„Das ist dramatisch“
22. August 2018 von Thomas Hartung
Seine Fruchtsorten tragen so klangvolle Namen wie Leikora, Askola oder Habego, und in ihrem Hit „Du hast den Farbfilm vergessen“ hat ihn 1974 sogar Nina Hagen besungen: „Hoch stand der Sanddorn am Strand von Hiddensee …“ Doch um das Ölweidengewächs, das hierzulande noch bis Ende September geerntet wird, steht es schlecht: „Mecklenburg-Vorpommern droht offenbar ein Sanddornsterben”, vermeldete Ende Juni das Landesamt für Lebensmittelsicherheit und Fischerei (LaLLF) Güstrow, das im Sommer 2015 erstmals abgestorbene Sanddornpflanzen beobachtete.
Der Schweriner Agrarminister Till Backhaus (SPD) sagte im Nordkurier: „Am Hochufer von Ahrenshoop sind bereits ganze Bestände tot. In Teilen der Insel Rügen und zwischen Börgerende und Heiligendamm gibt es ebenfalls abgestorbene Sanddornsträucher.“ Auch rings um Warnemünde sowie in den Sanddorn-Plantagen in den Landkreisen Vorpommern-Greifswald und Ludwigslust-Parchim gebe es Pflanzenschäden: „Das ist dramatisch! Wir müssen uns dieses Problems jetzt verstärkt annehmen“, schlug der Minister Alarm.
Er ist nicht allein. 90 Prozent der Sanddorn-Pflanzen in der Lübecker Bucht sind abgestorben, erklärt Matthias Braun vom Vorstand des Landschaftspflegevereins Dummersdorfer Ufer in den Lübecker Nachrichten: „Wir beobachten das seit etwa vier Jahren – und jetzt mit sehr großer Sorge“. Damit hat sich das Phänomen, von dem das Kieler Umweltministerium bis Ende Juni 2018 nichts gewusst haben will, auf einer inzwischen mehrere hundert Kilometer langen Küstenlinie ausgedehnt; ob von Ost nach West oder umgekehrt, ist unklar.
„kein Hinweis auf eine Übersäuerung“
Die Gründe liegen im Dunkeln. Braun vermutet einen Befall der Pflanzen mit der Verticillium-Welke, eine Pflanzenkrankheit, die durch Pilze verursacht wird und über den Boden in das Gewächs kommt. Die Blätter bleiben klein, werden gelblich und sterben ab. „Auch nach einem Rückschnitt wächst der Pilz immer weiter ein. Es gibt keine Behandlungsmöglichkeiten, einmal befallene Pflanzen sind nicht mehr zu retten“, so Braun. Sanddornpflanzen hingen unterirdisch über ihre Wurzeln zusammen. „Wenn eine Pflanze vom Pilz betroffen ist, werden andere in der Nähe ebenfalls befallen“, weiß der Biologe.
Bereits vor zwei Jahren hatte der Verein aufgrund von Hinweisen von den ostfriesischen Inseln, auf denen ebenfalls der Sanddorn vertrocknet, auf dem Priwall Bodenproben entnommen und diese untersuchen lassen. „Wir haben allerdings keinen Hinweis auf eine Übersäuerung gefunden“, so Braun. Eine letzte Chance, dass der Sanddorn nicht vollständig ausstirbt, sieht der Experte darin, dass einige Pflanzen gegen den Pilz resistent sind und deshalb für weiteren Wuchs sorgen könnten. „Ansonsten wird es für viele Jahre keinen Sanddorn mehr hier geben.“ Die vertrockneten Büsche und Bäume müssten großflächig entsorgt werden, vor allem wegen der drohenden Brandgefahr.
Der Pflanzenschutzdienst des LaLLF habe inzwischen gleich mehrere Schadpilze identifiziert, die beim Absterben von Sanddorn in anderen Regionen allerdings nicht in Erscheinung getreten seien. Möglich sei das Zusammenwirken mehrerer Ursachen. Neben Phytoplasmen – Bakterien, die sich als Parasiten in Pflanzen ansiedeln – könnten laut der Experten des LaLLF auch klimatische Faktoren eine Rolle spielen. Bei Deutschlands größtem Sanddorn-Anbauer, der Storchennest GmbH bei Ludwigslust, ging der Ertrag seit dem „Supersommer 2011“ von rund 100 Tonnen um rund die Hälfte zurück, so Geschäftsführerin Silvia Hinrichs im Nordkurier.
Die Ludwigsluster, die sogar eine Sanddornkönigin wählen, hatten Anfang der 80er Jahre eine Pionierrolle inne: auf den sandigen, eher mageren Böden ließ die DDR-Führung Sorten für den kommerziellen Anbau entwickeln und pflanzen. Der Sanddorn stammt ursprünglich aus dem eurasischen Raum, er wächst in Tibet, China und der Mongolei. „Es ist die heimische Obstart mit dem höchsten Wirkstoffgehalt“, so Friedrich Höhne von der LaLLF in der Lausitzer Rundschau. So sei der Vitamin-C-Gehalt siebenmal höher als jener der Zitrone. Das interessierte die DDR-Führung, die von teuren Zitrusfrucht-Importen unabhängig werden wollte.
Zitrone des Nordens
Heute wird vor allem in Mecklenburg-Vorpommern, aber auch Brandenburg und Sachsen-Anhalt, auf rund 600 ha Fläche Sanddorn kultiviert; allein 120 davon entfallen auf das Storchennest. Erlebnis-Bauernhöfe auf Rügen bieten inzwischen sogar Ernteurlaube an. „Wir geben unseren Gästen die Möglichkeit, mehr über die Zitrone des Nordens zu erfahren“, sagt Putgartens Bürgermeister Ernst Heinemann im Nordkurier. Wer wolle, könne sich seinen Sanddornsaft sogar selbst pressen.
2,4 ha des deutschen Anbaugeländes entfallen seit zehn Jahren aber auch auf das Frauengefängnis in Vechta: Gefangene im Offenen Vollzug können hier für ca. 12 €/Tag ihre Arbeitspflicht ableisten. Das Anbaugebiet ist das größte in den alten Bundesländern. Weil im Gefängnis keine Lebensmittel verarbeitet werden dürfen, wird die Ernte ans Storchennest verkauft – und diverse Sanddornprodukte unter der Marke „Justiz-Irrtum“ im JVA-Onlineshop angeboten, darunter ein „Jailhouse-Jam“.
So anspruchslos und robust die Pflanze eigentlich ist, so aufwändig stellt sich die Ernte der Beeren dar. Die tragenden, vielfach bedornten Zweige werden abgeschnitten und in flüssigem Stickstoff bei – 90 Grad Celsius schockgefrostet. So können die Früchte dann von den Zweigen geschlagen, in einer Art Fleischwolf zermust und schließlich zu Saft gepresst werden. Bei derart rabiaten Erntemethoden kann ein Strauch nur alle paar Jahre beerntet werden und muss sich dazwischen erholen. Das macht die Beeren teuer.
Inzwischen kann man aus den Früchten, die eher Nüsse als Beeren sind, weit mehr fabrizieren als nur Sanddornsaft, -torte, -eis oder -marmelade. Mittlerweile haben die kleinen Vitamin-Bomben auch die Supermärkte und Drogerien erobert: als Bonbons, getrocknet in Tees, mit Apfel zu Kompott vermischt, als Körper-Öl oder in Cremes. Denn die Super-Früchte enthalten neben viel Vitamin C auch den Vitamin-B-Komplex, Karotin, wichtige Mineralien und Spurenelemente sowie ungesättigte Fettsäuren. Liebenswerter Nebeneffekt: da nach dem Genuss der Beeren die Lust auf Süßigkeiten, aber auch auf Nikotin und Koffein schwindet, funktionieren sie als natürliche Gewichtsreduzierer. Außerdem wirkt ihr Öl haarkräftigend und entzündungshemmend. Fast 200 Sanddorn-Produkte, fast alle öko-zertifiziert, sind inzwischen auf Märkten erhältlich – nicht nur die auf der Insel Rügen würden an Attraktivität sehr verlieren, müssten sie darauf verzichten.
Nach dem gehäuften Auftreten der aus Osteuropa eingewanderten Sanddornfliege vor fünf Jahren droht der Pflanze nun erneut Ungemach. „Wichtig ist jetzt ein umfangreiches Monitoring im Land mit zielgerichteten Probeentnahmen und -untersuchungen. In der Diagnostik arbeiten wir bereits mit dem Julius-Kühn-Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen und mit Laboren anderer Bundesländer zusammen“, verspricht Backhaus. Das ist auch dringend geboten, um einerseits eine touristisch beliebte Küstenattraktion zu erhalten und andererseits nach Strandgerste, Lichtnelke und einigen Brombeerarten nicht eine weitere Pflanzenart in Norddeutschland für immer zu verlieren.