„…‚tabula rasa‘ mit der Vergangenheit zu machen“
24. Juni 2018 von Thomas Hartung
Wenn Russland in den 1. Weltkrieg einträte, endeten die Romanows in einem Blutbad. Sie endeten auch so, wenn ein Verwandter der Romanows sich an seinem Leben vergriffe. Beide Prophezeiungen verkündete Nikolai II. Romanow ein sibirischer Mönch namens Rasputin. Er hatte sich als Wunderheiler das Vertrauen der Zarin Alexandra erschlichen, die in steter Sorge um den an der damals noch unheilbaren Hämophilie erkrankten Thronfolger Alexej war, und soll, welche Ironie der Geschichte, von Putins Großvater Spiridon beköstigt worden sein, der später auch Lenin und Stalin bekochte.
Beide Orakel trafen auf schreckliche Weise ein. Das zweite in Gestalt von Großfürst Dmitri Romanow: mit ihm war ein Cousin von Nikolai II. unter den drei Rasputin-Attentätern. Das erste in Gestalt der elf Schergen des Erschießungskommandos: neben vier russischen Bolschewiki sieben ungarischen Kriegsgefangenen unter der Leitung des jüdischen Tschekisten Jankel Chaimowitsch (Jakow) Jurowski – russische Soldaten könnten sich weigern, die Zarenfamilie zu erschießen, so die Befürchtung.
Mit dem Tod von Nikolai II. endete nach 300 Jahren die erfolgreichste russische Zarendynastie am 17. Juli 1918. Die Tragödie des letzten Zaren begann mit seiner Thronentsagung am 2. März 1917: „Um mich her sehe ich Verrat, Feigheit und Betrug“, schrieb er in sein Tagebuch. Es war vor allem die seit längerem vorbereitete Revolution von oben, die den Zaren zu Fall brachte, angeführt vom späteren Präsidenten der Übergangsregierung Alexander Kerenski, der den Zaren zunächst ins Exil schicken wollte. Da die Familie selbst aber nie den Wunsch äußerte, ins Exil zu gehen, verbannte er die Romanows samt kleinem Gefolge im August 1917 ohne jede juristische Handhabe ins sibirische Tobolsk.
Rechtfertigung vor den Augen der Weltöffentlichkeit
Der Sturz der Kerenski-Regierung Ende Oktober 1917 und die damit einhergehende Machtübernahme der Bolschewiki verschlechterte die Situation für die Verbannten. Denn: spätestens seit der gescheiterten ersten russischen Revolution 1905 mit dem „Petersburger Blutsonntag“ und vor allem dem Eintritt Russlands in den 1. Weltkrieg hatten der wie sein Vater autokratisch agierende Nikolai II. und seine Familie jeden Bezug zum Volk verloren, das in bitterster Armut dahin vegetierte.
Den Ausschlag zur Radikalisierung Rußlands gab die laut Armin Jähne „im Volke tiefsitzende Überzeugung von der Schuld des Zaren und der Romanows am russischen Kriegsdesaster, an sozialer Ungerechtigkeit und der so vielgesichtigen Willkür in der russischen Gesellschaft. Hinzu kam das im Bewusstsein der breiten Masse fest verankerte Bild von Nikolai II. als ‚Blut‘- und ‚Hungerzar‘. Verständlich, dass eine jetzt freie Presse sensationslüstern über die Zarenfamilie herfiel“. Sie berichtete über Rasputin ebenso genüsslich wie sie aus der deutschen Abstammung der Zarin „Deutschenliebe“, ja Hochverrat konstruierte, also die Weitergabe militärischer Geheimnisse an Wilhelm II. Es gab mehrfach Versuche, die Verbannungs-Aufenthalte der Zarenfamilie zu stürmen und sie zu liquidieren.
Wilhelm II. wollte seinen Cousin nicht im Stich lassen und verfolgte im Frühjahr 1918 im Bemühen, ihm eine Brücke aus Russland heraus zu bauen, die merkwürdige Idee, dass der demütigende Brester Friedensvertrag im Nachhinein auch durch den ehemaligen Zaren in Moskau mitunterzeichnet werden sollte. Die geplante Rückverlegung in die Hauptstadt scheiterte, der Zug wurde in Omsk gestoppt und nach Jekaterinburg zurückgeleitet, wo die Familie am 30. April das Ipatjew-Haus beziehen musste – womit sie von nun an dem direkten Zugriff der Moskauer Regierung unter Lenin endgültig entzogen war. In Russland existierten nämlich mehrere revolutionäre Zentren, die nominell zwar der Regierung in Moskau unterstanden, aber unabhängig handelten. Der Ural war eins davon.
Von einem starken Industrieproletariat geprägt, war Jekaterinburg aber nur eine von mehreren revolutionären Zitadellen im Ural. Der „Besitz“ der inhaftierten Zarenfamilie stellte einen hohen Prestigewert dar, der sich auch als Druckmittel gegen die Zentralregierung in Moskau verwenden ließ, erkannte Jähne. Hinzu kam, dass in Perm, einer weiteren Zitadelle, der Zarenbruder Großfürst Michail nach einer fingierten Entführung am 13. Juni von der örtlichen Tscheka ermordet wurde.
Kurz darauf forderte Trotzki, um Nikolai und das von ihm repräsentierte politische System vor aller Welt anzuprangern, einen öffentlichen Schauprozess möglichst in Moskau. Angesichts der prekären Situation im Lande ließ sich ein solcher Vorschlag aber nicht verwirklichen: Nach den Siegen der Konterrevolution in Westsibirien wurde am 23. Juni in Omsk die Provisorische Sibirische Regierung ausgerufen, dennoch rückten weissgardistische Truppen stetig vor.
Zudem, erklärt Jähne, „dürften die juristisch geschulten Revolutionsführer um Lenin, wie schon Kerenski, gewusst haben, wie schwer es werden würde, den ehemaligen Zaren auf gerichtlichem Wege zu belangen und namentlich des Hochverrats zu überführen. Außerdem hätte die zu erwartende exemplarisch hohe Strafe im Falle Nikolais vor den Augen einer weltweiten Öffentlichkeit gerechtfertigt werden müssen.“
Anfang Juli übernahm die Bewachung der Romanows die örtliche Tscheka unter Jurowski – „sein Gesicht ist sehr unangenehm“, notiert die Zarin in ihrem Tagebuch. Der Vorsitzende des Uraler Gebietssowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, der am 12. Juli aus Moskau zurückgekehrt war, brachte die Weisung mit, dass angesichts des nicht mehr zu stoppenden Vormarschs der weissgardistischen Armeen die flexibleren örtlichen Organe über das Schicksal der Zarenfamilie entscheiden sollten. Am 14. Juli beschloss das Exekutivkomitee des Uraler Sowjets auf einer außerordentlichen Sitzung den Tod aller im Ipatjew-Haus inhaftierten Personen.
Der eigentliche Mordbefehl kam am 16. Juli als verschlüsseltes Telegramm aus Perm an. „Ob die Moskauer Zentralregierung den Hinrichtungsbeschluss initiiert, ihm Vorschub geleistet, davon gewusst und ihn von vornherein für richtig befunden hat, kann bei der jetzigen Quellenlage nicht eindeutig beantwortet werden“, weiß Jähne.
„wegen seiner Verbrechen gegen das Volk“
Die Gefangenen haben die Ereignisse der letzten Monate ihres Lebens in Tagebüchern minutiös festgehalten: Alle Privilegien sind abgeschafft, die Lebensmittel rationiert. Bei Tisch herrscht Redeverbot. Immer neue Schikanen bedrücken das alltägliche Leben: „Wir leben wie im Kerker!“, notiert der ehemalige Zar empört und hilflos zugleich. Erstmals liest Nikolaus den Roman „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoj – und versteht zu spät die Lektion der Geschichte. „Mit Nicky Karten gespielt. 10 Uhr zu Bett. 15 Grad.“, so lautete Alexandras letzter Tagebucheintrag.
In der Mordnacht wird zunächst Leibarzt Botkin geweckt: In der Stadt gäbe es Unruhen, alle sollen in den Keller gehen. Der Arzt macht neben der Zarenfamilie noch den Diener, das Kammermädchen und den Koch munter. Insgesamt werden elf Menschen in dem leeren Kellergeschoss versammelt. Nikolaus II. trägt seinen kranken Sohn auf dem Arm. Gegen 1.30 Uhr betritt Jurowski mit seinen Gehilfen den Raum, lässt die Familie sich für ein „Foto“ aufstellen, verliest das Urteil und erschießt den Zaren.
Sofort eröffnen die anderen Bewaffneten das Revolverfeuer auf die ihnen zugeteilten Personen. Allerdings prallten vom in die Korsagen eingenähten Schmuck der Frauen viele Kugeln ab – die „Blutdiamanten“ sind seitdem zur begehrtesten Trophäe einer weltweiten Jagd nach dem Zarenschatz geworden. Bajonette mussten also eingesetzt werden. Die Prozedur dauerte 20 grausame Minuten.
Anschließend wurden die entkleideten Leichen in einen 15 km entfernten Schacht geworfen, jedoch am nächsten Tag wieder herausgeholt. Alexandra und Alexei sollten verbrannt werden, die Zarin wurde allerdings mit Maria verwechselt und beide an Ort und Stelle begraben. Anschließend ließ Jurowski die restlichen Leichen in eine Grube bringen, mit Schwefelsäure unkenntlich machen, mit Erde überschütten und die Stelle mit Baumstämmen beschweren, über die mehrmals ein Lkw fuhr.
Am 19. Juli meldete die Moskauer „Iswestija“, der Zar sei „wegen seiner Verbrechen gegen das Volk“ hingerichtet worden. Man habe Nikolai II. vor ein Gericht stellen wollen, was eine weissgardistische Verschwörung jedoch verhindert habe, so die bolschewistische Erklärung. Die Gattin und der Sohn des Zaren, hieß es weiter, seien „an einen sicheren Ort“ gebracht worden. Von den Töchtern kein Wort. Während sich nur Kreise der Monarchisten schockiert zeigten, blieb im Land die öffentliche Reaktion auf die Todesnachricht verhalten. Dies zeugt für viele Historiker davon, wie unbeliebt, ja verhasst der Ex-Zar war.
„weil viele Revolutionäre aus dem Lumpenproletariat stammten“
Das Verschwinden der Familie war zugleich der Nährboden für zahlreiche Gerüchte, die sich schnell verbreiteten. Viele Gläubige wollten, trotz der öffentlichen Bekanntmachung seiner Erschießung, den Tod Nikolais weder glauben noch wahrhaben. Erst recht unfassbar gerade im Ausland war die grausame Ermordung der gesamten Familie. Die Bolschewiki hielten an ihrer Darstellung fest. Als die Weißen gerade eine Woche später Jekaterinburg einnahmen und mit der Tatsache des Zarenmordes konfrontiert waren, setzten sie mit Nikolai Sokolow sofort einen Sonderermittler ein.
Alle Mutmaßungen und auch Hoffnungen, die den gleichsam unfassbaren Tatbestand negieren oder wenigstens relativieren wollten, erwiesen sich bis zum Beginn der 1990er Jahre als außerordentlich zählebig und ranken sich um drei Narrative: die gesamte Zarenfamilie blieb am Leben und wurde an einen geheimen Ort gebracht (Simulation ihres Todes); nur der Zar wurde exekutiert, die Familie aber verschont und an einen geheimen Ort (Kloster, die Stadt Perm) gebracht; aus der Familie überlebten einzelne Kinder das Massaker, nach der einen Version der Thronfolger, nach der anderen Anastasia.
Dennoch erschien paradox, wie rasch sich die Untat propagandistisch zu Gunsten der Konterrevolution ausschlachten ließ, „um die Bolschewiki als blutrünstige, gesetzlose Mörderbande zu brandmarken, die keine Gnade verdient: Der tote Zar konnte politisch leichter und nutzbringender instrumentalisiert werden als die vage Hoffnung, dass der ungeliebte und überflüssige Ex-Monarch noch am Leben sei und der Befreiung harre“, wundert sich Jähne.
Schon die Veröffentlichung des Buches von Sokolow 1924 ließ keinen Zweifel mehr an der Ermordung der gesamten Zarenfamilie: Bei seinen Ermittlungen fand er den Schacht, in den die Leichname in der Nacht der Ermordung geworfen wurden, entdeckte auch zahlreiche persönliche Gegenstände der Zarenfamilie, Revolverkugeln, Knochenstücke und Asche.
Der Gorbatschow-Intimus und Perestrojka-Architekt Alexander Jakowljew stellte die Tat 1992 in einen größeren Zusammenhang von „rotem Terror“, der zugenommen habe, „weil viele Revolutionäre aus dem Lumpenproletariat stammten. Das waren Menschen, die nichts besaßen, denen es an allem mangelte – die ‚Erniedrigten‘, um einen Ausdruck von Lew Tolstoj aus seinem Roman ‚Auferstehung‘ zu benutzen. Das Gefühl der Erniedrigung schlug in Extremismus der verschiedenen Spielarten um – ein Ausdruck des Willens, alles zu zerstören und tabula rasa mit der Vergangenheit zu machen.“ Er sprach von einer Eigendynamik, deren Mechanismen sich weitgehend verselbständigten und streckenweise politischer Vernunft entzogen; auch weil „die Massen ohne jede organische Struktur und Disziplin sich selbst überlassen worden waren, nachdem man sie zunächst mobilisiert hatte.“
„Unendliche Kette voller Mystifikationen“
Das Massaker im Keller des Ipatjew-Hauses war eine barbarische Dummheit im für die Bolschewiki unpassendsten Moment. Sie zwang sie zur Manipulation der Wahrheit und zog damit immer neue Lügen nach sich: „bis auf den heutigen Tag eine unendliche Kette voller Mystifikationen, Zweifeln, Hoffnungen, Hochstapeleien, voller falscher Gefühle, Heuchelei, nationalistischer Geisterbeschwörung und neuerlicher Verklärung einer fragwürdigen Vergangenheit“, wie Jähne zu Recht bemerkt.
Eine der zentralen Figuren für Hochstapeleien ist Anastasia, die jüngste Zarentochter: Verschiedene Frauen wie die Amerikanerin Eugenia Smith und eine Frau, die sich später Anna Anderson nannte, gaben sich als die überlebende Zarentochter aus. Allein acht Filme basieren auf diesem Plot. Anastasia Romanowa ist zudem ein spielbarer Charakter in zwei Videospielen.
Der Tod machte den verachteten Zaren noch einmal groß und zum Märtyrer. Deshalb sollte nichts mehr von ihm künden, und die Leichname sollten für immer unauffindbar sein. Selbst das zum Museum umgestaltete Ipatjew-Haus wurde am 27. Juli 1977 auf Weisung Boris Jelzins, damals örtlicher Parteisekretär, abgerissen. Als 1978 ein Jekaterinburger Einwohner eine Wegbefestigung aus Baumstämmen als Grab enttarnte und menschliche Schädel mit Säurespuren entdeckte, weigerten sich alle Experten, die Schädel zu untersuchen, so dass sie der Finder wieder an der Fundstelle vergrub.
Erst nach dem Ende der Sowjetunion wurden 1991 bei offiziellen Ausgrabungen Schädel und Skelettteile von neun Opfern gefunden: fünf weiblichen und vier männlichen, die sich als sterbliche Überreste von Nikolaus II., seiner Frau Alexandra, der Zarentöchter Olga, Tatjana und Anastasia sowie der vier Bediensteten der Zarenfamilie erwiesen. Laut Chefermittler Wladimir Solowjow wurde dazu sogar eine Blutprobe von Prinz Philipp, Prinzgemahl der britischen Königin Elisabeth II., genommen, da er ein entfernter Verwandter von Zarin Alexandra Fjodorowna war.
Die so identifizierten Romanows wurden in ihrer Familiengruft in St. Petersburg im Juli 1998 mit einem Staatsbegräbnis beigesetzt. Der damalige russische Präsident Jelzin besuchte die Zeremonie, während der damalige Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche Alexei II. seine Teilnahme verweigerte. Allerdings sprach die Kirche am 20. August 2000 Nikolai und seine Familie aufgrund ihres Märtyrertodes heilig und errichtete 2003 am Platz des Ipatjew-Hauses die „Kathedrale auf dem Blut“, heute ein Wallfahrtsort und wichtiger Touristenmagnet vor allem für Reisende mit der Transsibirischen Eisenbahn. Die Zarenfamilie ist überlebensgroß um ein orthodoxes Steinkreuz gruppiert, ihre erstarrten Gesten wehren unsichtbare Angreifer ab, ihre Gesichter spiegeln ewige Todesangst.
Die Überreste von Kronprinz Alexej und Großherzogin Maria wurden erst im Jahr 2007 unweit von Jekaterinburg gefunden und in Österreich identifiziert. Sie befinden sich im russischen Staatsarchiv und sind trotz mancher Ankündigung bislang nicht offiziell beigesetzt worden. Die Untersuchungen zur Identität der Überreste der königlichen Familie wurden 2015 auf Antrag der Russisch-Orthodoxen Kirche wieder aufgenommen: Die Kirche erkennt die exhumierten Knochen nicht als Überbleibsel der Romanows an, denn dann wären sie Reliquien. Das Untersuchungsergebnis sei von Politikern bestellt worden, die ihre historische Schuld am Zarenmord verschleiern wollten. Die Kirche könne nicht zulassen, dass in ihrem Namen häretische Heiligtümer verehrt werden. Das Ende des Streits ist offen.
Bleibt noch das Ende von Zarenmörder Jurowski nachzutragen: 1920 brachte er den Schmuck der toten Romanows nach Moskau, was ihm der neue sowjetische Staat mit mittelwichtigen Posten dankte: als Verwaltungsdirektor in der Arbeiter- und Bauerninspektion, dann als Direktor des Staatlichen Polytechnischen Museums. Er starb 20 Jahre nach der Tat an einem Magengeschwür.