„Krebs, mein Geliebter“
5. Januar 2019 von Thomas Hartung
Rauchprodukte auf Grabstätten sind als Trauergaben verbreiteter als man denkt. Bei Jim Morrison und Bob Marley sammeln sich Joints, bei Altkanzler Helmut Schmidt Mentholzigaretten. An Heiner Müllers Grab auf dem Dorotheenstädtischen Kirchhof an der Berliner Chausseestraße sind es Zigarren, abgelegt in einer Schale innerhalb der steinernen Umrandung, eine Art Aschenbecher für die Ewigkeit. Wenn es regnet, sammelt sich toxische braune Brühe zwischen den Stumpen und sickert, überlaufend, dann hinunter auf seine morschen Knochen.
Das hätte ihm sicher gefallen, dem „Katastrophenliebhaber und hellseherischen Schwarzmaler“ (Peter von Becker), ja dem „letzten Apokalyptiker von Format“ (Matthias Matussek). „Das Massengrab geht mit der Zukunft schwanger“, ließ er Stalin in seinem letzten Stück „Germania 3 – Gespenster am toten Mann“ sagen, das lange als unspielbar galt. Es ist diese geradezu prophetische Gabe, die sich oft unvermutet in seinen Texten ausdrückt, die häufig fragmentarischen Szenenfolgen, Traktaten, Demonstrationen, ja Vexierspielen gleichen. „Schwierig, ideologisch und verdammt düster sind die meisten seiner Werke, und deshalb spielen viele Theater sie am liebsten gar nicht mehr“, befand Anke Dürr schon vor Jahren im SPIEGEL.
Dass der am 9. Januar 1929 im sächsischen Eppendorf als Beamtensohn geborene Junge überdurchschnittlich begabt war, wurde auf der Mittelschule klar, wo er infolge guter Noten eine Freistelle in der Oberschule bekam. Nach eigener Aussage war Müller ab 1940 in der Hitlerjugend und wurde kurz vor Kriegsende zum Reichsarbeitsdienst und zum Volkssturm eingezogen. 1946 trat er in die SPD ein, der sein Vater auch angehörte, wurde aber wegen fehlenden Engagements und nicht gezahlter Mitgliedsbeiträge bald wieder ausgeschlossen. Müllers Vater wurde nach der Zwangsvereinigung mit der KPD SED-Mitglied und Bürgermeister in Frankenberg/Sachsen, verließ jedoch 1951 aus Protest zusammen mit seiner Frau und dem zweiten Sohn, Heiner Müllers zwölf Jahre jüngerem Bruder Wolfgang, die DDR.
Müller arbeitete, nachdem er das Abitur nachgeholt hatte, als Hilfsbibliothekar in Frankenberg, nahm an einem Schriftstellerlehrgang bei Dresden teil und beginnt 1950 journalistisch als Literaturkritiker bei der Zeitschrift „Sonntag“, ab 1953 bei der Zeitschrift „Neue deutsche Literatur“ zu arbeiten. 1954 wurde er Mitglied des Deutschen Schriftstellerverbandes und heiratet ein Jahr später, nachdem er bereits in eine doppelte Ehe samt doppelter Scheidung mit derselben Frau gestolpert war, die schon zweimal verheiratete Autorin Inge Schwenkner. Biographen sprechen von einem prekären Leben.
„unzureichende Darstellung der Wirklichkeit“
Nach weiteren Stationen als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bspw. am Gorki-Theater Berlin arbeitet er ab 1958 als freischaffender Autor und erlebt im selben Jahr die Uraufführung der Stücke „Der Lohndrücker“ und „Die Korrektur“, die sich mit dem sozialistischen Aufbau befassen. Sie schildern einerseits den Konflikt zwischen Partei und Arbeiterschaft und andererseits den zwischen Sachzwängen der Produktion und privaten Interessen. Bekommt er dafür 1959 noch den Heinrich-Mann-Preis, wird er bereits zwei Jahre später aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und erst 1988 wieder aufgenommen.
Grund ist das Stück „Die Umsiedlerin“, das sich mit der Landwirtschaft zwischen Bodenreform und Kollektivierung befasst. Es wird nach der ersten Aufführung abgesetzt und Müller „unzureichende Darstellung der Wirklichkeit“ vorgeworfen. Jahre später schreibt er das Stück um, erst 1976 feiert es als „Die Bauern“ in der DDR wirklich Premiere. In dieser Zeit beginnt sich ein Grundzug seines Wirkens zu manifestieren: Staatsdichter und Dissident zugleich zu sein. Fremdheit und Selbstentfremdung, die überzeitliche Kraft des Scheiterns, dazu die Absurdität einer Existenz ohne Utopie und höhere Heilsgewissheit, verursacht durch die Unfähigkeit, aus der Geschichte Lehren zu ziehen – das waren Müllers Themen, die er aus konsequent linker, fast vulgärmarxistischer Perspektive anfasste.
Seine These war, dass die Kunst, vor allem die des Theaters, ohne Gewalt und Tragik oder zumindest jene blutige Komik, die er „Humor des Fleischers“ nannte, gar nicht zur Blüte kommen könne. „Müller war ganz vernarrt in eine dialektische Bildsprache, die im Kessel von Stalingrad bereits die Erstarrung des real existierenden Sozialismus erkennt, den Pyrrhussieg des Bolschewismus. Seine Besessenheit galt einer mythengetränkten Logik, die noch den Hitler-Stalin-Pakt mit Kriemhilds Rache in Verbindung bringt: ‚Die Vergangenheit aufheben‘ nannte er das in schwerdeutsch-Hegelscher Tradition“, dekretiert Reinhard Mohr im SPIEGEL.
Es folgten Arbeiten für Rundfunk, DEFA und Fernsehen, meist unter dem Pseudonym „Max Messer“ – die Alliteration verweist auf operieren, sezieren, Skalpell, Rohheit, Gewalt. 1965 wurde Müller auf dem 11. SED-Plenum erneut kritisiert, dem „Kahlschlagsplenum“, in dessen Folge zahlreiche Filme, Theaterstücke, Bücher und Musikgruppen verboten wurden. Die Partei ließ auch die Aufführung von Müllers „Der Bau“ absetzen, das sich mit dem schwierigen Aufbau des Sozialismus befasst. In dieser Zeit kommt sein Bruder Wolfgang hinüber, um im Auftrag der Eltern herauszufinden, wie es seinem großen Bruder geht. Es kommt zu einer Dreiecksbeziehung mit Inge.
„Und dann habe ich noch lange auf einem U-Bahnsteig mit Adolf Dresen über die Zukunft oder Nicht-Zukunft des Marxismus diskutiert. Als ich nach Hause kam, war sie tot“, schildert Heiner in seinen Memoiren „Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen“ den Selbstmord der kriegstraumatisierten Frau am 1. Juni 1966. Bruder Wolfgang wird später Katja Lange heiraten, die ungehorsame Tochter von Inge Lange, Mitglied des Politbüros der SED, die sich dann Lange-Müller nennt, später in den Westen geht und Heiners Memoiren schreibt. Man flüstert erneut von einer Dreiecksbeziehung.
1970 heiratet er die bulgarische Regisseurin Ginka Tscholakowa und wird festangestellter Dramaturg am Berliner Ensemble – die verspätete Erfüllung eines Lebenstraums. Sein Drama „Mauser“, das sich an Bertolt Brechts „Maßnahme“ anlehnt und nach der Rechtfertigung von Grausamkeit als politisches Mittel für eine Revolution fragt, wird für DDR-Aufführungen verboten, 1975 in den USA ur- und erst 1980 in Köln auf Deutsch erstaufgeführt. Die Aufführung weiterer eigener Stücke oder Übersetzungen, bspw. Sophokles‘ „Ödipus Tyrann“, verdankte er vor allen Dingen Benno Besson, dem Leiter der Berliner Volksbühne, und Ruth Berghaus, der Intendantin des Berliner Ensembles.
1976 wechselt er als Dramaturg an die Volksbühne, gehört zu den Mitunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und widmet sich nun verstärkt mythischen Stoffen aus der Antike, um der SED-Kritik zu entgehen. Zudem werden viele seiner Stücke im Ausland uraufgeführt, so „Germania Tod in Berlin“ 1978 an den Münchner Kammerspielen. Darin wird Geschichte als Schlachthaus dargestellt, Frühphasen der DDR werden mit Rückgriffen auf die germanisch-preußische Historie verbunden, um die Kontinuität zerstörerischer Kräfte zu verdeutlichen. „Die Hamletmaschine“ wird 1979 in Paris ur- und dann in Essen erstaufgeführt: Das Stück stellt eine Absage an jedes vernunftorientierte Geschichtsmodell dar. In „Der Auftrag“, 1982 in Bochum inszeniert, richtet sich Müllers revolutionäre Hoffnung auf die ausgebeuteten Völker der Dritten Welt.
„an Blaubarts verbotene Tür geklopft“
Seit den 80er Jahren kann sich Müller ungehindert in beiden deutschen Staaten bewegen und profiliert sich auch zunehmend als Regisseur – was verstärkte künstlerische und nun auch politische Anerkennung nach sich zieht. Er wird Mitglied der Akademie der Künste der DDR und West-Berlins, erhält den Georg-Büchner-Preis und den Nationalpreis I. Klasse für Kunst und Kultur – diesen von Erich Honecker persönlich. Die späte Rehabilitierung sah Müller selbst als Zeichen des nahenden Untergangs des Staates, in dem zu leben ihm für sein Schreiben Bedingung war: „Die DDR ist mir wichtig, weil alle Trennlinien der Welt durch dieses Land gehen. Das ist der wirkliche Zustand der Welt, und der wird ganz konkret in der Berliner Mauer.“ Eine Kompilation mit Stücken, die erstmals auch diejenigen Dramen enthielt, die Müllers internationalen Ruhm begründet hatten, erschien in der DDR erst 1988. Im Oktober 1989 ist er Mitinitiator der Initiative für unabhängige Gewerkschaften.
Unvergessen seine kurze Rede am 4. November 1989 auf dem Alex – der Dramatiker hatte einen seiner düsteren Orakel-Auftritte, als er, leicht angetrunken, nach vielen kämpferischen Optimisten an der Reihe war und den Hunderttausenden Sätze zuwarf wie: „Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken. Die Daumenschrauben sollen angezogen werden. Die Preise werden steigen und die Löhne kaum.“ Später wird Müller über diesen Tag sagen: „Ich hatte das ungute Gefühl, dass da ein Theater inszeniert wird, das von der Wirklichkeit schon überholt ist, das Theater der Befreiung von einem Staat, der nicht mehr existiert“.
Er war nicht besonders überrascht, dass er ausgepfiffen wurde: „Als mir am Fuß der improvisierten Tribüne eine Welle von Hass entgegenschlug, wusste ich, dass ich an Blaubarts verbotene Tür geklopft hatte, die Tür zu dem Zimmer, in dem er seine Opfer aufbewahrt“, kommentierte er die wütende Reaktion auf seinen Beitrag zur friedlichen Revolution – und beklagt weiter die Versteinerung der Verhältnisse, an der auch der Epochenwechsel von 1990 nichts geändert habe.
1980 von Tscholakowa geschieden, lernt er auf der Frankfurter Buchmesse 1990 die Fotografin Brigitte Maria Mayer kennen. Zwei Monate später zieht sie zu ihm in seine Ost-Berliner Plattenbauwohnung. Fünf Jahre „Liebe ohne Bedingung“ (Mayer) bleiben den beiden, genug, um 36 Jahren Altersunterschied, den deutschen Einigungswirren und Müllers Todkrankheit Speiseröhrenkrebs zum Trotz zu heiraten, durch die Welt zu reisen und ein Kind zu bekommen – sein viertes. Wie getrieben von dem Drang, das Gemeinsame festzuhalten, dokumentiert das Paar von Anfang an auf Polaroidfotografien Liebe, Sex, Familienleben und das Sterben des krebsgezeichneten Mannes: publiziert in Mayers Bildband „Der Tod ist ein Irrtum“.
In diesen fünf Jahren veranstaltet Frankfurt das 6. Festival „Experimenta“ zu Ehren Heiner Müllers mit zahlreichen Gast-Produktionen seiner Stücke aus dem In- und Ausland, wird er zum Präsidenten der Akademie der Künste gewählt, übernimmt er zunächst in einem Fünferteam und später allein die Leitung des Berliner Ensembles, bekommt er den Europäischen Theaterpreis und feiert er in Bayreuth seine Premiere als Opernregisseur mit „Tristan und Isolde“, die in der Fachwelt als „genial“ gerühmt wird. Seine letzte Inszenierung, Brechts „Arturo Ui“, läuft bis heute im Berliner Theater am Schiffbauerdamm und kommt inzwischen auf über 400 Vorstellungen.
Allerdings muss Müller auch mit der Nachricht leben, dass ihn das Ministerium für Staatssicherheit als „Inoffiziellen Mitarbeiter“ geführt hat. Er gibt regelmäßigen Kontakt zu, eine tatsächliche Zusammenarbeit zum Schaden Dritter bestätigt sich aber nicht. Am 30. Dezember 1995 stirbt er in Berlin: „Krebs, mein Geliebter“ hatte er schon 1982 in „Quartett“ getextet. Als „Totenfeier“ veranstaltete das Berliner Ensemble 1996 einen achttägigen „Müller-Marathon“.
„der letzte große Konservative“
„Er fehlt heute, wo die Linke nur noch vom Kündigungsschutz redet und die Rechte von der Pendlerpauschale. Müller dachte planetarisch“ klagt Matussek im SPIEGEL.
„Für ihn war der Kommunismus ja kein utopisches Projekt, sondern lediglich die Verlangsamung auf unserm Weg in die Katastrophe. Nun sah Müller den Wegfall aller kommunistischen Bremsen, er sah die Zunahme des Tempos, die Überhitzung, das Verglühen. Man könnte sagen, dass der Linke Heiner Müller der letzte große Konservative war. Er begriff den Verlust der alten Welt als globales Verhängnis.“
Die Tendenz des Kapitalismus sei die Vereinheitlichung, die sich auch auf der Oberfläche der Technisierung abzeichnet und zur Nivellierung führt, erklärte Müller: „Es ist der allgemeine Grundirrtum, dass der Kapitalismus den Individualismus fördert. Das Gegenteil ist der Fall. Der Kommunismus vereinzelt, der Kapitalismus uniformiert.“ Seine Prognose heraufziehender Verteilungskämpfe wurde im Taumel der Wende ebenso oft belächelt wie zurückgewiesen. Mit dem Ausbrechen barbarisch geführter Terrorkriege und den daraus resultierenden Flüchtlingsströmen ist sie allerdings Realität geworden. „Es reicht völlig, wenn sich Millionen Verelendeter in Bewegung setzen“, schrieb er schon 1991. „Man kann nicht sofort wieder eine Mauer bauen. Man weiß nur, und erfährt jede Woche neu: Man braucht sie“, wusste er 1994.
Die eigentümliche Dialektik seines Denkens begreift man erst mit Blick auf seine lebensgeschichtliche Situation mit der Allgegenwärtigkeit des Krebses: im Körper, im System, in der Zeit. Prompt gilt sein ganzer Hass der Allgegenwärtigkeit des Kapitals und dessen Verwertungsgesetzen: „Der versäumte Angriff auf die Intershops mündete in den Kotau vor der Ware … das unterdrückte Gewaltpotential bricht sich Bahn im Angriff auf die Schwächeren, Asylanten und Ausländer; keinem Immobilienhai, gleich welcher Nation, wird ein Haar gekrümmt.“ Folglich ruft er seinem Publikum schon in „Der Lohndrücker“ zu: „Schlagt euch nicht die Schädel ein, zerbrecht euch lieber den Kopf!“
Frappierend sind seine nach heutigem Verständnis „rechtsextremen“ Perspektiven, mit denen Müller auf die Welt blickt; bspw. 1992 auf die Jugend: „Nach der Zerstörung einer Infrastruktur, die wesentlich auf ihre Beruhigung ausgerichtet war, übergangslos in die Freiheit des Marktes entlassen, der sie mehrheitlich ausspuckt, weil er nur an Gegenwart und nicht an Zukunft interessiert sein kann, ist sie jetzt auf die Wildbahn verwiesen.“ Die „Randalierer“ von Rostock und anderen Orten sind für ihn prompt „die Sturmabteilung der Demokratie, die radikalen Verteidiger der Festung Europa, gerade weil ihnen auf kurze oder lange Sicht nur der Dienstboteneingang offensteht.“
Starke Worte. Sicherheitshalber hatte Müller auch noch an den vierten Weltkrieg geglaubt. Eine friedliche Welt vermochte er sich jenseits der – gescheiterten – Utopien kaum vorzustellen. Und als nach der Wende manche vom Ende aller Konflikte und der Geschichte fabulierten, konnte Müller nur den schwarzbebrillten Schädel schütteln. Auf der Tagesordnung stünde jetzt
„der Krieg um Schwimmwesten und Plätze in den Rettungsbooten, von denen niemand weiß, wo sie noch landen können, außer an kannibalischen Küsten. Mit der Frage, wie man diese Lage seinem Kind erklärt, ist jeder allein.“