„Das ist vorauseilender Gehorsam“
7. August 2018 von Thomas Hartung
„Damit hat keiner mehr eine Ausrede, nicht am Unterricht teilzunehmen.“ Mit diesen Worten rechtfertigte Mitte Juni der Schulleiter des Pestalozzi-Gymnasiums im nordrhein-westfälischen Herne, Volker Gößling, in der WAZ den Erwerb von 20 Burkinis für den aus Glaubensgründen oft verweigerten Schwimmunterricht mit moslemischen Schülerinnen. Nach seinen Angaben haben bereits 15 Mädchen von der 400 Euro teuren Anschaffung Gebrauch gemacht, die durch einen schulinternen Spendenlauf für Flüchtlinge sowie Fördermittel von Stadt und Land finanziert wurde. Die Burkinis werden kostenlos verliehen, Badehosen oder Bikinis dagegen nicht.
Nachdem Gößling dafür angefeindet worden war, kam Tage später Rückendeckung von Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD). „Das Wichtigste ist ja das Wohl der Kinder, und das heißt nun mal, dass alle schwimmen lernen“, betonte Giffey auf einer Veranstaltung der Zeit in Hamburg. Wenn die Teilnahme am Schwimmunterricht dadurch gefördert würde, dass Schulen Burkinis anschafften und an moslemische Schülerinnen ausgäben, sei dies vertretbar, sagte die Familienministerin. Es sei dabei nur wichtig, dass der Bildungsauftrag im Vordergrund stehe und die Sache „nicht hochstilisiert wird zum Untergang des Abendlandes“.
Abgesehen davon, dass sich Giffey damit in die Bildung und damit in Länderbelange einmischt: ihre Äußerungen missachten zunächst den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes, wonach alle Schüler ungeachtet von Geschlecht und Religionszugehörigkeit gleich zu behandeln sind. Nachgeben in der Burkini-Debatte hält auch die türkischstämmige Schauspielerin Sema zu Sayn-Wittgenstein in der WELT für falsch, weil das Recht auf Gleichheit und Freiheit über dem Bildungsauftrag stehe. Von der Familienministerin wünscht sie sich, dass sie Abstand vom Burkini nimmt. Daneben ist nicht Aufgabe der Schule, Sportbekleidung zu stellen: deutsche Schüler müssen Badehosen oder Badeanzüge auch selbst beschaffen. Doch auch darüber hinaus konnten die Reaktionen konträrer kaum sein.
„Dies hier ist Deutschland“
So wird laut CDU-Vize Julia Klöckner damit ein Frauen diskriminierendes Rollenverständnis an einem Ort zementiert, an dem Kinder und Jugendliche gerade das Gegenteil lernen und sich frei entfalten sollten. Giffeys Äußerungen sind insofern ein Schlag ins Gesicht der europäischen Emanzipation. Es gab mal eine Zeit, da haben Frauen für den Bikini gekämpft: noch 1968 war es in Teilen Bayerns verboten, im Bikini zu baden. Insofern werden Frauenrechte ad absurdum geführt und die Gesellschaft gespalten: Einerseits wird Frühsexualisierung an den Schulen gefördert, andererseits für mittelalterliche Badebekleidung geworben. Das ist schizophren.
Giffeys Äußerungen sind weiter ein Indiz von Feigheit, sich der Islamisierung entgegen zu stellen: wer nicht im Burkini schwimmt, gilt als verfügbares Luder. Denn damit würde den Mädchen, kritisierte die Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime, Mina Ahadi, in der Neue Rhein/Neue Ruhr Zeitung NRZ, nicht nur durch den Druck von Eltern, sondern auch das Verhalten der Schule bedeutet: „Wenn ich nicht den Burkini nehme, bin ich eine schlechte Muslimin und ein schlechter Mensch.“ Stattdessen hätte die Schule den betroffenen Schülerinnen und deren Eltern sagen müssen: „Dies hier ist Deutschland, hier sind Männer und Frauen gleichberechtigt.“
Giffeys Äußerungen sind auch ein Schlag ins Gesicht aller Unabhängigkeitsbestrebungen von Musli-ma. In Saudi-Arabien dürfen Frauen jetzt Auto fahren. Im Iran durften Frauen gemeinsam mit Män-nern Stadien zum Public Viewing der WM betreten, in Russland gar Iranerinnen ohne Kopftuch in den Stadien mitjubeln – und in Deutschlands Schulen wird ein Burkini gut geheißen. Das betont in der NRZ auch die zuständige Düsseldorfer Integrations-Staatssekretärin Serap Güler (CDU): „Ich halte dies für das absolut falsche Signal und für völlig falsch verstandene Toleranz. Es ist fatal vor allem aus emanzipatorischer Sicht. Während in Saudi-Arabien Frauen für ein bisschen Freiheit ihr Leben riskieren, sollten wir nicht in Deutschland auf Burkinis für Mädchen setzen“.
Klöckner sieht das in der WAZ ähnlich: „Das ist vorauseilender Gehorsam und ein Einknicken vor fundamentalistischen Elternhäusern – ein Einknicken auf dem Rücken der Mädchen. Gerade in Schulen müssen Mädchen und Jungen in einem gesunden Geschlechterbild und dem Gefühl der Gleichwertigkeit bestärkt werden“. Für den palästinensischen Publizisten Ahmad Mansour gibt Deutschland damit patriarchalischen Familienstrukturen und konservativen religiösen und Sexual-Vorstellungen nach. Kinder sollen am Schwimmunterricht teilnehmen, aber nach den Regeln der Schule, nicht nach den Regeln einer Religion.
Sogar der Zentralrat der Muslime gab sich skeptisch: „Solche Burkini-Pseudodebatten, die nebenbei die Rechten weiter stärken, lenken wieder von den eigentlichen Problemen ab“, sagte der Zentralratsvorsitzende Aiman Mazyek der NOZ. Selbst Giffeys Berliner Parteikollegin, Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD), schließt zwar den Burkini im Schwimmunterricht nicht aus. Aber für die Anschaffung der Badebekleidung seien die Eltern selbst zuständig, sagte Scheeres dem Tagesspiegel. Außerdem spiele in Berlin, wo Schwimmunterricht in Grundschulen bis zur dritten Klassenstufe stattfindet, der Burkini keine große Rolle: Vor der Geschlechtsreife erlaubt es Musliminnen ihre Religion meist noch am gemeinsamen Schwimmen teilzunehmen.
Die Lehrergewerkschaft GEW sah hingegen in den Leih-Burkinis eine pragmatische Lösung: „Damit werden Brücken zu den Elternhäusern gebaut“, so Düsseldorfs GEW-Landesvize Maike Finnern. Der Vorsitzenden des Herner Integrationsrats, Muzaffer Oruc, hält die Anschaffung der Burkinis sogar für sinnvoll, denn: „Wenn junge Frauen aus Glaubensgründen nicht mit Männern schwimmen wollen, muss man das akzeptieren.“ Schulen sollten „kultursensibel“ handeln: „Wenn die Schüler fern bleiben, ist das auch keine Integration.“
2017 waren übrigens von 404 Ertrunkenen bundesweit 23 Asylbewerber, die meist nicht schwimmen gelernt hatten, darunter ein siebenjähriges Mädchen. Um sie über die Gefahren aufzuklären, hat die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) ihre Baderegeln in mehr als 25 Sprachen übersetzt und bietet Schwimmkurse gezielt für Migranten an. Erkenntnisse zur Resonanz dieser Kurse liegen noch nicht vor.
„Wir müssen aber sehr konsequent darin sein“
NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) dagegen betonte, dass sich die Schulpflicht ohne Aus-nahmen für muslimische Mädchen auch auf den Schwimmunterricht erstrecke: „Es ist juristisch eindeutig geklärt, dass auch muslimische Schülerinnen dieser Verpflichtung zum Schwimmunterricht nachkommen müssen. Einen Anspruch auf geschlechtergetrennten Schwimmunterricht gibt es nicht“, erklärte die Ministerin in der NRZ. Auch gehöre die Beschaffung von Burkinis nicht zu den steuerfinanzierten Grundaufgaben einer Schule, selbst wenn sie „vor Ort auf verschiedene Herausforderungen lebenspraktisch“ reagieren müssten. Generell verfolge die Landesregierung das Ziel, dass alle Schüler am Schwimmunterricht teilnehmen und sicher schwimmen lernen.
Noch Wochen später fiel ihr sogar die neue Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU!) in den Stuttgarter Nachrichten in den Rücken. Jedes Kind müsse Schwimmen lernen: Was das Kind dabei anziehe, sei zwar nicht egal, aber „da ist Flexibilität gefragt“. Es sei Aufgabe der Schulen, das harmonisch zu klären. „Natürlich muss man auf unsere Standards hinweisen“, fügte die Ministerin hinzu. „Aber es hat keinen Sinn, einem Mädchen unsere Kleidervorschriften aufzuzwingen, wenn es zu Hause in einer ganz anderen Welt lebt.“ Ihr Parteifreund Ismail Tipi (MdL) erklärte dagegen auf Tichys Einblick, dass Burkini und Vollverschleierung in unserer westlichen Welt an keinen Strand, in kein Schwimmbad und in keine Einkaufsstraße gehörten – sie sind schlichtweg kein Teil unserer Gesellschaft, unserer Kultur und unserer Werte.
Die juristische Klärung war übrigens sogar doppelt herbeigeführt worden. Zum einen Ende 2013 durch das Bundesverwaltungsgericht, das in einem Urteil den staatlichen Bildungs- und Erziehungs-auftrag über die Glaubensfreiheit gestellt – und auf den Burkini als akzeptablen Kompromiss verwiesen hatte. Damit scheiterte die Klage einer muslimischen Schülerin aus Hessen, die in der Schule die Note Sechs kassiert hatte, weil sie sich dem Schwimmunterricht verweigerte. Das Mädchen marokkanischer Abstammung hatte es auch abgelehnt, einen Burkini zu tragen – dieser lasse nass trotzdem die Körperkonturen erkennen, erklärte sie.
Und zum anderen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der im Januar 2017 befand, Schulen dürften muslimische Mädchen zum gemeinsamen Schwimmunterricht ver-pflichten. Die Richter argumentierten, die Schule spiele bei der sozialen Integration eine besondere Rolle, vor allem für Kinder ausländischer Eltern. Geklagt hatte ein türkischstämmiges Ehepaar aus Basel in der Schweiz. Daneben ist zu bedenken, dass in Belgien, diversen katalanischen Städten, Frankreich, den Niederlanden, Bulgarien, Lettland, Österreich und seit diesem Jahr Dänemark ein Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz in Kraft ist. Selbst im islamischen Tunesien ist das Tragen von Schleiern in Schulen verboten.
Ob so viel Gegenwind musste Giffey wenige Tage danach auf Facebook klarstellen, dass sie keines-wegs das Tragen von Burkinis im Schwimmunterricht befürworte. „Wir müssen aber sehr konse-quent darin sein, dafür zu sorgen, dass alle Kinder schwimmen lernen, egal welcher Herkunft sie sind und welche Religion sie haben. Schwimmen ist Teil des Sportunterrichts und damit Teil der Schulpflicht. Diese ist durchzusetzen.“ Das mag zwar stimmen. Aber sich zum Schwimmen so weit wie möglich zu entkleiden hat nicht zuletzt etwas mit Leichtigkeit und Sicherheit zu tun (nur Rettungsschwimmer müssen das können und üben) sowie mit einem gesunden Verhältnis zum Körper. Gunnar Schupelius würdigte ebendiese Leichtigkeit in der BZ:
„Das Schöne am Baden ist doch, das Wasser auf der Haut zu spüren, dieses unnachahmliche Gefühl der Frische zu erleben, sich frei zu bewegen. Und ein Kind? Das sollte im Wasser doch spielen, tauchen und springen können, ohne dass ihm ein nasses Tuch um den Körper schlägt.“
Genau dieses Körperverhältnis stellte mit Judith Luig in der Zeit inzwischen die erste Journalistin in Frage. Der Burkini sei nur die chlorwassergetränkte Variante des Kopftuchs und könne nicht zum reinen Ausdruck von Unterdrückung und sexistischer Strukturen erklärt werden: „Freiheit wird nicht erlernt, indem man Unfreiheit verbietet.“ Ihr erwartbarer Schluss: „Burkinis für alle. Dann werden weder religiöse noch exhibitionistische Gefühle zu sehr gekränkt. Das würde auch anderen Menschen zugutekommen, die ihren Körper nicht gerne präsentieren.“ Je länger man über solche surrealen Sätze nachdenkt, desto mehr muss man um den Zustand nicht nur der Publizistik, sondern dieses Landes fürchten.