„Wir wollen keine Barrieren schaffen“
27. Juni 2018 von Thomas Hartung
Die Nachricht las sich Ende Juni wie eine Verhöhnung aller Bildungsdebatten: mit der Deutschen Bahn verzichtet ein Staatskonzern künftig auf das Anschreiben von Lehrlingsbewerbern – vorgeblich aus Gründen der Vereinfachung. Ab Herbst müssen Bewerber nur noch ihren Lebenslauf und Zeugnisse schicken – und das auch nur noch online. „Wir wollen es den Bewerbern so einfach wie möglich machen“, begründet die DB-Leiterin Talent Acquisition Baden-Württemberg, Carola Hennemann, das Vorgehen gegenüber der dpa. Da bei der Bahn in den kommenden Jahren Tausende Mitarbeiter in Rente gehen, will der Konzern pro Jahr knapp 20 000 Mitarbeiter einstellen, darunter rund 3500 Azubis.
„Für Schüler ist das Verfassen von Motivationsschreiben besonders schwierig“, sagt Hennemann. Auch andere seien froh, wenn sie weniger schreiben müssten. Die Frage nach der Motivation stelle man dann im persönlichen Gespräch. Bahnsprecher Achim Stauss ergänzt in der ARD, dass Anschreiben immer standardisierter würden. Wenn das Verfahren gut funktioniert, will die Bahn prüfen, bei welchen Berufsgruppen es ebenfalls gut passen würde. Doch damit nicht genug. In Regionen mit Vollbeschäftigung wie in Bayern und Baden-Württemberg reicht auch eine Handykamera im ersten Schritt: Bewerben könne man sich dann mit einem 30-Sekunden-Video.
Auch andere Unternehmen überdenken das Anschreiben. Die Lufthansa verlangt es noch von Azubis, verzichtet darauf aber bei verschiedenen Berufsgruppen wie Flugbegleitern oder IT-Mitarbeitern. Auch bei der Drogeriemarktkette Rossmann brauchen es Azubis noch, manche Gruppen seit rund einem Jahr aber nicht mehr: „Letztendlich liegt es beim Bewerber, ob er uns ein Anschreiben schicken möchte“, erklärt Sprecherin Nadine Leinewerber in der Westfalenpost. Nach eigenen Angaben legt auch der Softwarekonzern SAP weniger Wert auf alte Formalitäten und achtet darauf, „was Kandidaten als Individuum“ ausmacht, so SAP-Personalchef Cawa Younosi ebenfalls in der Westfalenpost. „Die Form, wie das transportiert wird, ist nachrangig. Wir wollen keine Barrieren schaffen, die besten Talente für uns zu gewinnen.“
Die Berliner Verkehrsbetriebe BVG prüfen ebenfalls, ob sie bei Azubis das Anschreiben streichen. Henkel und Otto verzichten schon komplett auf den Begleitbrief. Andere Unternehmen halten dagegen am Bewerbungsschreiben fest, neben der Post etwa Daimler, die Berliner Stadtreinigung und der Medizinkonzern Fresenius. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände erklärte in der Schwäbischen Post: „Jeder Arbeitgeber muss seinen eigenen Weg finden, um sich gutes Personal zu sichern.“
Will die Bahn die Dummen?
Nach Einschätzung der Marketingdirektorin Katrin Luzar von der Jobbörse „Monster.de“ nimmt aber nicht nur die Bedeutung des Anschreibens ab, sondern verschiebe sich mittlerweile auch das Machtverhältnis zwischen Bewerbern und Unternehmen. Denn die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist für viele Menschen gut wie seit Anfang der 1990er Jahre nicht mehr. „Die Kandidaten wissen sehr gut, wie viel sie wert sind – sie werden passiver. Gerade in Bereichen wie IT und Ingenieurswesen herrscht bei den Bewerbern recht viel Zuversicht, dass man einen guten Job findet“, so Luzar.
Die Entscheidung wird allerdings auch kritisiert. So entgeht laut Maja Skubella von der Hamburger Beratungsfirma „Karriere & Entwicklung“ den Bewerbern dadurch eine Möglichkeit, im Vorfeld etwas über sich zu erzählen. Sie sagt der Südwestpresse: „Um beurteilen zu können, ob eine Bewerbung passen könnte, gehört mehr dazu, als nur die Zahlen und Fakten zu kennen.“ Richtig sei: Das Texten des Anschreibens für viele das Schwierigste.
Aber Ansprüche wegen des Fachkräftemangels so weit herunter zu schrauben, bis sie passen, ist einerseits zwar konsequent, andererseits mehr als bedenklich. Jugendliche sind es, leider, kaum noch gewohnt, in einer Art Aufsatz zu beschreiben, warum sie etwa Lokomotivführer werden wollen – im Gegenteil finden sie Spaß daran, alles Wesentliche (und Unwesentliche) in Gruppenchats in Sekundenschnelle ohne Rücksicht auf Stil und Rechtschreibung mitzuteilen. Da zugleich ihre Aufmerksamkeitsspanne schrumpft und darunter auch die Fähigkeit leidet, die eigenen Gedanken zu ordnen, kann sich das bei einer Bewerbung um einen Ausbildungsplatz verheerend auswirken. Denn hier geht es um einen wohldurchdachten Start ins Berufsleben, nicht um die Alltagskommunikation von Befindlichkeiten.
Die Radikallösung der Bahn ist kein gutes Signal: weder für andere Firmen, mit denen damit ein Wettlauf um die niedrigsten Hürden für Bewerber eröffnet wird, noch für den Bildungsstandort Deutschland und erst recht nicht für die Bewerber, die sich mit gutem Recht fragen, ob es noch auf Individualität ankommt oder nur noch auf Passgenauigkeit. Die wirklich Motivierten schreckt das Unternehmen damit nämlich ab. Wieso sollte ich für einen solchen Konzern arbeiten, wenn der jeden nimmt, dürften die sich fragen und eher einen Arbeitgeber wählen, wo Qualität mehr geschätzt wird.
Kann jemand mit millionenschweren Maschinen umgehen und zugleich die Sicherheit hunderter Menschen anhand –zigseiter Dienstvorschriften gewährleisten, wenn er keinen zusammenhängenden Text mit geordneten Gedanken mehr herstellen, kreative Mühe nachweisen kann? Die Bahn wertet sich als Arbeitgeber ab, indem sie das Image einer Firma kultiviert, bei der man sich nicht mal mehr richtig bewerben muss. Die Idee mag verführerisch sein, es allen so leicht wie möglich zu machen. Doch die Realität ist es nicht. Wenn die Bahn die Dummen will, macht sie alles richtig. Aber will sie das?