der „Skandal“ wurde hochgeschrieben.
Denn dem Schlagersänger wird seit langem eine unkritische Haltung zu völkischem Liedgut vorgeworfen, weswegen er auch in der DDR verboten war. Zu Zeiten der Apartheid hatte er in Südafrika seinen Schlager „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ zum Besten gegeben. Für den damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten und einstigen NS-Marinerichter Hans Filbinger (CDU) sang er alle drei Strophen des Deutschlandlieds. Deswegen blieb das Bundesverdienstkreuz dem 79-Jährigen versagt, der die Aufregung nicht versteht: „Wenn man danach sucht, findet man immer ein Lied, das missbraucht worden ist. Die Lieder können doch nichts dafür, wenn sie instrumentalisiert worden sind“.
CDU-Politikerin Scharrenbach ließ zunächst mitteilen, das von Heino überbrachte Geschenk sei „bei der Übergabe nicht unter dem Aspekt der politischen Korrektheit überprüft worden“. Sie habe vor der Annahme des Geschenks auch „nicht die Titel der Schallplatte zur Kenntnis genommen“. Und aus einem beim Kongress entstandenen Foto mit ihr, Heino und der Schallplatte lasse sich keine inhaltliche Nähe zu den Titeln konstruieren. Sie verwahre sich strikt dagegen, „in irgendeiner Weise mit der nationalsozialistischen Ideologie in Verbindung gebracht zu werden“. Tage später relativierte sie: „Wenn es da ein Interesse gibt, irgendeine Person zu beschädigen, dann nehme ich das zur Kenntnis. Heino macht seit vielen Jahrzehnten Musik – und ist bei vielen Bürgern beliebt.“
Tonkunst als Staatskunst
Der Vorgang ist der jüngste Höhepunkt einer musikpolitischen Entwicklung, die Tonkunst immer mehr als Staatskunst in zwei Formen mit je drei Indizien erscheinen lässt. Einerseits wird der „Gesinnungskorridor“ (Uwe Tellkamp), in dem deutsches Musikgut unverdächtig erscheint, stetig schmaler. Erstes Indiz: die Reglementierung „belasteter“ Stücke, die nicht nur Heino betrifft. So kündigte Münchens Zweiter Bürgermeister Josef Schmid (CSU) für das Oktoberfest eine „Rote Liste“ einschlägiger Stücke an, die nicht gespielt und den teilnehmenden Kapellen übermittelt werden sollen.
Drei Mitglieder des Stadtrats der Fraktion Die Grünen/Rosa Liste hatten im Oktober 2017 sofort den Antrag gestellt, „Nazi-Märsche“ von der Wiesn zu verbannen, nachdem die Zillertaler Blaskapelle den „Standschützenmarsch“ gespielt hatte: Der Komponist des Liedes, Sepp Tanzer, dirigierte am Brenner einst sogar vor Hitler und Mussolini. Dass damit zugleich eingestanden wird, dass 70 Jahre lang in der BRD „Nazilieder“ gespielt worden sein müssen, fiel niemandem auf. Je weiter man sich zeitlich von den bewussten „12 Jahren“ entfernt, umso hysterischer fallen die Reaktionen aus.
Ein zweites Indiz des Gesinnungskorridors ist die Unterstellung von Musik als „rechtsextrem“, wie sie neben „FreiWild“ vor allem Xavier Naidoo traf. Der Tourauftakt der „Söhne Mannheims“ mit ihrem Leadsänger sorgte im Frühjahr 2017 für panische Reaktionen – vor allem das Lied „Marionetten“: „Wie lange wollt ihr noch Marionetten sein? Seht ihr nicht, ihr seid nur Steigbügelhalter. Merkt ihr nicht, ihr steht bald ganz allein. Für eure Puppenspieler seid ihr nur Sachverwalter.“ Oberbürgermeister Peter Kurz forderte „seine“ Söhne auf, diese „antistaatlichen Aussagen“ im Refrain zu erklären.
ein Sänger im „Wutbürger-Morast“
Laut der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung ist der Begriff „Marionetten“ ein Sprachbild aus dem Repertoire des klassischen Antisemitismus. Die FAZ verstieg sich zur Behauptung „Reichsbürger-Hymne“, die BZ textete „Er benutzt radiofreundliche Popmusik, um fundamentalistische und rechtsextremistische Positionen mitten im deutschen Mainstream zu verankern“. Für den Spiegel ist das „umstürzlerische, staatsfeindliche Rhetorik von Pegida und der AfD-Rechten“ eines Sängers im „Wutbürger-Morast“. Und in der ZEIT stand tatsächlich dieser Satz: „Für die Zukunft wünsche ich dir allen Boykott, den du bekommen kannst.“
Jan Böhmermann parodierte die „Hurensöhne Mannheims“, mit denen „jeden Tag Montagsdemo in deinem CD-Player“ sei, und schlug den neuen Naidoo-Song für den „Lutz-Bachmann-Preis für nicht-entartete Kunst“ vor. Der Gipfel: „Das ist plumper und gewaltverherrlichender Pegida-Sprech“, sagte die grüne Bundestagsvize Claudia Roth. Prompt verlangte in Rosenheim ein Bündnis namens „Kein Hass auf Rosenheims Bühnen“, die Söhne Mannheims aus dem örtlichen Sommerfestival im Mangfallpark 2017 wieder auszuladen. Naidoo sei ein „Hassprediger“, sagt Bündnissprecher Johannes Müller. Da kann man auch gleich die Spielerlaubnis der DDR wieder einführen.
Aber auch ausländische Künstler müssen für „rechte“ Sätze Kritik einstecken. Der schon mal mit einem Tischtuch als Kopftuch dekorierte Österreicher Andreas Gabalier ebenso wie Morrissey, der im „Spiegel“-Interview erklärte, dass Berlin wegen der von Angela Merkel offen gehaltenen Grenzen zur „Vergewaltigungshauptstadt“ geworden sei, und forderte: „Ich will, dass Deutschland deutsch ist.“ „Welt“-Journalist Alan Posener zeterte auf Twitter: „Wer gibt einen Scheiß drauf, was er denkt?“
Ein drittes Indiz des Gesinnungskorridors ist die Verurteilung vorgeblich „unpolitischer“ Musik – von „politischem Eskapismus“ spricht Ex-„Spex“-Chef Torsten Groß, von „Biedermeier-Stimmung in den Hitparaden“ Jens Balzer im DLF. Böhmermann attestierte den sogenannten neuen deutschen Pop-Poeten wie Max Giesinger, Tim Bendzko und Andreas Bourani eine „nur oberflächig camouflierte Rückkehr in die eskapistische Welt des Weitermach- und Verdrängungsschlagers der Nachkriegszeit“, kurz „Industriemusik“. Micky Beisenherz fügte Anfang März im „Stern“ auch noch Wincent Weiss, Adel Tawil und Lena Meyer-Landrut hinzu – in seiner Diktion „tumbe Gesellen“.
Vor allem Giesingers „Wenn sie tanzt“ stand in der Kritik: darin manifestiere sich der Vorzug kinderloser Selbstverwirklichung, die Mutterpflichten schlüge (!). Deswegen könne sie weder „auf ein Date gehen“ noch „eine Pause einlegen“. Als Mittel gegen die Frustration aus dieser Gemengelage empfiehlt Giesinger eine sparsam dosierte Realitätsflucht: „Wenn sie tanzt, ist sie woanders.“
Reimer Burstorff, Sänger und Bassist der explizit linken Band „Kettcar“, meinte dagegen im DLF: „Wir haben für uns erkannt, dass es für uns nicht reicht, was gerade in der deutschsprachigen Musik passiert. Dass es nur noch um Liebeslieder geht und Gesellschaftkritisches, Politisches nicht stattfindet. Wenn man schon ein Mikrofon in der Hand hat, sollte man sich gegen Rassismus aussprechen“. Clueso behauptete gar „Jeder Künstler sollte eine politische Meinung haben, diese auch vertreten und Gesicht zeigen.“
Tote Hosen-Sänger Campino ging noch einen Schritt weiter und warf der rußlanddeutschen Helene Fischer vor, sich nicht gegen rechts zu positionieren. Er sieht dahinter Taktik von Fischers Management, das womöglich keinen Ärger wolle und sie daher anhalte, zu politischen Themen den Mund zu halten. Für ihn keine Option: „Die Tatsache ist doch, dass man eher bereit sein muss, bei den Fans Verluste hinzunehmen, wenn man sich politisch positioniert.“
„Deutschland verrecke, das wäre wunderbar!“
Andererseits werden die Zuschreibungen politisch korrekter Musik immer häufiger und lauter. Erstes Indiz sind hier mehr Würdigungen dezidiert „linker“ Musik. Nun gelten Musik und Politik in Deutschland sowieso als vor allem linkslastig miteinander verbunden – man denke etwa an die Burg-Waldeck-Festivals oder gar Claudia Roth als einstige Managerin von Ton Steine Scherben, erst recht die DDR-Traditionen des „Festivals des Politischen Liedes“ oder „Rock für den Frieden“. In dieser Tradition steht heute immer noch der Punk. Etwa die Band „Feine Sahne Fischfilet“, die wegen „explizit anti-staatlicher Haltung“ im Verfassungsschutzbericht des Landes Mecklenburg-Vorpommern zwischen 2011 und 2014 erwähnt und 2016 von damaligen Bundesjustizminister Heiko Maas für ihr „Engagement gegen Rechts“ gelobt wurde.
In den Texten finden sich Verse wie: „Die nächste Bullenwache ist nur einen Steinwurf entfernt“ („Wut“), „Deutschland verrecke, das wäre wunderbar!“ („Gefällt mir“) oder auch „Eure Knüppel kriegt ihr in die Fresse rein und danach schicken wir euch nach Bayern, denn die Ostsee soll frei von Bullen sein“ („Staatsgewalt“). “ Die Combo durfte im Januar ihr fünftes Studioalbum „Sturm und Dreck“ in der ARD-Tagesschau umsonst bewerben. Prompt erreichte es Platz 3 der deutschen Charts. In Konzerten werden Songs wie „Solange es brennt“ all jenen „Leuten und Kids auf den Dörfern, die sich nicht diesem räudigen Rechtsruck hingeben“, gewidmet. Die „Donots“ mit ihrem ebenfalls im Januar veröffentlichten elften Studio-Album „Lauter als Bomben“ gehören ebenso in diese Reihe.
Zweites Indiz sind wohlfeile Statements korrekter bis linker Musiker, was natürlich die Gefahr von Fan-Abkehr bedeuten mag, wie Campino richtig erkannte. So unterbrach jüngst Santiano-Frontmann Björn Both eine Zeitlang die Konzerte, um bedeutungsschwangere Worte zum Thema Freiheit anzukündigen, „aus gegebenem Anlass“. So gebe es in Europa bereits Länder, in denen die Völker freiwillig Despoten an die Macht gewählt hätten. Auch hierzulande sei die Freiheit in Gefahr: Es gebe im Parlament inzwischen eine Partei – die AfD – die die Freiheit gefährde und gegen diese Soße, diese Arschlöcher, gelte es, die Freiheit zu verteidigen. Nach einem Facebook-Shitstorm sah sich die Band dann keine zwei Tage später zum Zurückrudern genötigt und kündigte an, ab sofort bei Live-Konzerten auf politische Inhalte zu verzichten.
Schon als Roland Kaiser die Pegida-Bewegung kritisierte und dazu aufrief, sich „vorbehaltlos auf Menschen einzulassen“, erntete er dafür tausende „Buhs“. Darunter von Pegida-Mitgründerin Katrin Oertel, die Mitte Januar 2015 vor 25.000 Demonstranten beklagte: „Da hätten Sie etwas mehr Neutralität uns gegenüber zeigen können. Nie sind Sie auf uns zugekommen, um mit uns zu reden. Wir sind zu Ihnen gekommen. Was wollen Sie jetzt tun? Uns nicht mehr reinlassen?“
„wenn auch mal Populisten herumschreien“
Als Statement sind natürlich auch spezielle Events willkommen. So sangen Ende März am Zwickauer Kornmarkt rund 200 Besucher mit „Prinzen“-Sänger Sebastian Krumbiegel Lieder von Frühling und Frieden. Der Grund für Krumbiegels Singen: ein paar Meter weiter auf dem Markt hatte die Bürgeroffensive Deutschland die vierfache Besucherzahl unter dem Motto „Fehlpolitik Deutschland“ versammelt – obwohl dort niemand für Krieg demonstrierte. Bei Lesungen aus seiner Autobiographie „Courage zeigen – Warum ein Leben mit Haltung gut tut“ gibt er zwar zu sich zu schämen, die Montagsdemo am 9. Oktober 1989 aus Angst nicht besucht zu haben, andererseits gehe er aber heute gegen Pediga und deren Ableger auf die Straße, weil es wichtig sei, weiterhin Haltung zu zeigen.
Aber schon zum AfD-Bundesparteiparteitag im April 2017 riefen viele einheimische Musiker und DJ’s zu Aktionen unter Slogans wie „Köln stellt sich quer“, „Köln gegen Rechts“ oder „Bunt statt Bla“ auf, darunter die „Bläck Fööss“, „Brings“, die „Höhner“ und die „Arsch huh Allstar Band“. Besonders aktiv zeigt sich Campino, der sich laut Interview mit dem Magazin „Rolling Stone“ bei Angela Merkel für deren Flüchtlingspolitik noch bedanken würde. Als er 1982 die „Toten Hosen“ mitgründete, stand die Band vor allem für eines: eine radikale Ablehnung des Establishments, der Bürgerlichkeit, ja eine fundamentale Opposition zu allem, was irgendwie nach Mainstream oder gar Regierung roch. 35 Jahre später spielten sie auf einer Anti-Pegida-Veranstaltung in Dresden.
„Mit diesem Auftritt lag die Band genau in der vorgegebenen Linie“, erklärte damals die Dresdner AfD. „Ablehnung der Bürgerlichkeit? Kaum, denn erstens sind die Bandmitglieder mittlerweile allesamt gutbürgerlich finanziell versorgt, und zweitens war dies eine Veranstaltung, die ganz explizit das ‚Bürgertum‘ zum Protest gegen die Pegidianer aufrief. Fundamentale Opposition gegen die Regierung? Mitnichten, sondern ganz auf deren Linie. Oder wenigstens gegen den Mainstream? Vergessen wir das, die Mugge, die vor wenigen hundert Demonstranten stattfand, wurde von den Mainstreammedien bejubelt wie ein achtes Weltwunder.“
Der Echo als „linker“ GAU
Die andere Seite der derselben Medaille ist die (wenigstens anfängliche) Verharmlosung problematischer Inhalte, die aber augenscheinlich nicht „rechts“ interpretierbar sind, sondern im Gegenteil links semantisiert und/oder gleich mit marktwirtschaftlicher Perspektive entschuldigt werden können. Das trifft vor allem auf den Hip-Hop und erst recht seine Spielart Rap zu – eine Musikrichtung mit Wurzeln in der afroamerikanischen Funk- und Soul-Musik, in die man damit Mythen von „Empanzipation“, „Protest“ oder gar „Befreiung“ hinein interpretieren kann.
Interpretationswürdig sind aber auch Zeilen wie „Mache wieder mal ‚nen Holocaust, komm‘ an mit dem Molotow“ der Rapper Kollegah und Farid Bang auf dem Album „Jung, brutal, gutaussehend 3“, für das das Duo den Echo 2018 in der Kategorie Hip-Hop/Urban National gewann. Die Antisemitismus-Debatte um diese und andere Zeilen nahm aber erst an Fahrt auf, nachdem viele Geehrte wie Sänger Marius Müller-Westernhagen, Bassist Klaus Voormann oder die Dirigenten Christian Thielemann und Daniel Barenboim ihre Preise zurückgaben oder explizit „linke Kollegen“ wie Campino oder Klaus-Voormann-Laudator Wolfgang Niedecken ihre Stimme erhoben. Mit letzterem rechnete Klaus Lelek unter der Schlagzeile „Echo der eigenen Verlogenheit“ anhand des „Kristallnach“-Textes scharf ab.
Nun gab man sich bei Bertelsmann reumütig. „Wir hatten den Vertrag über ein Album. Jetzt lassen wir die Aktivitäten ruhen, um die Haltung beider Parteien zu besprechen“, sagte Vorstandschef Hartwig Masuch der FAZ und entschuldigte sich bei „den Menschen, die sich verletzt fühlen. Meine Mitarbeiter und ich stehen mit den Künstlern in Kontakt, und die distanzieren sich klar von jeder Form von Antisemitismus. Das tun wir auch.“
Hans Hoff kommentiert auf „DWDL“ drastisch: „Ganz offensichtlich will hier jemand akut Schadensbegrenzung betreiben, weil die ganze Angelegenheit nun doch auf Bertelsmann zurückzustrahlen droht. Man kennt so ein Verhalten zur Genüge. Ein Unternehmen macht sich klein, lässt Gras über die Sache wachsen und macht dann weiter wie vorher. Da helfen auch nicht 100 000 Euro aus der Konzernschatulle, die Projekte zur Bekämpfung der Welle von Antisemitismus an deutschen Schulen fördern sollen.“
Für Andreas Schnadwinkel geht es im „Westfalen-Blatt“ um die Glaubwürdigkeit des Gesamtkonzerns: „Bertelsmann muss sich entscheiden: Soll die Musiksparte BMG weiter mit anti-jüdischen Songs muslimischer Rapper Geld verdienen? … Hier steht Reinhard Mohns Erbe auf dem Spiel. Der Bertelsmann-Gründer war ein ausgewiesener Freund des jüdischen Staates Israel und Träger des Teddy-Kollek-Preises, benannt nach dem legendären Bürgermeister Jerusalems.“ Den künstlerischen Wert der „musikalischen Primitivität“ dieser Rapper sucht Thomas Rietzschel auf der „Achse des Guten“ und kritisiert „die kulturelle und moralische Unterbelichtung einer Gesellschaft, der es unterdessen völlig egal ist, von wem sie sich aufheizen lässt.“
„Schlimm sind nicht in erster Linie die Reaktionen auf das Ergebnis, auf die Nominierung, den Auftritt“, haut Anabel Schunke in dieselbe Kerbe. „Schlimm ist, welchen Erfolg Rapper wie diese vor allem bei der jungen Generation haben, die sie mittlerweile zu großen Teilen prägen und dass die Diskussion ausgerechnet an dieser Generation vollkommen vorbeigeht. Es sind vornehmlich jene jungen Muslime, deren rassistische und antisemitische Ausbrüche wir mittlerweile auf den Schulhöfen und auf den Straßen dieses Landes erleben dürfen.“
Und so zeige sich einmal mehr, dass sich das Problem weder an Ausschlüssen oder Nicht-Ausschlüssen von Veranstaltungen, noch an den „Künstlern“ selbst manifestiert, sondern an den Fans, die ihre Musik, ihre Klamotten und Konzertkarten kaufen: „Der Erfolg eines Künstlers am Markt bemisst sich eben nicht nach einer vorgegebenen Moral oder Kriterien des „guten Geschmacks“, sondern nach der Nachfrage. Nichts könnte das besser verdeutlichen als ein Musikpreis, der vorrangig nach Verkaufszahlen vergeben wird.“
„wenn auch mal Populisten in ihr herumschreien“
Drittes Indiz ist die Verweigerung von Musik für unterstellt „falsche“ Gesinnung. So ging der der „bekennende Sozialdemokrat“ Paul van Dyk gegen die Verwendung seines Songs „Wir sind wir“ durch die AfD juristisch vor. Zwar war Dyk einst der Meinung, „eine starke Demokratie müsste es aushalten, wenn auch mal Populisten in ihr herumschreien“. Das gelte aber, lässt er sich im „Stern“ zitieren, nicht für sein geistiges Eigentum. Er erwirkte eine Abmahnung gegen die Partei ebenso wie Max Giesinger wegen der Nutzung seines Songs „80 Millionen“. Giesingers Begründung: „Es verärgert mich extrem, dass eine Partei, deren politische Einstellung ich in keinster Weise teile, meine Musik für ihren Wahlkampf instrumentalisiert und ohne mein Wissen benutzt.“
Nicht überliefert ist, worauf sich der interpretative Unmut beider Künstler eigentlich bezieht. In einem legendären Antrag für den Europaparteitag der Linken Mitte Februar 2015 in Hamburg erklärte der Detmolder Horst Schmitt, dass bei Liedern bzw. Text mit Musik der politische Anteil allein durch die Musik immer mindestens 50 Prozent betrage. Daher sei die „gesangliche musikalische Intonierung des Liedes ‚Die Internationale‘ zwar kämpferisch, aber auch militaristisch, gewalt- und kriegsverherrlichend“, mithin ein Symbol des Kapitalismus und Militarismus und damit ein Element des rechten politischen Spektrums genauso wie die deutsche Nationalhymne sei.
Der Wanderklassiker „Hoch auf dem gelben Wagen“ wäre etwa vom ehemaligen Bundespräsidenten Scheel (FDP) gezielt eingesetzt worden, „da es mit einem unbedeutendem Text aber von der musikalischen Grundintention monoton rhythmisch, damit militaristisch, kriegsverherrlichend und Symbol der Nationalisten wie Rechten ist, um rechtspolitische Wählerschichten verdeckt anzuspielen und zu gewinnen“. In künftigen Verhandlungen könnten dann Aspekte wie „prozentualer Politikanteil“ oder „rhythmische Messbarkeit von Militarismus“ eine Rolle spielen.
Zu diesem Indiz kann einem aber auch eine Gegenthese einfallen, die im DLF Jens Balzer beschrieb: „Also der coole politische Zeitgeist ist eben nicht mehr auf der Seite der Linken, sondern auf der Seite der Rechten. Aber wenn es tatsächlich die neuen 68er sind, dann sind es die neuen 68er ohne Musik. Also die alten hatten immerhin Joan Baez und Neil Young und Grateful Dead und in Deutschland Ton Steine Scherben oder die Ärzte. Aber die angeblichen neuen 68er der deutschen Rechten, da gibt es gar nichts.“
Das wiederum wäre bedenklich, denkt man Johann Gottfried Seumes Gedicht „Die Gesänge“ konsequent zu Ende: „Wo man singet, laß dich ruhig nieder, / Ohne Furcht, was man im Lande glaubt; / Wo man singet, wird kein Mensch beraubt; / Bösewichter haben keine Lieder.“
P.S.: Am 25.04. wurde vom Bundesverband Musikindustrie mitgeteilt, dass der „Echo“ so stark beschädigt worden seit, dass es einen völligen Neuanfang geben müsse. Der Preis existiert damit nicht mehr.