„Er zeigt Menschen wie Bäume und Bäume wie Menschen“
18. Januar 2019 von Thomas Hartung
Wenn man einen DDR-Autor „Volksschriftsteller“ nennen kann, dann Erwin Strittmatter: urbäurisch, knorrig, humorig, mit Schiebermütze und Vollbart, inmitten seiner Araber im brandenburgischen Schulzenhof. Eine oft bemühte Anekdote geht so: Vor einer Lesung in Leipzig hatten junge Leute erkundet, dass jemand unweit auf dem Lande einen Hengst besaß, den er vom Pferdehof des Schriftstellers gekauft hatte. Während der Signierstunde rief ein Begleiter Strittmatter heraus: Ein Besucher warte auf ihn. Es war der Hengst. Der Dichter herzte ihn, meinte aber, das Tier habe ihn nicht erkannt. Die Presse, die anderer Ansicht war, komplimentierte das Pferd hinein. Es kam dieser Bitte auch nach. Weitere Pferdebesuche in DDR-Buchhandlungen sind nicht überliefert.
Doch der deutsche Autor mit sorbischen Wurzeln hatte auch andere, dunkle Seiten, die erst nach seinem Tod am 31. Januar 1994 vollständig offen gelegt wurden. So wurde 1996 bekannt, dass er einerseits von 1958 bis 1964 als Geheimer Informator „Dollgow“ der Staatssicherheit arbeitete, später wurden daraus die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM). Noch in den 1970er Jahren befürwortete er laut Stasi-Akte des Schriftstellers Reiner Kunze („Deckname Lyrik“) dessen Ausweisung aus der DDR. Andererseits verschwieg er, dass er 1941 als Freiwilliger zur Schutzpolizei ging, die später der SS angegliedert wurde. 1942 musste er auf dem Balkan als Oberwachtmeister des „Gebirgsjäger-Regiment 18“ im Rahmen der „Operation Enzian“ mindestens Kenntnis vom Massaker in Bistrica pri Kranju gehabt haben – wenn er nicht gar daran beteiligt war.
„Endlich einer aus dem Osten!“, frohlockte Oliver Jungen am 09.06.2008 in der FAZ, als die Recherche öffentlich wurde, und hielt Strittmatters literarisches Schicksal längst für besiegelt. Aus dem Nachlass wurden Briefe bekannt, die ihm im Mai 1971 eine frühere Geliebte schickte – einst zur Aufbewahrung überlassen und längst „verloren und vernichtet“ geglaubt. Der Schriftsteller hielt in seinem Tagebuch fest, es handle sich um „abgestoßene Seelenhäute, die man halb neugierig, halb ängstlich betrachtet“. Wie aber die Wiederentdeckung auf ihn gewirkt, ob er sich überhaupt in den Fund vertieft hat, ist nicht zu erfahren. So schrieb Strittmatter Anfang Januar 1942 seinen Eltern aus der Oberkrain in Slowenien „Dann nehmen wir es (das Dorf) endlich und brannten alles nieder“. Und weiter: „Nun holen wir zum Hauptschlag aus. Die Banden sind immer noch nicht ganz aufgerieben.“ Was Strittmatter dabei genau getan hat, ist bis heute nicht bekannt.
„aus Lust und innerlichem Zwang“
Seitdem knirscht es im literarischen Erinnerungsgebälk. Der 1994 vom Potsdamer Landwirtschaftsministerium gestiftete „Erwin-Strittmatter-Preis“ wird seit 2008 nur noch als „Brandenburgischer Literaturpreis Umwelt“ verliehen. Und im Januar 2012 beschloss die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Spremberg, von einer offiziellen Würdigung aus Anlass des 100. Geburtstages ihres Ehrenbürgers abzusehen. Rechnet man nun noch hinzu, dass ihm einige seiner acht Söhne, die er mit drei Frauen hatte, sowie eine Enkelin vorwarfen, er sei ein hartherziger, prügelnder Egomane und Familientyrann gewesen, der zwar die Geburtstage seiner Pferde, nicht aber die seiner Kinder kennt, wird deutlich, dass der „Nationalautor einer halben Nation“ (SPIEGEL) gerade eine Persona non grata wird.
Der am 14. August 1912 geborene Bäckersohn verbringt seine Kindheit in Bohsdorf nahe Spremberg (Niederlausitz), wo seine Eltern eine Bäckerei mit Kolonialwarenhandlung betrieben – Laden und Dorf wurden später in seiner Romantrilogie „Der Laden“ unsterblich. Strittmatter verlässt das Realgymnasium ohne Abschluss, lernt Bäcker und ist auch als Kellner, Hilfsarbeiter und Tierpfleger tätig. Er schloss sich noch vor 1933 der SPD an, heiratet 1937 erstmals und arbeitet in der Thüringischen Zellwolle-AG in Rudolstadt-Schwarza. 1939 meldet er sich als Alternative zum Kriegsdienst bei besagter Schutzpolizei. Im Sommer 1944 wurde Strittmatter, der auch als einer der Schreiber seines Bataillons fungierte, zur Film- und Bildstelle des Hauptamtes der Ordnungspolizei nach Berlin versetzt.
Nach Kriegsende arbeitete Strittmatter zuerst wieder als Bäcker, später als Lokalredakteur der Märkischen Volksstimme in Senftenberg, heiratet erneut, wird 1947 Amtsvorsteher mehrerer Gemeinden in der Niederlausitz sowie SED-Mitglied. In seiner Freizeit übt er sich als Schriftsteller, der „aus Lust und innerlichem Zwang“ niederschrieb, was er „erlebt, gesehen und gefühlt hatte“. 1950 erschien sein Erstlingswerk „Ochsenkutscher“, ein Roman über einen heranwachsenden Dorfjungen, der sich mit dem Zustand seiner Welt nicht abfinden will. Bis 1953 ist er am Berliner Ensemble Assistent bei Bertolt Brecht, der sogar sein Stück „Katzgraben“ aufführt. Darin findet sich das damals bekannte „LPG-Lied“: „Wenn Melk-Marie in kühler Früh‘ / Huscht zu den Küh‘n und Ochsen / Dann öffnen wir auf der Station / Geschwind die Traktorboxen.“ Eine „Sünde wider die Kunst“ sagt er später.
Seit 1954 lebte er in Schulzenhof im Ruppiner Land als Schriftsteller und Pferdezüchter, seit 1956 gemeinsam mit seiner dritten Ehefrau, der 18 Jahre jüngeren Dichterin Eva Strittmatter, die auch seine Lektorin wird. Sie fand von Anfang an den richtigen Ton: „Deine Arbeit wird immer der Mittelpunkt unserer Tage und Quelle für unsere Liebe sein“. Wie ihr Mann Auflagenmillionär, räumt sie nach Erwins Tod massive Eheprobleme ein und stirbt 2011 tablettensüchtig. Beide zogen vier Kinder auf, davon drei gemeinsame Söhne. Die Kinderbücher „Tinko“ und „Pony Pedro“ entstehen.
Der erstgeborene Sohn, der homosexuelle Autor und Schauspieler Erwin Berner (* 1953) ist es dann, der in seinen „Erinnerungen an Schulzenhof“ (2016) die Landidylle als „Albtraum in schöner Landschaft“ dekonstruiert, um seine in Suizidversuchen gipfelnden Traumata aufzuarbeiten. Er und seine Brüder durften erst als Halbwüchsige zu den Eltern ziehen. Vorher hatten sie – gegen Bezahlung – bei der Großmutter in Neuruppin wohnen müssen, weil der Vater lieber in Ruhe arbeiten wollte. Die bedrückende Atmosphäre auf dem Schulzenhof umschreibt er mit den Verben schweigen (über alles Persönliche), drohen (mit Schlägen und Kontaktabbruch) und lügen (über Familie und Geld): Das war „ein System, das der Herrschsucht Raum gab“. Jähe Wutausbrüche, Züchtigungen, die Erwin selbst in seinen Tagebüchern thematisiert, und Demütigungen bestimmen den Alltag.
Dabei galt der Schulzenhof viele Jahrzehnte als vielfach thematisiertes Öko-Refugium des gefeierten Paares. Generationen von Journalisten pilgerten auf das entlegene Vorwerk und schrieben salbungsvolle Reportagen über das glückliche Landleben: „Der Schulzenhof schien alles auf sich zu vereinen: DDR-Identität und Geselligkeit, Poesie und Erfolg, Weisheit und SED-Politik, Kreativität und Liebe, Kultur und Natur, Familie und eine einträgliche Ponyzucht“, meint Karim Saab in der MAZ.
Enkelin Judka Strittmatter stieß parallel in dasselbe Horn. Sie beschrieb Strittmatter in der Berliner Zeitung als fremden, herzlosen Opa und rechnete mit ihm in ihrem Roman „Die Schwestern“ ab: „Wie musste es ihm gutgegangen sein, dem Onkel Kurt, so geliebt zu werden. Er musste sich groß und einzigartig gefühlt haben. Und warum hatte ihn das nicht abgehalten, ein schlechter Vater zu sein?“ Im Roman ist der Onkel kein Schriftsteller, sondern Schauspieler – noch eine Rache, wurde Strittmatter doch oft mit dem Schauspieler Erwin Geschonnek verwechselt, was den durchaus eitlen Autor nicht amüsierte. Knut Strittmatter, ein Sohn aus erster Ehe, erklärte ebenfalls, dass sein Vater auch nach Jahren „keine Toleranz für Schwiegertochter und Enkelkinder aufbringen konnte“.
Nach einem Intermezzo als 1. Sekretär des Deutschen Schriftstellerverbandes erscheint 1963 „Ole Bienkopp“, eins der meistgelesenen Bücher der DDR, das auch Schulstoff wurde. Anfangs trug das Werk dem Verfasser scharfe Parteikritik ein, da Strittmatters Held auf eigene Faust und gegen den Willen der Funktionäre eine „Neue Bauerngemeinschaft“ gründet und schließlich am Starrsinn der Parteibürokratie zerbricht. Es wurde 1964 mit dem Nationalpreis ausgezeichnet – vier weitere Nationalpreise, mehrere Vaterländische Verdienstorden, Kunstpreise und andere Ehrungen folgen. Daran schließt sich das sogenannte „novellistische Jahrzehnt“ an: kleine naturverbundene Prosastücke wie in „Schulzenhofer Kramkalender“, „Ein Dienstag im September“ und „3/4 hundert Kleingeschichten“.
„ich gehe umher wie ein Mörder“
Später wird seine Kurzprosa vor allem aus Reflexionen („Selbstermunterungen“, „Wie ich meinen Großvater kennenlernte“) und Tiergeschichten („Ponyweihnacht“, „Flikka“) bestehen. Sein umfangreichstes Werk neben dem „Laden“ ist die ebenfalls autobiographisch geprägte Trilogie „Der Wundertäter“, die den dornenreichen Weg des Stanislaus Büdner aus Waldwiesen vom poetisierenden Bäckergesellen zum kritischen Schriftsteller nachzeichnet und an der er von den 50er Jahren bis ins Frühjahr 1978 schreibt. „Der Roman ist abgegeben, aber ich gehe umher wie ein Mörder, der bangt, dass man seine Tat bald entdecken wird“, notiert Strittmatter im April über den dritten Band.
Zwei Jahre lang wird er mit Vorladungen, „stilistischen“ Veränderungswünschen und Versprechungen, mit lauten Lobsprüchen und leisen Sabotagemaßnahmen hingehalten: Strittmatter hatte die Vergewaltigung einer jungen Ostdeutschen durch einen Rotarmisten geschildert und damit gegen ein DDR-Tabu verstoßen. Als das Buch schließlich gedruckt wird, kauft die Nationale Volksarmee fast die gesamte Auflage, einige 10 000 Exemplare, vom Markt weg. Nur ein kleiner Teil wird an die „Volksbuchhandlungen“ mit der strikten Anweisung ausgeliefert, das skandalöse Werk lediglich unter dem Ladentisch und an ausgewählte Parteikader abzugeben.
Danach begann er sein Alterswerk, das 1992 zu beenden er sich mit dem Erlebnis der Wende quälen musste: die drei Bände des „Laden“. Die Trilogie wurde fast 800.000-mal verkauft, mit Martin Benrath 1998 als Dreiteiler verfilmt und sowohl mit dem Deutschen Fernsehpreis als auch dem Adolf-Grimme-Preis gewürdigt. Strittmatter verwickelt darin in Lausitzer Dialekten und sorbischen Versatzstücken Menschen, Natur und Gegenstände zu unentwirrbaren Knäueln. Alles ist in Bewegung, beseelt von eigenartigen Energien. „In der Backstube vergart das Brot, der Teig verlässt die hölzernen Brotmulden und läuft, sich die Welt anzusehen“, heißt es darin, oder: „Im Fahrrad, zeigt sich, sammelt sich während des langen Stillstehens Übermut an.“ Seine Lesereise mit dem 3. Band wird ein Sensationserfolg. Wochenlang füllt der Achtzigjährige zwischen Rostock und Chemnitz die Säle, liest der rüstige Greis verhalten und ohne rhetorischen Aufwand.
Schriftstellerkollege Erich Loest rezensierte: „Viel ist von schönen Frauenzähnen die Rede und von Dörflerbrunst, das Land der Güter wird verteilt, ,Espede‘ und ,Kapede‘ vereinigen sich; aber das kommt wie von ferne her, wird hingenommen wie das Geschehen der ,adolfinischen‘ Zeiten, wird nicht moralisch gewertet, wird aufgesogen vom Dorf.“ Gewiss war Strittmatter nie Dissident, aber ebenso wenig diente er dem Regime als willfähriger literarischer Propagandist.
Wenn er lange an die Verheißungen eines preußischen Sozialismus glaubte, so irrte er, wie nicht wenige seiner Landsleute, in gutem Glauben. Strittmatters politische Desillusionierung bezeugen Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1973 bis 1980, die er unter dem Titel „Die Lage in den Lüften“ veröffentlichte. Selbstkritisch beklagt der Autor darin die zahlreichen „Denkschranken“, die er in den langen Jahren seiner Parteizugehörigkeit verinnerlicht habe. Schon 1978 trat er als Vizepräsident des Schriftstellerverbandes zurück und bekleidete danach keine Ämter mehr.
Sein Sujet wurde die Natur, seine Themen Ackerbau und Viehzucht, Land und Landleute, Partei und Boden, seine Personage Kinder und Käuze, Sonderlinge und Einzelgänger – aus der Erkundung der Nischen zog er Kraft und Popularität. „Er zeigt Menschen wie Bäume und Bäume wie Menschen“, hat ihn sein Freund Lew Kopelew gelobt. Dabei war er kein Sprachartist, „eher ein guter Handwerker. Der Bäckerssohn knetete die Sprache, bis sie sich fügte – dem Gegenstand und dem Leser. Dabei kamen dann immer wieder Spracherneuerungen zum Vorschein, keine ‚Erfindungen‘, sondern Worte, die sich ergaben, weil sie fehlten“, meint Martin Ahrends in der ZEIT. Marcel Reich-Ranicki charakterisiert den „volkstümlich-urwüchsigen“ Heimatdichter in der FAZ so:
„Handfest ist sein Humor, simpel und hausbacken. Er verschmäht weder geschmacklose noch vulgäre Scherze … aber zuweilen – am häufigsten im ‚Wundertäter‘ – wartet er auch mit treffenden satirischen Akzenten auf.“
„eine Mauer aus Ignoranz und Herablassung“
In seiner Biographie kristallisiert ein Stück deutscher Geschichte, und in seinem Werk haben die Hoffnungen und Enttäuschungen, die kleinen Siege und die großen Niederlagen eines ganzen „halben“ Volkes unverwechselbaren Ausdruck gefunden. Die Erfahrung, in der Bundesrepublik jahrzehntelang fast vollständig übersehen worden zu sein und nach der Wende gegen „eine Mauer aus Ignoranz und Herablassung“ anzulesen, hatte Spuren bei ihm hinterlassen: „Ich bin in einige Dutzend Sprachen übersetzt, nur ins Westdeutsche nicht.“ 38 Sprachen waren es, um genau zu sein. Als er starb und sein Tod den Tagesthemen keinen Nachruf wert war, musste sich Ulrich Wickert nach massiven Protesten entschuldigen. Begraben ist Strittmatter, natürlich, in Schulzenhof.
Was bleibt: Das Bild eines Mannes, der nach dem Krieg seine Soldatenzeit so darstellte, dass sie ins Bild des antifaschistischen DDR-Bürgers passte. Der versuchte, als Genosse bei den neuen Machthabern nicht anzuecken. Der vor den Frauen floh, wenn seine Leidenschaft Folgen hatte. Es ist das Bild eines Mannes, der seine Ruhe haben wollte. Ruhe, um zu schreiben. Ruhe, um sich seinen Tieren zu widmen. Ruhe vor dem Lärm der Stadt und den eigenen Kindern. Er wollte im Grunde auch von den Funktionären der SED in Ruhe gelassen werden. Und von den Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg.
Im „Laden“ schreibt er: „Der Stein unter der Birke hat sich in den Probe-Sommertagen durchwärmt. Er arbeitet und nutzt die Hitze, Regen und Kälte, um sich zu sprengen und Erde zu werden. Wenn er redselig wäre wie wir, würde er sagen: Ich mühe mich um mein Fortkommen“. Strittmatter hat sich gemüht. Aber er kommt nicht mehr fort. Er kommt weg. Das ist schade. Sehr schade.