Mit Kopf, Herz, Hand – und Fuß
5. Oktober 2018 von Thomas Hartung
Dem Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi verdanken wir seit rund 200 Jahren die Einsicht, dass Lernen nur ganzheitlich mit „Kopf, Herz und Hand“ wirklich sinnvoll ist und allem Begreifen das Greifen vorausgeht. Wer allerdings nur wenige Möglichkeiten hat, Hand – und Fuß – zu trainieren, beschränkt sich auf die Kopfsinne Hören und Sehen, die vor allem durch Medienkonsum bedient werden. Doch zu viel Mediennutzung im jungen Alter wirkt sich ungünstig auf die Entwicklung aus, warnt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) mit Blick auf Daten des Nationalen Bildungspanels.
Häufig seien Übergewicht, Schlafstörungen oder ein aggressiveres Sozialverhalten die Folge, sagt IW-Familienexperte Wido Geis in der ZEIT. Problematisch: vor allem Kinder aus bildungsfernen Familien verbringen besonders viel Zeit vor Bildschirmen. Das Institut unterschied bei der Auswertung zwischen Müttern mit und ohne berufsqualifizierenden Bildungsabschluss – also zum Beispiel nur mit abgeschlossener Hauptschule. Demnach verbrachten fast 60 Prozent der Viertklässler mit einer Mutter ohne berufsqualifizierenden Abschluss mehr als zwei Stunden am Tag vor Bildschirmen. Bei den Kindern von Müttern mit Hochschulabschluss war dies hingegen nur bei knapp 30 Prozent der Fall. Den Grund für die Diskrepanz sieht Geis darin, dass sich Kinder an ihren Eltern orientierten: „Erwachsene aus bildungsfernen Haushalten konsumieren mehr Fernsehen“. Eltern aus bildungsnahen Haushalten besäßen hingegen deutlich mehr Bücher, weshalb das Lesen eine größere Rolle spiele.
Von einem „klaren Alarmsignal“ spricht auch der AOK-Vorstandsvize Jens Martin Hoyer bei der Vorstellung der aktuellen Familienstudie seiner Krankenkasse. Danach bewegt sich jede dritte Familie zu wenig, auch seien mehr als die Hälfte der Eltern, oft die Väter, zu dick. Wenn auch unter anderem Untersuchungsdesign, kommt eine Studie der Krankenversicherung DKV ebenfalls zu dem Schluss, dass nur noch 43 Prozent der deutschen Erwachsenen das empfohlene Mindestmaß an körperlicher Aktivität erreichen. Der Trend der vergangenen Jahre sei rückläufig. 2010 hätten noch 60 Prozent der Bundesbürger genügend Bewegung bekommen. Jeder Zehnte gab an, überhaupt keiner körperlichen Aktivität nachzugehen, die länger als zehn Minuten am Stück dauert. Der Nachwuchs macht‘s nach.
Statt rauszugehen spielen Kinder besonders an freien Tagen auf Smartphone und Tablet: 59 Prozent der Kinder von vier bis sechs Jahren nutzen Medien länger als die von Experten empfohlene halbe Stunde am Tag, am Wochenende liegt dieser Wert sogar bei 84 Prozent, so Hoyer. Bei Kindern von sieben bis elf Jahren sind die Zahlen ähnlich. Siebzehnjährige schauen 135-mal am Tag auf das Smartphone. Nützlich wären gesicherte Fahrradwege, gut erreichbare Sportplätze, Schwimmbäder oder Spielplätze. Kinder, die laut Eltern in einem attraktiven Wohnumfeld leben, bewegen sich im Schnitt an 3,8 Tagen pro Woche und damit 27 Prozent mehr als Kinder, die diese Bedingungen gar nicht vorfinden (3,0 Tage pro Woche).
Ähnlich sehe es auch beim gemeinsamen Radfahren aus. Prompt schlug hier eine Mitteilung der Landesverkehrswacht Nordrhein-Westfalen Alarm. Wir Direktor Burkhard Nipper der Rheinischen Post sagte, müssen mittlerweile fünf bis zehn Kinder nach der Fahrradprüfung nachgeschult werden. Vor zehn Jahren hätten im Durchschnitt nur zwei Kinder pro Klasse einer Nachschulung bedurft. Den Schülerinnen und Schülern fehlt es nach Ansicht Nippers an der nötigen Motorik: „Die Beweglichkeit der Kinder ist deutlich zurückgegangen. Manche können nicht einmal mit einer Hand fahren oder fahren selbst beidhändig Schlangenlinien.“ So beherrschen immer mehr Kinder wichtige Alltagssituationen des Radfahrens nicht, beispielsweise das Spurhalten beim Blick zur Seite oder nach hinten. Dabei fallen vor allem Stadtkinder, Mädchen mit Migrationshintergrund, übergewichtige und überbehütete Kinder auf. Gefährlich sei diese Entwicklung vor allem deshalb, weil die Kinder mit dem Fahrrad nicht mehr sicher am Straßenverkehr teilnehmen könnten und, da es allem in Städten oftmals an sicheren Radwegen mangelt, Kinder immer weniger mit dem Fahrrad fahren, weshalb sie es natürlich auch nicht richtig können, so Nipper. Die Fahrradprüfung absolvieren bundesweit ca. 95 % der Grundschüler.
„Das ist eine problematische Entwicklung“
Eine aktuelle Untersuchung des Kinderhilfswerks kommt in Sachen Spielverhalten auch zu negativen Befunden. So spiele nur jedes zweite Kind selbst bei schönem Wetter an drei oder mehr Tagen der Woche im Freien. Knapp die Hälfte der Stubenhocker führen als Grund an, dass es in ihrem Wohngebiet keine anderen Kinder zum Spielen gibt. Mehr als ein Viertel hat keine geeigneten Spielmöglichkeiten oder sagt, dass der Straßenverkehr zu gefährlich ist. „Dadurch haben sie weniger soziale Erfahrungen mit Gleichaltrigen und einen deutlich höheren Medienkonsum als Kinder in spielfreundlichen Stadtteilen. Das ist eine problematische Entwicklung“, erklärt Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerks, in der Sächsischen Zeitung.
Dabei könne das Draußenspielen für die persönliche Entwicklung der Kinder gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, so Claudia Neumann vom Kinderhilfswerk im selben Blatt: „Für ein gesundes Aufwachsen sind Kopf, Herz, Hand und Fuß wichtig“. Es beuge Haltungsproblemen, Übergewicht und Konzentrationsstörungen vor, wenn Kinder häufiger und länger aktiv im Freien spielten. Nur über den Nutzen aufzuklären und zu mehr Bewegung anzuregen, reiche aber nicht mehr aus: „In der Gesellschaft müssen prinzipielle Möglichkeiten geschaffen werden, um Sport im Alltag zu integrieren“, so Christian Andrä, Sportpädagoge der Uni Leipzig. Verschiedene Initiativen versuchen seit geraumer Zeit, den laut Andrä „seit Jahrzehnten präsenten Trend“ zum Bewegungsmuffel aufzuhalten.
So hat das Kinderhilfswerk, weil in vielen Kommunen die Voraussetzungen für ausagierendes Spielen noch fehlen oder nicht mehr vorhanden sind, anlässlich der Etablierung eines „Weltspieltags“ vor 10 Jahren das Bündnis „Recht auf Spiel“ gegründet. „Wir brauchen dringend eine auf Kinder bezogene Stadtentwicklungs- und Verkehrspolitik. Gerade in Wohngebieten fahren die Autos zu schnell oder nehmen parkend den Kindern den Platz zum Spielen“, sagt Hofmann.
Nach seinen Worten spielten Kinder aus sehr kinderfreundlichen Stadtteilen täglich durchschnittlich fast zwei Stunden alleine ohne Aufsicht draußen, Kinder unter schlechten Bedingungen nur eine Viertelstunde. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt mindestens eine Stunde täglich. Das Kinderhilfswerk appelliert aber nicht nur an Stadtplaner, sondern auch an die Eltern, die ihren Kindern den nötigen Freiraum zum Draußenspielen geben müssten.
„Kinder werden immer mehr zu Stubenhockern“, erklärt Hofmann. „Sie werden zur Schule gefahren, verbringen dort die meiste Zeit im Sitzen, bleiben zunehmend auch am Nachmittag unter dem Dach der Schule oder machen es sich vorm heimischen Computer bequem.“ Es gebe heute immer mehr Kinder, die sich nicht mehr trauen, über einen schmalen Bach zu springen. Sie bewegten sich bei Regen nicht von der Stelle, bis das Elterntaxi kommt. Und das, obwohl 61 Prozent der für die Studie des Kinderhilfswerks befragten Eltern die Bewegung im Freien als sehr wichtig ansahen. Von den Kindern und Jugendlichen fanden das aber nur zwölf Prozent.
„Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten“
Inzwischen ist unstrittig, dass sich durch körperliche Aktivität Sauerstoffversorgung und Stoffwechsel im Gehirn verbessern und Denkprozesse effizienter laufen, weil das Gehirn durch regelmäßige körperliche Aktivität lernt, ökonomischer zu arbeiten. „Diese Trainingswirkung ist durchaus mit der auf Herz und Kreislauf vergleichbar“, fand Wildor Hollmann vom Institut für neurologische Forschung in Köln heraus. Viele Kognitionswissenschaftler vertreten heute die Embodiment-These, nach der alle geistigen Prozesse in sensomotorischen Interaktionen des Körpers mit seiner Umwelt wurzeln.
Eine pädagogische Initiative, die darauf baut, ist Andrä‘s Konzept zum „bewegten Lernen“, in das vielfältige Forschungsergebnisse über das Zusammenwirken von körperlicher und geistiger Fitness einflossen. „Durch den Bewegungssinn steht dem Gehirn ein zusätzlicher Informationszugang zur Verfügung“, so Andrä. Aktivität trainiere also auch den Geist. „Gute Mathenoten erzielen nicht unbedingt Kinder, die besonders viele Mathe üben, sondern vor allem die Kinder, die gut auf Bäume klettern und balancieren können“, weiß auch Hofmann. Immer mehr Bildungseinrichtungen in Sachsen lassen sich als „Bewegte Schule“ oder „Bewegte Kita“ zertifizieren, um die in der Freizeit nicht ausgeglichenen Bewegungsdefizite zu mildern.
So heißt es etwa in den Empfehlungen zur Unterrichtseinheit „Wähle die richtige Bindungsart!“ im Fach Chemie: „Die Ecken des Raumes stehen für die Bindungsarten: Polare Atombindung, unpolare Atombindung, Ionenbindung, metallische Bindung. Der Lehrer nennt Begriffe oder Sachverhalte bzw. stellt Fragen, die den Bindungsarten zugeordnet werden können und die Schüler begeben sich in die dazugehörige Ecke. Im Anschluss wird das Ergebnis diskutiert.“
Das „bewegte Lernen“ scheint in Sachsen umso nötiger, als sich die Regierungspartner CDU und SPD im Frühjahr auf die abstrakte Formel einigten, die vergleichsweise hohe Stundenlast der sächsischen Schüler „um vier Prozent“ zu senken und „alle Fächergruppen“ in die Prüfung einzubeziehen. Damit sollen letztlich 770 volle Lehrerstellen weniger nötig sein. Das Ergebnis verkündete Kultusminister Christian Piwarz (CDU) im Juni: Statt Kunst trifft es nun auch Deutsch, Biologie, Englisch – und Sport.
Der Aufschrei des Landessportbunds (LSB) ließ nicht lange auf sich warten. Statt – wie einst geplant – den Sportunterricht „einheitlich für alle Klassenstufen und Schularten auf zwei Wochenstunden“ zu begrenzen, bleibt zwar die dritte Stunde für die Erst- bis Drittklässler genauso wie für die Fünft- und Sechstklässler erhalten. Aber die Kürzung um je eine Sportstunde für alle Viert- und Siebtklässler sowie an den Oberschulen für alle Acht- bis Zehntklässler widerspreche dem Ziel „Gesund aufwachsen“ des Freistaates. Vor allem die Streichung für Viertklässler sei „nicht nachvollziehbar“, hieß es.
Sie ist es umso weniger, als die Schuleingangsbefunde des Schuljahres 2018/19 Erschreckendes offenbarten: nicht einmal jedes fünfte Kind hatte die Kriterien für eine altersgerechte Entwicklung erfüllt. Nicht nur, dass ein Drittel der angehenden Erstklässler in Sachsen nicht richtig sprechen kann. Probleme gebe es auch in der Körperkoordination sowie bei der Visuomotorik, der Fähigkeit, Sehen mit Bewegungen des Körpers zu koordinieren. Sozialministerin Barbara Klepsch (CDU) appellierte in der Sächsischen Zeitung an die Eltern, sich mehr Zeit für ihren Nachwuchs zu nehmen: beim Essen, Spielen und bei Ausflügen. „Screen-free-parenting“ heißt das in den USA und gilt dort als Trend.
Außerdem wurde bei fast zehn Prozent der angehenden Erstklässler Übergewicht bis hin zu Adipositas diagnostiziert. Untersuchungen hätten weiter ergeben, dass sich die Gewichtszunahme mit dem Alter nochmals verschärft: Laut Ministerium ist jeder sechste Sechstklässler übergewichtig. Auch eine australische Studie von 2017 legt einen Zusammenhang zwischen Bildschirmnutzung bei Jugendlichen und späterer Fettleibigkeit nahe. „Mir ist es besonders wichtig, dass sich unsere Kinder gesund ernähren und Spiel und Bewegung wieder zum Alltag der Kinder gehören. Setzen das Kinder und Eltern jeden Tag um, ist präventiv schon viel getan“, betonte Klepsch. Kinder sähen ihre Bildschirme oft häufiger und länger als Familien, Freunde oder Lehrer. Inzwischen haben Forscher vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig gar die beunruhigende Entdeckung gemacht, dass Übergewicht das Gehirn schrumpfen lässt und so das Denken einschränkt.
„Erfolgserlebnisse im Bewegungsbereich fördern auch das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Eltern, die ihre Kinder aus Angst in ihrem natürlich vorhandenen Bewegungsdrang behindern, können deren Entwicklung entscheidend hemmen“, befindet auch die Psychologin Britta Zander in ihrem Elternratgeber „Liebe allein reicht nicht“. Aus eigenen Erfahrungen in kritischen Situationen lernten Kinder oft mehr als durch andauernde elterliche Warnungen und Verbote.
Aber ein positives Studienresultat für Eltern ist doch noch zu vermelden: Der Mann in Vollzeit als Ernährer, die Frau vor allem als Hausfrau und Mutter mit einem Hinzuverdienst – ausgerechnet dieses traditionell-einfache, im linksgrünen Weltverständnis fast schon als überkommen geltende, ja als „heteronormativ“ herabgewürdigte Familienmodell scheint aus wissenschaftlicher Sicht das Glück der Familie zu mehren. Eine arbeitssoziologische Studie der Universität Marburg ergab, dass es nicht die Zahl der gearbeiteten Stunden an sich sei, die Väter und Mütter glücklicher mache, sondern die damit verbundene, klare Rollenzuweisung. Studienautor Martin Schröder vermutet in der ZEIT: „Sich gegen stereotype Rollenbilder zu stemmen kostet viele Menschen möglicherweise Lebenszufriedenheit“. Dass Arbeit und Bewegung in tradiertem Rahmen also glücklich machen, ist so neu aber nicht.