„Es gibt keinen anderen Weg“
15. September 2018 von Thomas Hartung
Seine medialen Etikettierungen schwanken zwischen „Genosse Rockstar“ (Welt), „Jonny Cash des Kommunismus“ (New York Times), „singender Cowboy“ (Sächsische Zeitung), „Rock’n‘Roll-Bolschewist“ (Spiegel) oder „Elvis des Ostens“ (n-tv): Dean Reed – neben dem Folksänger Perry Friedman und dem Publizisten Victor Grossman der dritte prominente „Ami“ in der DDR. Er spielte in 20 Filmen mit, produzierte 13 Platten und gab Konzerte in 32 Ländern. Wer war dieser umtriebige Frauenheld, der einen einsamen Tod im Zeuthener See sterben musste?
Der Sohn eines erzkonservativen High-School-Lehrers, der 1938 auf einer Hühnerfarm in Wheat Ridge, einem Vorort von Denver am Fuße der Rocky Mountains, zur Welt gekommen war, bekommt mit zwölf Jahren seine erste Gitarre und bessert als Sänger und Rodeo-Reiter sein Taschengeld auf. Vater Reed hielt Popmusik für eine „internationale kommunistische Verschwörung“, sein Sohn erkor sie nach abgebrochenem Meteorologiestudium zum Beruf. Zuvor versuchte er sein Glück in Hollywood. Die Warner-Studios schickten ihn auf die „School Of Stars“ und ließen ihn in Seifenopern spielen.
1959 schaffte es sein süßlicher Sommerhit „Our Summer Romance“ bis auf Platz 2 der Charts eines Regionalsenders in Colorado. Bald wurden seine Schnulzen auch in Südamerika gespielt, wo ihn die Fans schon 1960 zum beliebtesten Popstar des Kontinents wählten – vor Elvis Presley, Paul Anka und Ray Charles. In Chile wurde er hysterischer als jeder andere Star begrüßt, die Ankunft in Santiago de Chile wurde live im Radio übertragen. Hier sang er für die Reichen in den Nachtclubs und, umsonst, für die Armen in Stadien und Elendsvierteln. Die Freiheitsbewegungen in den Ländern Südamerikas prägen ihn politisch. Als er sich 1962 zur Fußball-WM mit dem Sowjettorwart Lew Jaschin verbrüderte, wurde Reed erstmals bei der CIA aktenkundig. Er protestiert gegen das Wettrüsten in den USA ebenso wie er den amerikanischen Vietnamkrieg verurteilt.
Ab 1965 hatte er seine eigene „Dean-Reed-Show“ im argentinischen Fernsehen. Das Land schickte ihn im selben Jahr zum Weltfriedenskongress in Helsinki, wo seine Schlichtung eines Podiumsstreits zwischen der russischen Kosmonautin Valentina Tereschkowa, dem Dichter Pablo Neruda und Pfarrer Martin Niemöller legendär wurde: Er erhob sich, stimmte „We Shall Overcome“ an, der Kongress fiel glücklich ein. Anschließend begab er sich auf Tournee in die Sowjetunion. Die Argentinier schickten ihn danach als Russenfreund zurück in seine US-Heimat.
Im Oktober 1966 startete Reed in der Sowjetunion eine neue Karriere, nahm Platten auf, tourte durch die russischen Republiken sowie die Mongolei und wurde dortselbst neben Präsident Gerald Ford und Außenminister Henry Kissinger zum bekanntesten Amerikaner. Im Jahr darauf zog er mit seiner Frau Patricia nach Rom, eine Tochter kommt zur Welt. Bis 1973 spielte er in der Cinecittà in zwölf Filmen mit, vor allem in Italowestern, u.a. an der Seite von Yul Brunner. Und sein politisches Engagement setzte er auch fort: 1970 unterstützte er mit Konzerten in Chile den Wahlkampf der „Unidad Popular“ Salvador Allendes, der im September 1973 als Präsident entmachtet und ebenso erschossen wurde wie Folksänger Victor Jara, der Leiter der Künstlerabteilung der Kommunistischen Partei Chiles, der ihn sehr beeinflusste – als IM Victor spitzelte Reed übrigens später für die Stasi.
„best looking man of the world”
Im Herbst 1971 bekommt sein Leben eine neue Wendung. Reed ist zur Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche eingeladen, um einen Film über Chile zu zeigen, den er mitproduziert hatte. Im Publikum sitzt die junge grünäugige Lehrerin Wiebke Dorndeck. Beim Abschlussempfang prostete sie ihm nach dem zweiten Wodka zu: „You are the best looking man of the world“. Am Ende soll der große und schlanke, charmante und blendend aussehende Mann mit den blauen Augen sie gefragt haben: „Wollen wir von hier fliehen?“ Sie trennt sich von ihrem Mann und setzt die Pille ab; Reed verlässt Patricia und zieht 1972 in die DDR. 1973 Heirat und Abtreibung, 1976 dann doch die Geburt einer Tochter.
Das Land hieß ihn herzlich willkommen. Von einem beiderseitigen Missverständnis schreibt Michael Pilz in der Welt: „Während ihn die DDR für einen Weltstar hielt, hielt er die DDR für eine Keimzelle der Weltrevolution.“ „Die haben sich gegenseitig gebraucht und genutzt. Dean Reeds Bekenntnis zur DDR war ja gleichzeitig auch ein Bekenntnis zur Inszenierung“, erzählt im MDR Leopold Grün, dessen Dokumentarfilm „Der Rote Elvis“ 2007 Premiere feierte. „Er hat sich einfach dorthin begeben, wo er mit offenen Armen empfangen wurde, wo er plötzlich neue Arbeitsfelder für sich gesehen hat. Das haben ihm ja auch viele vorgeworfen: Angela Davis hat ihn aufgefordert, lieber die kommunistische Partei in den USA zu unterstützen als im Osten rumzutanzen.“ Manche sprachen von Feigheit.
Innerhalb von sechs Jahren drehte Reed in der DDR fünf Filme, darunter „Aus dem Leben eines Taugenichts“ nach Joseph von Eichendorff, „Kit & Co.“ nach Jack London sowie „El Cantor“, eine Verfilmung des Lebens von Víctor Jara. Der „Mann aus Colorado“, wie seine ab 1977 ausgestrahlte DDR-Fernsehshow hieß, gibt zwei Jahre zuvor im DEFA-Streifen „Blutsbrüder“, für das er selbst das Drehbuch schreibt, an der Seite von DDR-Rothaut Gojko Mitic einen geläuterten US-Kavalleristen, der nach einem Massaker an Indianern erst die US-Standarte zerbricht und sich dann den Cheyenne anschließt. Der Film ist sein endgültiger Durchbruch in der DDR.
Zugleich gastiert er im Ostblock vor bis zu 70 000 Zuschauern und bringt mit seiner Ausstrahlung, die an den jungen Kennedy erinnert, ein bisschen Glanz der großen weiten Welt ins dröge Einerlei des sozialistischen Alltags. „Ich bin Marxist, was auch immer ich singe“, hat Reed später bekannt. „Und ich wirke überzeugender als Marxist, je besser ich als Showman bin.“ Von den Sowjets bekommt Reed als erster Ausländer den Lenin-Preis für Kunst und Literatur, eine von vielen Ehrungen. In der DDR erscheint eine offizielle Biografie, im vorpommerschen Pasewalk wird ein Bäckereikombinat nach ihm benannt, und sein Konterfei mit Gitarre zierte das Etikett für eine massenindustriell produzierte „Rum-Cola“ aus dem Getränkewerk Dessau.
„narzisstischer Salon-Bolschewik“
Obwohl Reed inzwischen Mieter eines Wassergrundstücks mit Haus und Motorboot in Rauchfangswerder wurde, einem Ortsteil von Berlin-Schmöckwitz, hielt ihn das nicht von exzessiven politischen Reisen ab, auf denen er, der seinen US-Pass nie abgab, seine Popularität in ideologische Dienste stellte. Bilder aus dem Libanon zeigen ihn mit Arafat, Gitarre und Kalaschnikow. 1978 erschien er plötzlich zu einem Solidaritätsauftritt für Farmer in Minnesota und wird festgenommen. Per Hungerstreik bringt er die Berichterstattung in Gang, Prominente wie Joan Baez und Pete Seeger appellieren an US-Präsident Jimmy Carter einzugreifen. Als Reed nach elf Tagen freikommt, ist er für Millionen Fans im ganzen Ostblock nicht mehr nur einfach ein Star, sondern ein Held.
Doch dieser Gefängnistourismus markiert den Anfang vom Ende: „Da stilisierte sich ein Sänger zum politischen Gefangenen, während man in der DDR sehr schnell vom Sänger zum politischen Gefangenen werden konnte“, bemerkt Pilz gallig, zumal Reed zwei Jahre zuvor die Unterschrift unter die Künstlerresolution für den ausgebürgerten Wolf Biermann verweigert hatte. Und als die Ostdeutschen vielfach Ausreiseanträge zu stellen begannen, wird der US-Bürger mit Wohnsitz Ost-Berlin zu einem seltsamen Anachronismus. „Viele empfanden ihn inzwischen als lächerlichen Anpasser und narzisstischen Salon-Bolschewiken“, der ausgiebig seine Reisefreiheit nutzte und zugleich die Mauer verteidigte, glaubt sein Biograph Stefan Ernsting. „Er wurde zum Opfer seiner eigenen Inszenierung“.
Zudem scheitert die Ehe mit Wiebke: „Er erklärte, dass er diese Trennung für seine Selbstverwirklichung brauche, und hat mich mit meiner Tochter vor die Tür gesetzt. Da konnte er knallhart und ohne Gefühl sein. Es wäre ihm egal, ob wir wieder nach Leipzig gingen oder in Berlin eine Bleibe nähmen. Für ihn stand nur fest, dass er das Haus am See behalten würde“, sagte sie 2007 der SuperIllu. Heute führt Wiebke Reed eine erfolgreiche Schauspieleragentur.
Daneben stürzen die Verkaufszahlen von Reeds Platten ab und floppt sein Western-Klamauk „Sing, Cowboy, sing“: In der DEFA wird von einer Blamage gesprochen, die Filmkritik zerreißt die Parodie, Reed selbst spricht von einer „Klamotte“, glaubt sie aber gut gemacht zu haben. Ein weiteres Filmprojekt platzt, innerlich entfremdet er sich von der DDR. 1982 berichteten Mitarbeiter der Stasi, dass Reed beim Streit mit einem Verkehrspolizisten „die DDR mit einem faschistischen Staat verglich und zum Ausdruck brachte, dass er, ebenso wie die 17 Millionen DDR-Bürger, es ‚bis oben hin satt‘ hätte“. Anschließend forderte er den Mann auf, ihn zu verhaften, was „hier ja gang und gäbe“ sei. Reed sang öffentlich Bettina Wegners regimekritisches Lied „Kinder“ und wurde von der SED ermahnt. Er wurde depressiv, begann unter Heimweh zu leiden, telefonierte regelmäßig mit Freunden in den USA.
Im April 1986 hat Reed seinen letzten großen Auftritt: eigentlich als erneute Bekanntmachung seiner Person in den USA geplant, verteidigte er in der CBS-Sendung „60 Minutes“ neuerlich die Berliner Mauer und wirft Ronald Reagan Staatsterrorismus vor. Nach der Sendung, mit der er sich seine Rückkehr in die USA endgültig verbaute, erhält Reed wilde Drohbriefe und wird als Verräter beschimpft. Tagelang habe er sich mit den Briefen in seinem Zimmer eingeschlossen, so Ernsting.
Vor allem aber macht ihm Renate Blume zu schaffen, mit der er in den 70er Jahren bereits gedreht hatte. Die dunkle, geheimnisvolle Schönheit war fünf Jahre mit dem Erfolgsregisseur Frank Beyer („Spur der Steine“, „Jakob der Lügner“) verheiratet, lebt dann zwei Jahre mit Gojko Mitic zusammen, dem sportlichen „Häuptling vom Dienst“ zahlreicher DDR-Indianer-Filme – und heiratet schließlich 1981, ganz in weiße Plauener Spitze gehüllt, den schillernden Kollegen, dessen Romantik sie beeindruckte.
Fünf Jahre später schreibt Reed mit schlechtem Deutsch in seinem letzten Brief: „Ich habe sie gebeten, mich in Ruhe zu lassen, aber sie hat immer weiter angeschrien, dass ich war nur ein schlechter amerikanischer showman. Sie quält mich und foltert mich seit Jahren, weil sie ist krank. Eifersüchtig auf alle die Leute, die ich liebe oder die mich lieben. Aber besonders meine ehemalige Frau Wiebke und meine Tochter… Sie und Wiebke sollen meine Feinde sein. ich weigere mich jemand zu hassen, die ich einmal als Ehefrau gehabt habe. Ich liebe Renate. Trotz ihrer Krankheit, aber ich kann keinen Weg finden aus von meinen Problem. … Sei nicht böse. Es gibt keinen anderen Weg. Ich wollte bis der Tod uns scheidet mit Renate leben – aber sie hat mich umgebracht – Tag für Tag – und heute mir zu sagen, dass ich zu feige bin, mich umzubringen.“
„Mein Tod hat nichts mit Politik zu tun“
Am 13. Juni 1986 verschwindet der Sänger aus seinem Haus, in dem er zusammen mit Blume lebt. Nach zwei Tagen wird Reeds Auto keine zehn Gehminuten vom Haus entfernt an einem Waldweg unweit des Zeuthener Sees gefunden – mit dem 15seitigen Abschiedsbrief, in zittrigen Großbuchstaben verfasst. Wiederum zwei Tage später findet die Wasserschutzpolizei die Leiche. Die Ermittler erfahren, dass der singende Cowboy schon zwei Tage vor seinem Verschwinden versucht hatte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Die Leichenschau bestätigt das später, aber die Schnitte sind nur oberflächlich. Vermutlich hatte ihn der Mut verlassen. Das ergibt sich auch aus seinem Abschiedsbrief. Die Gerichtsmediziner stellen als Todesursache „am ehesten Ertrinken unter toxischer medikamentöser Beeinflussung“ fest. Er hatte eine Überdosis Beruhigungsmittel geschluckt.
Renate Blume, die sich bis zuletzt weigerte, ihn zurück in die USA zu begleiten, und ihm Szenen machte, schweigt bis heute zu den Vorwürfen. Weil die menschliche Tragödie eines Friedenskämpfers wie Dean Reed nicht ins Bild passte, erklärt Honecker persönlich den Selbstmord zur Geheimsache: „…niemand soll davon erfahren, auch nicht Deans Frau, um ihr die Enttäuschung zu ersparen“, zitiert der Tagesspiegel aus einer ungenannten Quelle. Als Todesursache vermelden die DDR-Abendnachrichten einen „tragischen Unglücksfall“, auch in den Traueranzeigen ist von einem „tragischen Unfall“ die Rede. Geglaubt haben das die wenigsten, dafür waren rasch Gerüchte vom Selbstmord und sogar von einem Mordkomplott ausländischer Geheimdienste in der Welt. Der Brief ist übrigens nicht an Blume gerichtet, sondern an seinen „Freund und Genossen“ Eberhard Fensch, der von 1968 bis 1989 im SED-Zentralkomitee für Rundfunk und Fernsehen zuständig war.
Erst 1990 lässt der letzte DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel den Fall nochmals untersuchen, das Ergebnis wird nur tröpfchenweise bekannt. Anfang der 90er Jahre tauchen erste Auszüge aus dem Abschiedsbrief in Boulevardblättern auf. Fensch mutmaßt im Tagesspiegel, dass das Schreiben aus dem Panzerschrank des Innenministeriums heraus verkauft worden sein muss: „Ich denke, es gibt mindestens zehn Leute, die eine Ablichtung haben“. Deutlich wird, dass Reed bis zuletzt seiner Haltung treu blieb: „Ich bin nicht mit alles einverstanden, aber Sozialismus ist noch nicht erwachsen. Es ist die einzigste Lösung für die Hauptprobleme für die Menschheit der Welt.“ Reed lässt auch Grüße an SED-Chef Erich Honecker ausrichten und betont explizit „Mein Tod hat nichts mit Politik zu tun.“
Doch obwohl – oder vielleicht weil – ihn im siegreichen Westen niemand wirklich kannte, zieht der „Mann aus Colorado“ auch mehr als dreißig Jahre nach seinem Tod Interesse auf sich – wenngleich heute sogar sein Grab verwaist ist, denn 1991 hat seine Mutter die sterblichen Überreste ihres Sohnes nach Boulder in die USA überführen lassen – „American Rebel“ steht dort auf seinem Grabstein. Im Web pflegt eine aktive Fangemeinde noch immer sein Andenken, Dutzende von Büchern und Dokumentarfilmen haben sich seit 1990 des Falls angenommen. Als Ritterschlag hätte sicher die Verfilmung „Comrade Rockstar“ gelten können, die Hollywoodstar Tom Hanks mit sich in der Hauptrolle drehen wollte. Er hatte Renate Blume die Filmrechte für eine unbekannte Summe abgekauft, 2012 aber das Projekt aus Finanzgründen für eingestellt erklärt. Damit bleibt Reed endgültig verwehrt, das zu werden, was er schon zu Zeiten des Kalten Krieges nie war: ein Weltstar.