„…ist das sofort, unverzüglich“
2. Januar 2019 von Thomas Hartung
Wenn sich je ein Politiker in die Weltgeschichte stammelte, gebührt ihm der Thron: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“ sagte Günter Schabowski am 9. November 1989 auf die Journalistenfrage, wann die neue Reiseverordnung der DDR in Kraft trete. „Morgen früh“, hätte er sagen sollen. Er selbst „ahnte in diesem Augenblick nicht“, schrieb der immer etwas schwammig und farblos wirkende Funktionär später, dass er „im Namen der SED-Führung der DDR gerade das endgültige Verfallsdatum aufdrückte“. Mit seiner Antwort löste er die überraschendste Völkerwanderung der Neuzeit aus – obwohl man sie seit Herbst 2015 vielleicht zur zweitüberraschendsten zurückstufen müsste.
Der am 4. Januar 1929 in Anklam geborene Sohn eines Klempners wuchs in der preußischen Provinz Pommern auf und brachte es in der Hitlerjugend bis zum Scharführer. Nach Abitur und Volontariat in Berlin arbeitete er ab 1947 als Redakteur der Gewerkschaftszeitung Tribüne und wurde 1953 deren stellvertretender Chefredakteur. Als Mitglied in FDGB, FDJ und SED und erfolgreicher Absolvent eines Fernstudiums als Diplomjournalist an der Universität Leipzig war sein politischer Aufstieg fast vorprogrammiert. Nach der Ausbildung an der Parteihochschule der KPdSU in Moskau arbeitete Schabowski beim SED-Zentralorgan Neues Deutschland (ND), von 1978 bis 1985 als Chefredakteur. Stationen als Mitglied des Zentralkomitees (ZK) der SED und Chef der SED-Bezirksleitung Ost-Berlin folgten.
Seit 1986 Sekretär des ZK, unterstand er direkt Generalsekretär Erich Honecker und war zeitweise als sein Nachfolger im Gespräch. Von 1981 bis 1990 war Schabowski zudem Abgeordneter der Volkskammer. Befragt, wie er auf die kommunistische Ideologie hereinfallen konnte, sagte Schabowski: „Wer sich einmal auf den geistigen Holzweg einer politischen Sekte begeben hat und mit seinesgleichen in Klassenschlachtordnung marschiert ist, kommt so schnell nicht wieder davon los.“ Prompt vertrat er diesen Holzweg mit schneidender Überzeugung und diskreditierte jene, die ihn nicht unbeirrt mitgehen wollten.
So kritisierte ihm gegenüber der Generaldirektor des Kombinats Schienenfahrzeugbau die Vorschrift, jeder Betrieb müsse einen bestimmten Prozentsatz an Konsumgütern produzieren, als unsinnig – sie hatte dazu geführt, dass selbst Schwermaschinenbetriebe Wäscheständer und Partygrills herstellten. Der Mann wurde kurz darauf strafversetzt. Als 1988 einige Schüler der Berliner Ossietzky-Oberschule sich auf Transparenten gegen Neonazis in der DDR und gegen die traditionellen Militärparaden der Nationalen Volksarmee sowie zu Gunsten der Solidarność aussprachen, befürwortete er den Ausschluss der Schüler. Und Christa Wolf berichtete im Naumburger Tageblatt: „Ich erinnere mich an einige der wenigen Auftritte Schabowskis im Schriftstellerverband. Vor dem hatte man Angst“, er sei „wirklich einer der Schlimmsten vor der Wende“ gewesen“.
„für einen Sozialismus, der stark macht“
Seine Front war die der Agitation. Letztlich gab er die Richtlinien für die Medien vor, die von willfährigen Adlaten in der Agitationskommission an die SED-Presse und vom Presseamt bei der Regierung an die Zeitungen der Blockparteien „durchgestellt“ wurden. Seine Überzeugung von der Rolle der Medien fußte stets auf der Lenin‘schen Prämisse von der Presse als kollektivem Agitator, Propagandist und Organisator: Die Zeitungen haben der Sache des Sozialismus zu dienen, basta. In einem Brief an Honecker regte er sich beispielsweise darüber auf, dass immer mehr Bürger den „Drecksender Sat 1“ empfangen wollten und sich deshalb größere Fernsehantennen wünschten.
Gleichwohl gehörte er zu dem kleinen Kreis von „Verschwörern“, die 1989 den langjährigen Staats- und Parteichef Honecker stürzen wollten – nicht als konterrevolutionäre Abrechnung mit dem System, sondern vielmehr zur Stabilisierung und Reformierung der DDR: Sie opferten Honecker, um sich selbst zu retten. 2009 nennt er Egon Krenz, den damaligen Karl-Marx-Städter SED-Bezirkschef Siegfried Lorenz und sich selbst als jene Politbüromitglieder, die „bei geheimen Treffen überein“ gekommen seien, weitere Meinungsführer zu gewinnen, um Honecker auf einer der nächsten Sitzungen zu stürzen. Am 17. Oktober 1989 war es dann so weit – kurioserweise stimmte Honecker selbst seiner Absetzung zu. Hauptziel war, Reiseerleichterungen durchzusetzen, die eine Generalentlastung für Partei und Regierung bringen sollten. Damit würde, so das Konzept, der Druck herausgenommen, um in Ruhe Veränderungen einleiten zu können. Es ging bekanntlich nicht auf.
So hatte sich Schabowski zwar innerhalb und außerhalb der Partei Feinde geschaffen, die den bisweilen cholerischen „Schah Bowski“ nun „ab ins Exil“ wünschten – aber die Kurve bekam er flinker als alle anderen. Als erstes Mitglied des Politbüros ging er auf die Straße und diskutierte mit empörten Demonstranten. Als erster aus der Parteispitze empfing er demonstrativ zwei Abgesandte des „Neuen Forum“, den Biologen Jens Reich und den Physiker Sebastian Pflugbeil – und verhalf so der Opposition zu einer gewissen Anerkennung. Und er ließ sich neben dem vom pensionierten Agentenführer zum SED-Vordenker gewendeten Markus Wolf am 4. November bei der Künstler-Demo auf dem Alexanderplatz als opportunistischer Anpasser ausbuhen: „Regen wir heute die Hände für unser Land, für einen Sozialismus, der stark macht, weil die Menschen ihn wollen!“, lautete der letzte Satz seiner kurzen, ausgepfiffenen Rede.
Zwei Tage später wurde die Position eines Sekretärs des ZK der SED für Informationswesen geschaffen – in etwa vergleichbar mit einem Regierungssprecher – und mit Schabowski besetzt, der wiederum drei Tage später Geschichte machte. Nicht ganz freiwillig. Riccardo Ehrmann, Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur Ansa mit 20-jähriger Erfahrung im DDR-Propaganda- und Nachrichtenverhinderungsbetrieb fragt 18.57 Uhr nach einer kurzen Zeit atemloser Stille nach, ab wann das neue Reisegesetz gelte – mit der epochalen Reaktion Schabowskis.
Er sei aber etwa eine Stunde vor der Pressekonferenz „von einem hohen SED-Funktionär, einem Mitglied des Zentralkomitees“ aus dem „Unterseeboot“, dem fensterlosen Büro des Chefs der amtlichen DDR-Nachrichtenagentur ADN angerufen und dringend gebeten worden, bei der Pressekonferenz nach dem Reisegesetz zu fragen, offenbarte Ehrmann 2009 dem MDR. Ob der Chef der DDR-Nachrichtenagentur ADN Günter Pötschke, seit 1986 Mitglied des Zentralkomitees, selbst dieser Tippgeber war, wollte Ehrmann mit Rücksicht auf den Informanten und dessen Familie nicht verraten. Pötschke kann darüber nicht mehr Auskunft geben, er ist 77-jährig im September 2006 gestorben.
„vor der Wirklichkeit versagt“
Nahezu live den Medien der ganzen Welt verkündet, führte der gestammelte Satz noch am selben Abend zur Maueröffnung, weil er tausende Berliner veranlasste, an die Grenzübergangsstellen zu kommen und unter Bezugnahme auf Schabowskis Äußerungen massiv deren Öffnung zu verlangen. Die Grenzer am Übergang Bornholmer Straße kamen dieser Forderung zuerst nach – eine Kettenreaktion an allen Grenzübergängen in und um Berlin kam in Gang. „Ich war eher überrascht davon, dass sich das alles so relativ vernünftig entwickelte. Das war ja noch alles verbunden mit der Vorstellung, die DDR bleibe erhalten, Kapitalismus und Sozialismus würden sich vertragen, es gibt eine Möglichkeit des Arrangements zwischen beiden Systemen“, kommentierte Schabowski später den Abend. Tonaufnahmen der Pressekonferenz gehören inzwischen zum Weltdokumentenerbe der UNESCO. Im Jahr 2015 erwarb das Bonner Haus der Geschichte den originalen Notizzettel der Pressekonferenz.
„Mit erstaunlichem Geschick“, wie Norbert F. Pötzl im SPIEGEL anerkannte, mutierte der gelernte Partei-Propagandist dann zum PR-Manager: „Er arrangierte Homestories mit den neuen Regenten, vermarktete die Abrechnung mit dem alten Regime und inszenierte publikumswirksam – ‚Krenz zieht aus Wandlitz aus‘ – den Verzicht der Nachfolger auf ihre Privilegien.“ Da hatte Schabowski allerdings noch die Illusion, ein DDR-Reformsozialismus könne überleben. Erst später merkte er, dass „das System, dessen politischer Klasse und Führung“ er angehörte, „vor dem Leben, vor der Wirklichkeit versagt“ hatte. Seinen Umdenkprozess leitete die erste Fernsehrede des neu gewählten Generalsekretärs Egon Krenz ein: „Das war noch die blecherne Diktion des SED-Zeitalters, allenfalls geeignet, die konservativen Genossen zu beruhigen.“
Als Gregor Gysi die Führung der SED/PDS übernahm, fiel er zugleich mit seinem Verbündeten Krenz aus allen Ämtern, verlor seinen Sitz in der Volkskammer und wurde aus der Partei ausgeschlossen. Die Schiedskommission vermerkte, dass Schabowski zwar versucht hätte, „eine Veränderung im Politbüro herbeizuführen“, sei aber an Inkonsequenz gescheitert: „Dieses Zaudern und Zögern hat mit zu jener Krise geführt, die unser Volk zwang, die Wende auf der Straße durchzusetzen.“ Später gab Schabowski an, diese Vorwürfe und den Ausschluss zunächst mit Enttäuschung und Wut über die Heuchelei, später allerdings als Beginn seiner geistigen Freiheit empfunden zu haben.
Von 1992 an wirkte der gelernte Journalist wieder in seinem alten Metier: als Mitgesellschafter eines Anzeigenblatts im südhessischen Rotenburg. Danach lebt er als Rentner in Berlin. Er schreibt eine Autobiografie, in der er kompromisslos mit seiner Vergangenheit und dem Kommunismus abrechnet. Damit und in zahlreichen Interviews zieht er einen Schlussstrich unter seine sozialistische Sozialisation und einen Trennstrich zu den einstigen Kampfgefährten – und gehört zu denen, die aufrichtig zu bereuen vorgeben, zumal während des 1996 begonnenen Prozesses wegen Totschlags auf Grund des Todes von DDR-Flüchtlingen: „Als einstiger Anhänger und Protagonist dieser Weltanschauung empfinde ich Schuld und Schmach bei dem Gedanken an die an der Mauer Getöteten“, betont der frühere ND-Chefredakteur. „Ich bitte die Angehörigen der Opfer um Verzeihung.“
Den Vorwurf des Totschlags weist der 68jährige zurück. „Wir haben keine Tötungen gefordert und gebilligt“, betont er. Er sei immer davon ausgegangen, dass die Schüsse gesetzlich geregelt gewesen seie. Bei Toten habe er geglaubt, die Grenzsoldaten hätten in Notwehr gehandelt. Einstigen Kampfgefährten gilt Schabowski als Verräter. So hat er sich unbequem zwischen alle Stühle gesetzt: Er wird, so sein Anwalt im Plädoyer, „von den Kommunisten als Schwein, vom Solidaritätskomitee als Ratte, von großen Teilen der Bevölkerung als Wendehals, von der Nebenklage als Waschlappen beschimpft“.
„Es gibt keine ideale Gesellschaft“
Obwohl Schabowski erst ins Politbüro aufgenommen wurde, als das Grenzregime längst beschlossen war, wird er zu drei Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt. Unmittelbar vor Weihnachten 1999 tritt er die Strafe in Hakenfelde an, sitzt ein unter Betrügern, Räubern und Vergewaltigern – und verlässt das Gefängnis ein Jahr später, nachdem er von Berlins Regierendem Bürgermeister Eberhard Diepgen begnadigt worden ist. In der sich anschließenden dreijährigen Bewährungszeit muss er sich wöchentlich bei der Polizei melden. Er lebte nach mehreren Infarkten und Schlaganfällen in einem Berliner Pflegeheim, starb dort am 1. November 2015 im Alter von 86 Jahren und wurde auf dem Waldfriedhof Dahlem beerdigt. Seine russische Frau hatte die Todesnachricht verbreitet.
„Mir war klar, dass wir uns in dem Augenblick, in dem die Bürger der DDR in die Bundesrepublik reisen konnten, mit der Bundesrepublik versöhnen würden“, sagte er kurz vor seinem Tod dem Tagesspiegel. Und ihm war klar, dass sich eine Gesellschaft von selbst entwickelt und dabei Fortschritte und Fehler macht: „Wenn man ihr Vorschriften machen wollte, wie sie zu existieren hat, würde das früher oder später zum Scheitern führen … Es gibt keine ideale Gesellschaft. Es gibt nur eine mit mehr oder weniger Einwänden. Die Konsequenz ist: Jeder Versuch, eine sozialistische Gesellschaft, eine Gesellschaft nach einer Rezeptur zu bilden, ist zum Scheitern verurteilt.“
Mit Blick auf die Linke, denen er den Abschied von sozialistischen Vorstellungen vorwirft, weil sie nur das abschöpfen möchte, was von den sozialistischen Träumen übrig geblieben ist, um daraus politischen Gewinn zu ziehen, erklärte er die DDR zum Experiment, das „ich bis zum Exzess ausgekostet“ habe. „Wir hatten die Zeit und die Möglichkeiten, dieses sozialistische Experiment einzugehen. Und nicht nur wir. Man kann sagen: Von der Oder bis nach Kamtschatka, dieses ungeheure Gebiet mit all seinen – auch materiellen – Möglichkeiten war der Ansatz für eine sozialistische Gesellschaft. Und sie ist von Kamtschatka bis an die Oder gescheitert. 80 Jahre hat der Kommunismus existiert und herausgekommen ist die Pleite, die wir erlebt haben.“