Wenn Kompetenz Bildung schlägt
4. August 2018 von Thomas Hartung
Sie tragen teilweise profane Namen wie „Deutscher Schulpreis“, aber auch klangvolle wie „Morgengrün – Der Umweltschreibwettbewerb“: Schul- oder Schüler-Wettbewerbe in Berlin. Fast zwei Dutzend sind 2018 ausgeschrieben und harren auf Bewerbungen: von Grundschule bis Gymnasium, auf Landes- bis Europaebene, in Sparten von Sprache bis Sport. Für die alle fünf Jahre veranstalteten Schulinspektionen dagegen kann sich keine Schule bewerben – die sucht die Senatsverwaltung aus. Das Ergebnis der zweiten Inspektionsrunde: knapp 50 Schulen wird „erheblicher Entwicklungsbedarf“ bescheinigt. Das sind rund 60 Prozent mehr als nach der ersten Runde zwischen 2005 und 2011.
Dabei durchleuchtet ein Team von Schulinspektoren Abläufe, Lernerfolge, Unterrichtsstunden und die Führungsqualitäten der Schulleiter. Wenn eine Schule „durchgefallen“ ist, bekommt sie eine zweijährige Hilfestellung in Gestalt eines Team von „Pro Schule“: meist erfahrene Pädagogen, die imstande sein sollen, die Schulleiter zu coachen. Wenn es eher im fachlichen Bereich im Argen liegt, kann man auch spezielle fachliche Hilfe bekommen.
Von sechs Verliererschulen, die mindestens zweimal vor den Augen der Prüfer nicht bestehen konnten, hat es inzwischen nur eine geschafft, sich aus dieser untersten Liga hochzuarbeiten. Nach Informationen des Tagesspiegel wurde die Leitung des Pro-Schul-Teams 2017 ausgewechselt. Ob dieser personelle Wechsel damit zu tun hat, dass die Beratung in einigen Fällen erfolglos war, ist unklar.
Das wenig schmeichelhafte Ergebnis wurde nun am Schuljahresende ins Absurde gekippt. Ein dreiköpfiges Inspektionsteam erklärte die Friedrich-Bergius-Schule in Tempelhof-Schöneberg nun auch zur Problemschule. Das Lehrerkollegium der Integrierten Sekundarschule ist perplex, Schüler und Eltern sind es nicht minder. Die Erklärung: hier treffen zwei Auffassungen von Schule aufeinander – eine pädagogische und eine ideologische. Die ideologische hat die Machtfrage entschieden. Leider.
„Nicht jedes A führt zu einer Bewertung als Stärke“
Das Team um Schulleiter Michael Rudolph, der jeden Morgen seine Schüler persönlich beim Hereinkommen um 7.30 Uhr begrüßt, darf sich zwar anrechnen, dass hier überdurchschnittlich viele Schüler einen Abschluss, fast die Hälfte sogar einen MSA mit Gymnasialempfehlung schaffen. Erster Vorwurf der Senatsschulverwaltung: die Abbrecherquote läge aber mit sechs Prozent über dem Bezirksdurchschnitt, der rund fünf Prozent beträgt. Dass die Quote an anderen Schulen über 20 Prozent liegt, ist lässlich.
Dabei sind die Voraussetzungen alles andere als gut. Der traditionsreiche Bau am Perelsplatz stand vor einigen Jahren wegen zu viel Gewalt kurz vor der Schließung. Zwei Drittel der Schüler haben Migrationshintergrund, über die Hälfte kommt aus Familien, die von staatlichen Sozialtransfers leben. Daneben bekommt die Schule vom Schulamt jährlich 16 Schüler mit Förderbedarf: Autisten, Kinder mit psychischen Problemen oder mit körperlicher Behinderung wie Gehörlose. Es gibt auch eine Willkommensklasse mit Flüchtlingskindern. All das schaffen die Lehrer, ohne jemals dafür ausgebildet worden zu sein, sogar ohne jede Unterstützung von Sonderschulpädagogen.
Der negative Befund wurde von den Inspektoren erteilt, obwohl laut Bericht das Klima im Unterricht zu annähernd 100 Prozent als „freundlich und zugewandt“ dargestellt und die „konzentrierte und störungsfreie Arbeitsatmosphäre“ im Unterricht gelobt wird, niemand ausgegrenzt werde, man morgens pünktlich beginne, die Lernatmosphäre „angstfrei“ und der Unterricht für die Schüler nachvollziehbar sei und Wissen gut vermittelt werde. Es gibt keine Meldungen von Gewalt oder von Mobbing, und da Schulschwänzen sofort geahndet wird, tritt das kaum auf. Die Prüfer müssen zugeben, im Inspektionsbericht die Schulleistung mit „A“ bewertet zu haben.
Aber: „Nicht jedes A führt zu einer Bewertung als Stärke“, zitiert die Morgenpost aus dem Prüfbericht. Denn jetzt kommt die Pädagogik ins Spiel. So werden vorwurfsvoll 84 Prozent Frontalunterricht vermerkt. Gruppenarbeit finde nur in homöopathischen Dosen statt. Meist beginne der Unterricht, der zu „lehrerzentriert“ sei, mit Wiederholungen des Stoffes vom letzten Mal. Statt „individuell zu fördern“, teile man die Klasse auf, verkleinere sie so und dann gäbe dann allen mehr oder weniger dieselbe Aufgabe: „Dies trägt weder zu einer individuellen Förderung der Jugendlichen bei noch zur Umsetzung des Inklusionsgedankens“, so der Bericht.
Das ist kein Witz, sondern Ausdruck der Vorstellung von Schule als Ort, an dem Schüler zu besseren Menschen erzogen werden sollen. „Das Schulgesetz sieht Demokratieerziehung, Partizipation und andere Werte vor“, argumentiert die Schulverwaltung. Da passiere zu wenig an der Schule. Auch deshalb sei sie nun bei der Schulinspektion durchgefallen. „Ein bisschen fühlt man sich an sozialistische Planwirtschaft erinnert, wenn beanstandet wird, dass ein ‚Zeit-Maßnahme-Plan‘ fehle“, erbost sich Susanne Leinemann in der Morgenpost.
Was also können wir aus den Schulinspektionsberichten für andere Teile des Lebens lernen? Es kommt überwiegend auf die richtigen Prozesse, deren Steuerung und schriftliche Dokumentation an. Das Ergebnis ist zweitrangig. Wartet man wieder einmal auf eine Bahn,weil sie zu spät kommt oder ausfällt, dann darf der ÖPNV natürlich nicht negativ bewertet werden, denn die Prozesssteuerung ist gut, da Fahrpläne auf einander abgestimmt sind und schriftlich vorliegen…
Zwar urteilt Christian Zander von der CDU-Fraktion Tempelhof-Schöneberg in der Berliner Woche: „Das ist doch verkehrte Welt.“ Die Bewertung der Schulinspektion sei ein Armutszeugnis für die Berliner Schulpolitik und ein klares Zeichen für eine verfehlte Schwerpunktsetzung in der Bildungspolitik. In seltener Eintracht mit der CDU kommentiert im selben Blatt die schulpolitische Sprecherin der Grünen, Martina Zander-Rate:
„Wenn eine Schule unter schwierigsten Bedingungen überdurchschnittliche Lernerfolge erzielt, hat sie es verdient, von der Schulverwaltung zum Weitermachen ermutigt zu werden und braucht keine Nackenschläge durch ungerechtfertigte Negativ-Bewertungen.“
Dass Frontalunterricht, Lehrerzentriertheit oder stundeneröffnende Stoffwiederholungen methodisch herabgewürdigt werden, hätte eigentlich zu einem Aufschrei in der pädagogischen Fachwelt führen müssen. Schon dass der ausblieb, ist bezeichnend.
Grenzen setzen als Rechtsverstoß
Denn ob das, was die Schulinspektion als Qualität definiert – Individualisierung im Unterricht, Gruppenarbeit, Stationsarbeit, Kompetenzstufen – zu einer messbaren Verbesserung der Schulsituation in der Stadt führt, ist nichts als eine unbewiesene Behauptung. Die Schule dagegen versteht sich selbst als Kernort von Bildung, die tut, was eine gute Schule tun soll: Schülern in Eigenverantwortung innerhalb eines akzeptierten, seit Jahrzehnten bewährten Rahmens etwas beibringen. Zur Diskreditierung dieses Rahmens findet sich im Inspektionsbericht prompt noch ein schwerwiegender Vorwurf: Die Bergius-Schule verstoße gegen das Recht.
Das zielt primär auf den Schulalltag mit klaren Regeln. So wird jedes Zuspätkommen geahndet: säumige Schüler müssen zum Hausmeister und, mit Müllzange bewaffnet, auf dem Perelsplatz Abfall einsammeln, bevor sie zur zweiten Stunde in den Unterricht dürfen. Die Idee: Früh kleine Grenzen setzen, an denen sich die Schüler abarbeiten können, damit es nicht zu den ganz großen Eskalationen kommt, die man von anderen Schulen kennt. Sekundär geht es um kleine Eigenmächtigkeiten, um Unterrichtsausfall zu minimieren und mehr Mathe- und Deutschunterricht zu ermöglichen, da dort die Defizite vieler Kinder am größten sind. Der Trick: Lehrer unterrichten regulär weniger Stunden als vorgeschrieben, um als feste Vertretungskräfte zur Verfügung zu stehen. Was für ein Fauxpas!
Die Senatsschulverwaltung, zitiert die Morgenpost, erwartet von Schulen, dass sie Kindern das Rüstzeug an die Hand gibt, „eine bessere Gesellschaft aufzubauen“. Soziales Handeln sei entscheidend. „Die Schule soll Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wertehaltungen vermitteln“, damit die Schüler selbstständig denken lernen. Es geht weniger um Wissen als um übergreifende Themen, die sich durch alle Schulfächer ziehen sollen. „Kompetenzen“ lautet das Schlüsselwort: Sprachkompetenz, Medienkompetenz, Fächerkompetenz.
Wie das Arbeitgeber finden, scheint der Senatsschulverwaltung egal zu sein. Die Berliner Polizei bspw. hätte es gewiss lieber gesehen, dass von ihren Azubis, wie im Juni geschehen, weniger als zwei Drittel beim Übungsdiktat auf der Polizeiakademie eine glatte Sechs schrieben. Denn das hat nichts mit „Schreib-“ oder „Sprachkompetenz“ zu tun, sondern ganz einfach etwas mit Deutschkenntnissen. Davon führt dieser „Berliner Weg“ allerdings ganz weit weg – in eine bildungslose soziale Sackgasse.