„Schlupfloch der Republik“
12. Mai 2018 von Thomas Hartung
Der Skandal vom 20. April war das i-Tüpfelchen. An dem Tag wurde bekannt, dass die längst suspendierte Leiterin der Bremer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in rund 1200 Fällen missbräuchlich Asyl gewährt hatte. Auch drei Rechtsanwälte, ein Dolmetscher und ein weiterer Verdächtiger sollen beteiligt gewesen sein und gezielt Flüchtlinge aus anderen Bundesländern nach Bremen gebracht haben, obwohl das BAMF dort nicht zuständig war. Ermittelt wird unter anderem wegen Bestechung und Bestechlichkeit sowie „bandenmäßiger Verleitung zur missbräuchlichen Asylantragstellung“, sagte eine Sprecherin der Bremer Staatsanwaltschaft dem „Weser-Kurier“.
Die Anträge der Flüchtlinge hätten eigentlich in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen behandelt werden müssen. Die Asylbewerber seien jedoch dazu gedrängt worden, direkt in Bremen ihre Anträge zu stellen. Neben diesem formellen soll es in den Asylverfahren „zahlreiche weitere Rechtsverstöße“ gegeben haben. Somit hätten die Flüchtlinge zu Unrecht einen positiven Asylbescheid bekommen. Anlass für die Ermittlungen seien Hinweise über Unregelmäßigkeiten direkt aus dem BAMF selbst gewesen, so die Sprecherin. AfD und FDP wollen jetzt einen Untersuchungsausschuss.
Aber die Nürnberger Behörde gestand ihre Überforderung schon im Herbst 2015. Seitdem steuerte sie nahezu ungebremst auf einen Kollaps zu, dessen Blackout vor allem die anhängigen 365.000 Asylklagen (Stand Januar 2018) bilden. So war im Januar 2016 absehbar, dass bis Jahresende 4000 zusätzliche Mitarbeiter benötigt würden. Die konnte auch der als „harter Hund“ gehandelte Frank-Jürgen Weise nicht aus dem Hut zaubern, als er für über ein Jahr die BAMF-Leitung neben der der Bundesagentur für Arbeit übernahm und zunächst Unternehmensberater zum Tagessatz von 2300 Euro ins Haus lud, für insgesamt 34,2 Millionen Euro. Die tatsächliche Berufsqualifikation (Hochschulabschluss, Berufserfahrung) spielte bei der Mitarbeitersuche eine immer geringere Rolle. Manche brauchten nicht mal zum Vorstellungsgespräch kommen, berichtet der „Stern“.
Aus der Not heraus mussten Praktikanten und ungeschultes Personal über wichtige Asylanträge entscheiden. Der Münchner Rechtsanwalt Hubert Heinhold beobachtet seitdem, dass die Qualität der Asylbescheide abnimmt. „Inzwischen sind die Entscheidungen in der Regel dünn begründet und bestehen zu 90 Prozent aus Textbausteinen“, sagte er dem „Merkur“. „Aber ein Asylverfahren ist eine komplexe Materie. Man bräuchte ohne Frage mehr gute und kompetente Leute im Bundesamt.“
Er führte das Beispiel eines 28jährigen aus Mali an, dessen Antrag „als offensichtlich unbegründet abgelehnt“ wurde. In der mehrseitigen Begründung fanden sich neben einer bestürzenden Rechtschreibung etliche Fehler und Ungenauigkeiten. So wurde der Mann auf der einen Seite als Viehhirte bezeichnet, auf der nächsten als Schlosser. Die Terrorgruppe Boko Haram, vor der er nach eigenen Angaben geflohen ist, tauchte in dem Bescheid namentlich gar nicht auf.
Widersprüche gar nicht mehr erhoben
Ein möglicher Grund: Unter Weise wurde der Ablauf der Asylentscheidung umgestellt. Seitdem befragte ein Mitarbeiter den Asylsuchenden in oft stundenlanden Anhörungen und fertigte dann ein Protokoll an. Auf Grundlage dieses Protokolls trifft ein ganz anderer Mitarbeiter, der den Asylsuchenden nie zu Gesicht bekommen hat, die Entscheidung. Begründung: Dieser Ablauf sei effizienter, das Vier-Augen-Prinzip verringere zudem das Risiko von fehlerhaften Entscheidungen. Inzwischen wird die Mehrzahl der Asylfälle wieder aus einer Hand entschieden.
In Weises Übergangszeit fiel auch die Vernachlässigung von Sicherheitskontrollen. So verzichtete das BAMF seit November 2015 darauf, Flüchtlinge aus Syrien ausnahmslos einzeln anzuhören. Stattdessen genügt es mitunter, lediglich einen Fragebogen auszufüllen. „Wenn Anhörungen wegfallen, bedeutet das, dass Personen, die unter Missbrauch des Asylrechts hier einreisen, überhaupt nicht mehr auffallen können, weil Widersprüche in ihrer Vita, in ihren Absichten und in ihrer Selbstdarstellung gar nicht mehr erhoben werden“, kritisierte Extremismusforscher Rudolf van Hüllen im „BR“.
Eine Anfrage der FDP im Bundestag ergab, dass die Zahl der Warnhinweise laut Sicherheitskreisen zwischen Juni 2015 und Dezember 2016 auf mehr als tausend pro Jahr stieg. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl der Mitarbeiter von zwei auf lediglich sieben. Um den Berg unbearbeiteter Hinweise abzubauen, stockte das BAMF die Mitarbeiterzahl erst 2017 auf 24 auf, was laut migrationspolitischer FDP-Sprecherin Linda Teuteberg von Organisationsversagen nach der Grenzöffnung zeugte.
Nach den Ereignissen der Kölner Silvesternacht trat Weise dem Eindruck entgegen, der Staat kapituliere vor aggressiven Migranten aus Nordafrika. „Mit sofortiger Wirkung sind Asylverfahren von tunesischen, marokkanischen und algerischen Staatsangehörigen prioritär zu bearbeiten“, zitiert der „Stern“ aus einer „Verfahrensinformation“.
Im Jahresverlauf hatte Weise einen weiteren Skandal zu verkraften: seine Nürnberger Behörde überprüfte im ersten Halbjahr 2016 insgesamt 217.465 Pässe, Geburtsurkunden oder Führerscheine von Asylsuchenden und stellte bei rund einem Prozent – 2.273 Fälle – schwere Manipulationen fest. Im Raum stand damit der Verdacht der Urkundenfälschung, die mit fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann – aber von den Angestellten nicht angezeigt wurde.
Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) forderte die Behörde auf, künftig bei jedem gefälschten Pass Anzeige zu erstatten. „Es kann nicht die Aufgabe des BAMF sein, zu entscheiden, ob eine Anzeige angemessen ist oder nicht“, sagte der BDK-Vize Michael Böhl der „Welt am Sonntag“. Es müsse verhindert werden, dass sich jemand im Asylverfahren zu Unrecht Vorteile verschaffe. Mit solchen Pässen würden zudem Bankkonten eröffnet, um Terrororganisation wie den IS zu unterstützen.
Hoher Erledigungsdruck
Im Asylverfahrensgesetz heißt es: „Ein unbegründeter Asylantrag ist als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer im Asylverfahren über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuscht oder diese Angaben verweigert.“ Dementgegen habe das BAMF gegenüber der „Welt am Sonntag“ erklärt: Nachweislich falsche Angaben zur Identität führten nicht automatisch zu einer Ablehnung. Sein angekündigtes Ziel, bis Ende 2016 alle der zeitweise 580.000 offenen Asylanträge zu erledigen, verfehlte Weise um sage und schreibe 434.000. Hinzu kam das Attentat von Anis Amri in Berlin. Der Reserveoberst übergab seine Amtsgeschäfte zum 1. Januar 2017 an Jutta Cordt.
Nach nur wenigen Monaten im Amt ergab eine „Ad-hoc-Prüfung“, dass allein 46 % aller afghanischen Fälle nicht plausibel entschieden wurden. Die Kontrolleure empfahlen „gezielte Qualifizierungsmaßnahmen“ der Kollegen, für das Herkunftsland Afghanistan auch „systematische Nachschulungen“. Grund für die Mängel seien die „verkürzte Schulung des Personals und der hohe Erledigungsdruck“, zitiert der „Stern“ aus dem Bericht: drei Anhörungen täglich waren Pflicht. Mängel listete auch eine vertrauliche interne „Auswertung der Qualifizierungsmaßnahmen“ im BAMF auf, die sich auf rund 3000 neue Mitarbeiter bezog, die zwischen August 2015 und März 2017 Asylverfahren durchführten. 15 Prozent dieser Mitarbeiter erhielten „keine Entscheider-relevante Qualifizierungsmaßnahme“.
Eine weitere Ursache sind interne Vorgaben wie etwa die „Leitsätze Afghanistan“ als Basis für Asylentscheidungen. Laut „Stern“ ignoriert das BAMF darin die deutlich verschlechterte Sicherheitslage in dem Land und schreibt von „internen Schutzmöglichkeiten“ in Städten wie Kabul, wo auch ohne familiäres Netzwerk junge Männer „das erforderliche Existenzminimum erlangen“ könnten.
Die Leitsätze ermöglichen scheinbar die Abschiebung, sind aber selten juristisch zu halten. Von „Schnellbescheiden, mit denen sich das BAMF oft nicht an Recht und Gesetz hält“ spricht der Kölner Asylanwalt Gunter Christ. Mittlerweile klagen rund 90 Prozent der abgelehnten Asylbewerber gegen ihren Entscheid. Rund 50 % dieser Klagen, bei Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan sogar 60 %, haben Erfolg. Die Entscheidungen des BAMF werden also oft von der Justiz korrigiert.
Einen weiteren Skandal hatte Cordt auszustehen, als bekannt wurde, dass 339.578 Menschen im Jahr 2017 erstmals einen Integrationskurs besuchten. Allerdings machten gerademal 289.751 später auch beim Sprachtest am Kursende mit. Von denjenigen, die überhaupt am Sprachtest teilnahmen, erreichte nicht einmal jeder Zweite (48,7 Prozent) das Kursziel B1.
Damit es in den vom BAMF finanzierten Integrationskursen besser läuft und alles mit rechten Dingen zugeht, hat sich die Behörde nun einen wahren Berg an Vorschriften einfallen lassen, vor allem an Nachweis- und Berichtspflichten. Wie häufig das BAMF tatsächlich kontrolliert und mit welchem Ergebnis, teilte die Behörde nicht mit. In jedem Fall wären viele Kontrollen nötig: Das System selbst lädt zum Betrug ein, da es für alle Seiten zu viele Anreize gibt, eine bessere Präsenz als tatsächlich zu melden, vor allem finanzielle Anreize. Allein 2017 hat die Bundesregierung für die Integrationskurse 610 Millionen Euro bereitgestellt, um die 1736 Institutionen konkurrieren.
„…für deutlich weniger Geld seriöses Wissen“
Nach dem 20. April ging es dann Schlag auf Schlag. Am 21. April wurde bekannt, dass sich das BAMF wegen Verletzung der Neutralitätspflicht von mehreren Dolmetschern getrennt und seit 2017 über 2.000 Dolmetscher im Zuge eines erweiterten Qualitätssicherungskonzepts von Einsätzen für das Bamf herausgenommen hatte – die Zahl beträgt derzeit gerade noch 5.200.
Am 4. Mai berichtete die „Wirtschaftswoche“, dass von den rund 47 Millionen Euro, die allein die Beratung McKinsey bis Ende 2020 für den Einsatz im BAMF erhält, 27,8 Millionen nie öffentlich ausgeschrieben wurden. Dem Blatt liegen mehrere Arbeiten McKinseys vor, darunter die Studie „Rückkehr – Prozesse und Optimierungspotentiale“ für 1,86 Millionen Euro und eine Auswertung der Integrationskurse, die McKinsey mit 1,18 Millionen Euro abrechnete. Die McKinsey-Werke sind ihr Geld nicht wert sind, findet Maximilian Pichl von der Zeitschrift „Forum Recht“.
„Ein Großteil dessen, was McKinsey schreibt, ist vollkommen banal. Da werden über Seiten Zahlen, Statistiken und Verfahrensabläufe ausgebreitet, die bereits bekannt sind – etwa das Dublin-Verfahren“, so Pichl. Konfrontiert mit dieser Kritik, antwortet ein McKinsey-Sprecher: „Es ist ein normales und angemessenes Vorgehen, für eine Problemlösung zunächst die Ausgangslage umfassend, verständlich und korrekt zu beschreiben.“ Allerdings stellt sich bei Tagessätzen von mehr als 2000 Euro pro Mitarbeiter die Frage, ob der Staat hier Steuergelder auf angemessene Weise investiert. „Universitäten erarbeiten für deutlich weniger Geld seriöses Wissen“, sagt Pichl.
„Zentrale selbst in die Angelegenheit verstrickt“
Vier Tage später wird ein interner Bericht der aktuellen Leiterin der Bremer BAMF-Außenstelle Josefa Schmid (FDP) mit schweren Vorwürfen gegen die Nürnberger Zentrale bekannt. Es bestehe der Verdacht, „dass die Zentrale selbst in die Angelegenheit verstrickt ist“, heißt es in der 99 Seiten langen Stellungnahme, und dass die Machenschaften in Bremen „langjährig“ gebilligt worden seien. Deshalb forderte sie von Innenminister Horst Seehofer (CSU) eine unabhängige Untersuchungskommission.
In dem Schreiben an Innenstaatssekretär Stephan Mayer (CSU) nennt die Bayerin alleine für die Jahre 2015 bis 2017 die Zahl von „mindestens 3332“ unzulässiger Weise in Bremen bearbeiteten Asylanträgen. Zusätzlich sei anzunehmen, dass es Verfehlungen auch schon zuvor gab. Der Bericht enthält zahlreiche Details zum Arbeitsstil der ehemaligen BAMF-Leiterin, die im Juli 2016 ihres Amts enthoben wurde, aber in der „Qualitätssicherung Asyl“ weiterbeschäftigt wurde. Der „Spiegel“ berichtete, dass der Leiter der Außenstellen Friedland und Oldenburg bereits seit 2014 auffällige Asylentscheidungen der Bremer Kollegin dokumentierte und mit Aktenzeichen nach Nürnberg sandte.
Seit Anfang Januar hat sie Haus- und Kontaktverbot, erteilt von Schmid. Ihre Vorgängerin habe, so steht es in dem Papier, Mitarbeiter, die sich ihr widersetzten, unter Druck gesetzt und versucht, ein System von Abhängigkeiten zu schaffen. Was die Asylanträge angeht, seien Identitäten nicht ermittelt worden, teils gab es keine Interviews mit den Antragstellern. Bremen galt als „Schlupfloch“, das kriminelle Clanstrukturen missbrauchten.
Nur einen Tag später ist Josefa Schmid in Bremen Geschichte: sie wird nach Deggendorf versetzt. Das bringt Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) auf die Palme. Weil auch seine Behörde von der plötzlichen Abberufung Schmids an ihre alte Dienststelle aus den Medien erfuhr, hat er nicht nur einen umfassenden Bericht vom Bundesinnenministerium gefordert, sondern auch Horst Seehofer (CSU) gebeten, „so bald wie möglich nach Bremen zu kommen, um uns auf den aktuellsten Stand zu bringen und uns zu erläutern, wie er das Fehlverhalten seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abstellen will“.
Mäurer ärgert, dass sich Bremens Ausländerbehörden auf die Asylentscheide des BAMF verlassen mussten und nun mit vielen Fragen alleine gelassen würden: „Wir müssen wissen, in welchen Fällen keine hinreichende Identitätsprüfung stattgefunden hat und wie diese zwingend notwendige Überprüfung nachgeholt werden kann. Das Chaos schadet nicht nur dem Ruf Bremens, sondern hat auch Auswirkungen auf unsere Ausländerbehörden und ihre Arbeit.“ „Wespennest“-Gerüchte folgten.
„aggressive Anti-Abschiebe-Industrie“
Laut BAMF-Sprecher Christoph Sander könne von einer „Strafversetzung“ aber keine Rede sein; nach dem Bekanntwerden des internen Berichts und der Berichterstattung darüber solle Schmid geschützt werden. Schmid hat gegen ihre Versetzung einen Eilantrag beim Bremer Verwaltungsgericht gestellt, scheiterte zwar, forderte aber hilfesuchend Seehofer in einem vierseitigen Schreiben auf, sie nach Bremen zurückzubeordern.
Festzuhalten ist, dass die jüngsten Skandale im BAMF eher von einer Bleibe- denn einer Prüfungs- oder gar Abschiebeorientierung künden. Neben den Integrationskursen zahlt der Steuerzahler übrigens auch die Anwaltskosten unabhängig vom Ausgang des Asylverfahrens, also auch dann, wenn die Gerichte gegen die Antragsteller entscheiden, was in der Mehrzahl der Fälle passiert. Abgesehen davon, dass in einem Rechtsstaat Gerichte das letzte Wort haben und nicht die Politik, scheint hinter der Wortschöpfung „aggressive Anti-Abschiebe-Industrie“ von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt mehr zu stecken als nur angstgetriebene bayrische Landtags-Wahlkampfrhetorik.
Inzwischen prüft der Bundesrechnungshof auf Seehofers Anweisung das Bundesamt auf „systemische Mängel“. Erstes Resultat: Von Januar 2015 bis März 2018 wurden von 1,65 Millionen Entscheidungen nur 11.830 intern von der Qualitätskontrolle des BAMF überprüft – gerade einmal 0,7 Prozent. Nach Informationen der „Augsburger Allgemeinen“ hat es auch in den Außenstellen in Bingen, Karlsruhe und Gießen eine Häufung von Unregelmäßigkeiten gegeben. Weitere Überraschungen für die „BAMFnanenrepublik“ („Bild“) sind erwartbar und wurden personell von Seehofer schon avisiert. Die jüngste: der Bayer verbot inzwischen der Außenstelle Bremen, Asylentscheidungen zu treffen.