„Sogar die paar netten Lehrer waren Heuchler“
29. Dezember 2018 von Thomas Hartung
Dass ihm Hemingway bei einer Kriegsbegegnung 1944 in Paris „teuflisches Talent“ bescheinigte und aus lauter Begeisterung sogleich einem Huhn den Kopf abschoss, ist eine der besseren Legenden, die sich um Jerome David (J.D.) Salinger ranken. Dass sich einige seiner Fans als Mörder und Attentäter hervortaten, darunter Satanist Charles Manson und Mark Chapman, der nach dem Mord an John Lennon mit dem „Fänger im Roggen“ in der Hand festgenommen wurde, ist eine der schlechteren. Und dass er seinen unsterblichen Romanhelden Holden Caulfield seine rote Mütze verkehrt herum tragen ließ, was letztlich einen Jugendtrend begründete, ist gar keine Legende, sondern Realität.
Selten hat eine „Lebensbibel für Generationen“, so Marc Pitzke im Spiegel, junge Menschen derart beeinflusst wie „The Catcher in the Rhy“. Mit mehr als 65 Millionen verkauften Exemplaren war der Roman noch 2013 der drittgrößte US-Bestseller aller Zeiten (nach Henry Rider Haggards „She: A History of Adventure“ und Dan Browns „The Da Vinci Code“). Der Roman war zumal in der Übersetzung von Nobelpreisträger Heinrich Böll einer der wenigen Texte, die Gymnasiasten dies- und jenseits der Elbe lasen und der bis heute mehrfach adaptiert wurde: Der DDR-Longseller „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf (1973) ist ebenso wenig ohne das Salinger-Vorbild zu denken wie die Romane „Faserland“ von Christian Kracht (1995) oder „Crazy“ von Benjamin Lebert (1999).
Bis heute könne es bestenfalls Tom Sawyer an Popularität mit dem Teenager Holden Caulfield aufnehmen, der sich schnoddrig und munter-vulgär – allein 44-mal sagt er „Fuck“ – über seine Adoleszenzprobleme auslässt, meint Wolfgang Höbel im Spiegel. Obwohl Salinger nur diesen einen Roman und 35 Kurzgeschichten veröffentlichte, gilt er bis heute als einer der größten und meistrezensierten US-Autoren der Nachkriegszeit, der oft mit „feierlichem Ernst“ verehrt wird, so Höbel. Sein literarischer Mythos wirkte so stark, dass manche Kritiker gleich ein ganzes Jahrzehnt der amerikanischen Literaturgeschichte – die Jahre von 1948 bis 1959 – als „Ära Salinger“ bezeichnet haben.
„egal wie lange du lebst“
Diese Berühmtheit war nicht absehbar, als Salinger am 1. Januar 1919 als einziger Sohn eines wohlhabenden jüdischen Käsehändlers litauischer Herkunft in New York City geboren wurde. Seine Mutter, eine irisch-schottische Katholikin, war wegen des Vaters zum Judentum konvertiert. Biographen schreiben von einer „verwöhnten Kindheit“. Erste Versuche als Autor unternahm er als junger Kadett in einer Militärschule, als Student veröffentlichte er Kurzgeschichten und Filmkritiken und bereitete sich 1937 in Europa vor, das väterliche Geschäft zu übernehmen. Den Uni-Abschluss erwarb er nicht.
1941 durchlebte er eine traumatische Beziehung mit der noch minderjährigen Tochter des Dramatikers Eugene O’Neill, Oona, seiner großen Liebe, die ihn verließ, um 1943 mit 18 Jahren lieber den 54-jährigen Charlie Chaplin zu heiraten. Sicher auch daher schmerzte den Vater zweier Kinder, der dann doch dreimal verheiratet war, darunter kurzzeitig mit einer deutschen Ärztin, jede biografische Annäherung an seine Person. Nach Oona zeitlebens der Pädophilie verdächtigt, weil er junge Geliebte hatte und mit weiblichen Teenagern Brieffreundschaften pflegte, wird er zum stillen Exzentriker, dessen Texte in zunehmendem Maße introvertiert wie die eines Mannes scheinen, „der für immer auf seine Kindheit zurückblickt“, so der Guardian.
Viele Stories zeigen eine Vorliebe für nahezu ausschließlich kindliche und pubertäre Helden und Heldinnen, beschreiben die Erlebnisse von Kindern, Studentinnen, Schülern und jugendlichen Ehefrauen und bemühen sich dennoch, hinter profanem Jargon und hinter Alltagshandlungen subtilere psychische Regungen erkennbar zu machen. Es sind Figuren, denen oft zum Heulen ist, deren Nerven gefährlich zerrüttet sind und deren Welt bevölkert ist mit heuchlerischen Erwachsenen, abstoßenden Gleichaltrigen und mit toten oder weit entfernten oder hilflosen oder unendlich geliebten Geschwistern. Die jugendlichen, oft störrischen Verbündeten, die hier zusammenfinden, seien „jedoch beseelt von einem anrührenden Glauben an die Möglichkeit einer freundlicheren, klügeren, helleren Welt“, befand Höbel.
1942 trat Salinger in die US-Army ein, nahm an fünf Feldzügen in Frankreich teil, erlebte die berüchtigte deutsche Ardennen-Offensive mit – und seine nächsten Traumata: Die Qual des Krieges zog sich später als Motiv durch viele durchaus düstere Geschichten Salingers. Das erste verursachte die Schlacht im Hürtgenwald, die wegen ihres blutigen Gemetzels und mindestens 22.000 gefallenen US-Soldaten traurige Berühmtheit erlangte. „Ein Soldat und Autor, der im Zweiten Weltkrieg dem Tod entkam, doch das Überleben nie vollends annahm“, erklärt sein Biograph David Shields. Sein Leben sei „eine Selbstmordmission in Zeitlupe“.
Das zweite Trauma folgte Ende April 1945, als er das eben befreite Konzentrationslager Kaufering IV besuchte und dort offenbar erlebte, dass die nicht gehfähigen Insassen vor dem Heranrücken der alliierten Streitkraft bei lebendigem Leib verbrannt worden waren. Nach dem Krieg war Salinger infolge eines Nervenzusammenbruchs in psychotherapeutischer Behandlung; seine Tochter Margaret schrieb in ihren Erinnerungen, dass ihr Vater einmal gesagt haben soll: „Du bekommst nie wirklich den Geruch von brennendem Fleisch aus deiner Nase, egal wie lange du lebst“.
„Er war emotional und warmherzig“
Direkt nach Kriegsende war Salinger, der gut Deutsch sprach, für sechs Monate im fränkischen Gunzenhausen als ziviler „Investigator“ für eine Abteilung des Nachrichtendienstes tätig und begann spätestens hier mit den Arbeiten am „Fänger im Roggen“, der 1951 erscheint. Eine literarische Sensation, die William Faulkner später das „beste Buch der gegenwärtigen Schriftstellergeneration“ nennen sollte. Es war zwei Jahre auf dem Markt, als Salinger eine Flucht ähnlich seinem Romanhelden Caulfield antrat: in die waldigen Hügel Neu-Englands, nach Cornish. Überwältigt und – nach eigenem Eingeständnis – eingeschüchtert von seinem eigenen Erfolg zog er sich aus der Öffentlichkeit zurück, lebte in seinem abgelegenen, geräumigen Holzhaus im Staat New Hampshire.
Von hier setzte er gegen Biografen und Plagiatoren wie den nicht minder geheimnisvollen Schwedenamerikaner John D. California, der eine Fortsetzung von Caulfields Leben schreiben wollte, teure Anwälte in Gang. Gegen Neugierige, die in seinem Müll wühlten, soll er manchmal gar zur Schrotflinte gegriffen haben. Dem Buddhismus stand er ebenso nahe wie Ron L. Hubbards Scientology. Seit 1965 kam keine Zeile mehr von ihm auf den Markt – Briefe allerdings schrieb er noch: Mit trockenem Witz, eleganter Syntax und klarem Rhythmus. Etwa an seinen Armeefreund Werner Kleeman, die melancholisch, fast sanft klingen: „Er war sehr bescheiden“, zitiert der Spiegel Kleeman. Und: „Er war emotional und warmherzig.“
1974 brach Salinger einmal sein Schweigen, er telefonierte mit einem Reporter und sagte: „Ich schreibe gerne. Ich liebe das Schreiben. Aber nur für mich und zu meinem eigenen Vergnügen.“ Eine ehemalige Geliebte etwa wusste von zwei fertigen Büchern zu berichten und davon, dass er täglich bis zu 100 Seiten zu Papier bringe. „Ich will alleingelassen werden“, murrte der Eremit 1980 in einem allerletzten, widerspenstigen Zeitungsinterview, „absolut.“ 2010 starb er eines natürlichen Todes als rätselumwobene Legende, laut New York Times berühmt dafür, nicht berühmt sein zu wollen. Nach Salingers Tod gab es Vermutungen, denen zufolge bis zu 15 unveröffentlichte Romane existieren – ein Geheimnis, das Salingers Erben bis heute nicht gelüftet haben. Lange hielt sich auch die Hypothese, er veröffentliche unter dem Pseudonym seines Kollegen Thomas Pynchon.
„so verdammt deprimiert und einsam“
„Ein üblicher Roman würde über einem solchen Stoff verhungern“, rezensierte die Süddeutsche Zeitung 1962 die damals neue Böll-Übersetzung des „Fängers“. „Nicht was er mitzuteilen hat, sondern wie er es mitteilt, das macht seine Geschichte und seinen Fall aus.“ Getrieben von Fantasie, Sehnsucht, unbestechlicher Beobachtungsgabe und von bisweilen gnadenlosem Frust, changierend zwischen Sarkasmus und Selbstmitleid, Selbsthass und Überheblichkeit berichtet ein Schulversager lakonisch, wie er an der Welt zu zerbrechen droht. „Mit ihm sprach endlich jemand aus, was wir dachten – nur besser“, so Philip Meinhold im Spiegel.
Salingers Anti-Held rebelliert gegen Zivilisation, Respektabilität und Langeweile, die Konventionen der Erwachsenen sowieso, gegen alles, was „phony“ (unecht) ist und Holdens Gerechtigkeitssinn widerspricht. Nachdem er bereits von drei Schulen verwiesen worden ist, bekundet er auch in Pencey, einem exklusiven Internat, sein Desinteresse durch mangelhafte Leistungen und soll mit Beginn der Weihnachtsferien ausgeschlossen werden. Er flieht jedoch und treibt sich, hinreichend mit Geld versehen, aus Furcht vor seinen Eltern zwei Tage und zwei Nächte lang in New York herum.
Trotz weltmännischer Attitüde und Schlagfertigkeit fühlt sich Holden in der nächtlichen Großstadt allerdings recht verlassen. Er besucht Tanzsäle und Bars, streitet sich mit Taxifahrern, betrinkt sich, entgeht eben noch dem Abenteuer mit einer Prostituierten, beobachtet die Aktivität eines ergrauten Transvestiten, wird von einem Liftführer ausgeraubt und gesteht sich ein, das die Erwachsenenwelt ihm eher als ein Alptraum erscheint: „Ich fühlte mich so verdammt deprimiert und einsam.“ Vor allem pädagogischen Domestizierungsbemühungen gilt Holdens Abneigung: „Man braucht nicht allzu sehr nachzudenken, wenn man sich mit einem Lehrer unterhält.“ Und: „Sogar die paar netten Lehrer waren Heuchler.“ Dass er auswandern will und ein neues Leben anfangen möchte, ist da folgerichtig.
Aber was sollte aus jemandem werden, der so konsequent und unbeugsam war? Wie kam er durchs Leben, welchen Beruf wählte er? Holden hatte selbst keinen Schimmer: „Wie soll man denn wissen, was man tun wird, bevor man es wirklich tut?“ Merkwürdig alterslos kommt die Geschichte daher, erzählt von der Suche nach einem Platz in der Welt, von einer „fast rührenden Rebellion“ (Marcel Reich-Ranicki). Zu bewundern ist Holden für seine Kompromisslosigkeit: in seinem Urteil, seinen Träumen, seinem Anspruch an sich und die Welt. Dabei sind die Grundthemen des Romans bis heute aktuell; und diese Aktualität lässt die Alterslosigkeit der Geschichte im Licht der immer gleichen Pubertät erstrahlen: Das mit der Liebe ist nicht leichter geworden, das mit der Schule auch nicht, und das mit der Scheinheiligkeit der Welt erst recht nicht.