„Heute erwarte ich keine Jungfrauen mehr im Himmel“
14. Februar 2019 von Thomas Hartung
Eine „Fatwa“ ist eigentlich nur eine Rechtsauskunft, mit der eine muslimische Autorität auf Anfrage ein religiöses oder rechtliches Problem unter Angehörigen des Islam klärt. Aus westlicher Perspektive sind viele nicht zu beanstanden, ja können durchaus progressiv gewertet werden: die Fatwa gegen die Unvereinbarkeit jeglicher Terroranschläge mit dem Islam vom Londoner Rat der Sunniten etwa oder die Fatwa gegen die Genitalverstümmelung an Frauen auf Initiative des Obermuftis von Mauretanien, beide 2005. Die Tabak-Fatwa vom Großmufti von Ägypten zur Unterstützung der nationalen Antiraucherkampagne von 2000 mag man vielleicht auch befürworten.
Anders sieht das aus mit der Fatwa des iranischen Ajatollah Chomeini vom Valentinstag 1989, dem 14. Februar, gegen den indobritischen Autor Salman Rushdie, die einem Todesurteil gleichkam. Darin verlangte der Schiitenführer, dass Rushdies „Blut vergossen werden“ müsse wegen angeblicher Gotteslästerung in dessen Roman „Satanische Verse“: „Ich ersuche alle tapferen Muslime, ihn, gleich wo sie ihn finden, schnell zu töten, damit nie wieder jemand wagt, die Heiligen des Islam zu beleidigen. Jeder, der bei dem Versuch, Rushdie umzubringen, selbst ums Leben kommt, ist, so Gott will, ein Märtyrer.“ Obwohl Chomeini schon im Juni 1989 starb, wird das Todesurteil, da nur er es hätte lösen können, aufrechterhalten – bis heute. Die halbstaatliche iranische Chordat-Stiftung setzte ein Kopfgeld von zunächst einer Million US-Dollar aus, das sie 1991 verdoppelte und 2012 noch einmal auf 3,3 Millionen aufstockte. 2016 haben vierzig staatliche iranische Medien das Kopfgeld auf insgesamt mittlerweile fast 4 Millionen Dollar erhöht.
Der Tagesspiegel zitiert den stellvertretenden iranischen Kulturminister Sayyed Abbas Salehi mit dem Satz „Chomeinis Fatwa ist ein religiöses Dekret, das niemals seine Kraft verlieren oder verblassen wird“. Auch Chomeinis Nachfolger Ajatollah Chāmene’ī sowie die Iranische Revolutionsgarde halten daran fest – obwohl religiöse Autoritäten in Saudi-Arabien und Ägypten die Fatwa als illegal und dem Islam widersprechend verwarfen, da kein Mensch ohne Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt werden könne. Bereits im März 1989 hatten alle Mitgliedsstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz außer dem Iran der Fatwa widersprochen. Der Autor wurde dennoch zum lebenden Beweis für die Intoleranz des Islam.
„Die Welt war schon immer voller Geisteskranker“
Der damals 42jährige Rushdie, der zuvor mit „Mitternachtskinder“ und „Scham und Schande“ bereits zwei Bestseller vorgelegt hatte, soll von seinem Todesurteil durch eine BBC-Reporterin am Telefon erfahren haben. Das Buch machte ihn vorübergehend zum bekanntesten, umstrittensten und bestbewachten Autor der Welt. Er lebte lange in erzwungener Isolation an ständig wechselnden Wohnorten unter Polizeischutz, kommt erst seit rund fünf Jahren wieder ohne Leibwächter aus und wird auch nicht mehr rund um die Uhr bewacht.
Andere überlebten nicht. Sein italienischer Übersetzer Ettore Capriolo wurde am 3. Juli 1991 in seiner Wohnung in Mailand durch Stiche verletzt, sein japanischer Kollege Hitoshi Igarashi nur eine Woche später im Gebäude seines Büros an der Universität Tsukuba erstochen. Während eines alevitischen Kulturfestivals im türkischen Sivas versammelten sich 20.000 Sunniten vor dem Festivalhotel, in dem auch sein türkischer Herausgeber Aziz Nesin nächtigte, und warfen am 2. Juli 1993 Brandsätze. 35 Menschen starben, Nesin wurde nur leicht verletzt. Sein norwegischer Verleger William Nygaard, 2010 durch Schüsse schwer verletzt, hatte ebenfalls Glück.
Die Opfer waren der Höhepunkt einer in der modernen Literaturgeschichte beispiellosen Kampagne, nachdem der 700-Seiten-Roman Anfang September 1988 im Verlag Viking Press erschien und nur Wochen später den Whitbread-Preis errang. Der komplexe, postmoderne Text mit vielen weltliterarischen Anleihen von Ovid über Shakespeare bis Bulgakow ist dem magischen Realismus zuzuschlagen. Er schildert die miteinander verwobenen Schicksale zweier indischer Muslime, die als Satan und Erzengel Gabriel entschlüsselbar sind, und verschmilzt Themen wie Migration und Identität, Religion und Okkultismus, Prophetie und Islam sowie Erotik und Gewalt zu einer fantastischen Melange mit Traumsequenzen.
Schon wenige Tage nach Veröffentlichung des Buchs wurde seine Einfuhr nach Indien verboten. Am 14. Januar 1989 wurde es auf einer Demonstration von Muslimen in Bradford symbolisch verbrannt – woraufhin Buchhändler dazu übergingen, den Roman nicht mehr auszustellen. Auf einer Demonstration am 27. desselben Monats im Londoner Hyde Park richteten Muslime eine Petition an die Verlagsgruppe Penguin, zu der Viking gehört.
Erste Kopien kursierten auch rasch im Iran, eine Buchbesprechung und Auszüge wurden im iranischen Rundfunk verbreitet, deren Sendungen Chomeini regelmäßig verfolgte. Ein unbekannter Geistlicher übersetzte auf eigene Initiative eine 700-Seiten-Version, die er dem Büro Chomeinis sandte. Chomeinis Kommentar nach dem Lesen habe gelautet: „Die Welt war schon immer voller Geisteskranker, die Unsinn geredet haben. Es lohnt sich nicht, auf so etwas zu reagieren. Nehmt es nicht ernst.“ Ein Importverbot wurde nicht verhängt.
„Paranoia eine Vorbedingung des Überlebens“
Drei Ursachenbündel dürften es sein, die Chomeinis Zorn dann doch heraufbeschworen haben mögen. Zum ersten sind es Passagen, in denen der Koran und der Prophet Mohammed (angeblich) beleidigt werden. So imaginierte Rushdie ein Bordell in Mekka, in dem sich Huren zu Werbezwecken die Namen aller Prophetengattinnen zulegten. Außerdem habe Rushdie die semantischen Unklarheiten um die 53. Sure des Korans seiner subjektiven, satirischen Interpretation unterworfen: Es geht um drei Göttinnen, die neben dem Hochgott Allah in der Kaaba zu Mekka verehrt worden sein sollen, also das strikte Prinzip des Monotheismus verletzen. Die verschiedenen Versionen einiger Verse dieser Sure, die die anderen Göttinnen legitimierten, seien statt vom Erzengel Gabriel von Satan eingeflüstert („satanische Verse“) und erst in einer späteren Offenbarung durch den Engel richtiggestellt worden.
Zum zweiten habe sich Chomeini in bestimmten figuralen Charakterisierungen wiedererkannt, bspw. „…der bärtige, beturbante Imam. Wer ist er – Ein Verbannter, ein Mann im Exil“ oder „Für den Mann im Exil ist Paranoia eine Vorbedingung des Überlebens“. Sauer stieß dem islamischen Revolutionsführer sicher auch die Beschreibung Mohammeds als geschickter Politiker auf („Wie praktisch, ein Prophet zu sein“), der sich bei Unstimmigkeiten auf einen Berg zurückzog und dort – dies deckt sich mit den koranischen Angaben – im Traum vom Erzengel Gabriel den Willen Allahs erfuhr. Günstigerweise vertrat der Erzengel im Roman dabei immer diejenige Auffassung, die Mohammed bereits hatte. Und zum dritten habe Chomeini offensichtlich die Meinungsführerschaft innerhalb der islamischen Welt angestrebt, weswegen er religiöse und damit ideologische Pflöcke einschlagen wollte.
Als am 12. Februar 1989 erste Unruhen mit Todesopfern wegen des Buches aus Pakistan und Indien publik wurden, reagierte der Iran sehr rasch – mit dem bekannten Resultat, das eine politische und diplomatische Krise ohnegleichen auslöste, denn die Fatwa war auch Todesurteil für alle, die an der Veröffentlichung beteiligt waren und den Inhalt des Buchs kannten. Die in London ansässige Nichtregierungsorganisation „Article 19“ gründete das Rushdie Defence Committee und veröffentlichte am 2. März 1989 einen von mehr als 1000 Autoren weltweit unterzeichneten Aufruf zum Schutz der Meinungsfreiheit – eben die regelt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Artikel 19. Am 7. März 1989 brach der Iran seine diplomatischen Beziehungen zu Großbritannien ab.
Der bis dahin schweigende Rushdie wies am 4. Februar 1990 im Independent den Vorwurf der Gotteslästerung zurück und gab an, kein Muslim zu sein. Iran und Großbritannien nahmen ihre diplomatischen Beziehungen am 28. September wieder auf. In Deutschland wurde laut Handelsregister am selben Tag der Fatwa der „Artikel 19 Verlag“ gegründet mit dem einzigen Unternehmenszweck, das Buch auf Deutsch zu veröffentlichen. Es beteiligten sich Verleger aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Rund neunzig Verlage und weit über hundert Herausgeber fanden sich bis August 1989; seit 17. Oktober desselben Jahres gibt es „Die satanischen Verse“ in deutscher Sprache im Handel.
„dem Verlagsgewerbe schwersten Schaden zugefügt“
Nach der Gewaltwelle 1991 – 1993 kehrte teilweise Ruhe um Text und Autor ein. Auf seiner Flucht hatte Rushdie für seinen Sohn das Märchen „Harun und das Meer der Geschichten“ verfasst, in dem ein Märchenerzähler die Fähigkeit verliert, Geschichten zu erzählen, weil ihm der „Geschichtenhahn“ abgedreht wird und er keinen Zugang mehr zum „Erzählwasser“ hat. Der Sohn macht sich auf den Weg, seinen Vater zu retten. Das Buch ist das vielleicht poetischste des Autors, der mit „Des Mauren letzter Seufzer“, das in Mumbai auf den Zensur-Index gesetzt wurde, „Der Boden unter ihren Füßen“, „Fury“ und „Shalimar der Narr“ weitere lesenswerte Romane schrieb.
1995 kam es in Deutschland zu einer Kontroverse anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an die renommierte Islamwissenschaftlerin und Übersetzerin Annemarie Schimmel (1922 – 2003). In einem Fernsehinterview hatte sie Verständnis für die Empörung in der islamischen Welt über das Buch Rushdies geäußert, das auf eine „sehr üble Art“ die Gefühle gläubiger Muslime verletzt habe. Es kam zu einer Protestinitiative innerhalb des Börsenvereins gegen die Preisverleihung, die u.a. von Henryk M. Broder, Alice Schwarzer und Elfriede Jelinek unterstützt wurde, aber auch ihrem ehemaligen Schüler Gernot Rotter. Der Hamburger Orientalist erklärte in der ZEIT, dass Schimmel „dem Ansehen nicht nur der Islamwissenschaft, sondern dem gesamten im Börsenverein vertretenen Verlagsgewerbe schwersten Schaden zugefügt“ hat. Die Preisvergabe wurde mit sehr großer Mehrheit bestätigt, Schimmel jedoch noch im Jahr vor ihrem Tod für ihre Toleranz gegenüber dem Islam von feministischen Islamkritikern angegriffen.
Für sein Lebenswerk wurde Rushdie vielfach ausgezeichnet, 1999 erhielt er von der Freien Universität Berlin die Ehrendoktorwürde. Als 2007 Elisabeth II. ihre Absicht mitteilte, ihn zusammen mit 945 Sportlern, Kulturgrößen und Repräsentanten der Wirtschaft in den Ritterstand zu erheben (was sie dann auch tat), löste das erneut offizielle diplomatische Proteste im Iran und in Pakistan aus; in beiden Ländern wurden die britischen Botschafter einbestellt. Das iranische Außenministerium nannte die Entscheidung einen eindeutigen Beweis für Islamophobie unter hochrangigen britischen Beamten: „Eine der meistgehassten Personen der islamischen Welt auszuzeichnen, zeigt Großbritanniens Feindschaft gegenüber dem Islam“, sagte Mohammad-Ali Hosseini, Sprecher des iranischen Außenministeriums, laut der ZEIT. In Iran, Pakistan und Malaysia kam es anschließend zu teilweise gewalttätigen Straßenprotesten, in Kaschmir kam gar die Wirtschaft einen Tag lang zum Erliegen.
Nach zahlreichen Drohungen mit Gewaltausschreitungen und Mordaufrufen von Islamisten sagte Rushdie die Teilnahme am größten Literaturfestival Indiens in Jaipur im Januar 2012 ab – er hätte die Eröffnungsrede halten sollen. Und noch auf Rushdies Präsenz bei der Auftakt-Pressekonferenz der Frankfurter Buchmesse 2015 reagierte die iranische Regierung mit einer offiziellen Teilnahmeabsage. Kaum ein neuzeitlicher Text der Weltliteratur hat solche weltweiten, lange währenden Reaktionen hervorgerufen.
„Man kann Ideen nicht einzäunen“
Bis heute wundert sich der überzeugte Atheist Rushdie, wie naiv er war ein Buch zu schreiben, in dem der Prophet Mohammed an verschiedene Götter glaubt und seine Frauen in einem Bordell arbeiten. Niemand wäre heute überrascht, wenn es deshalb zu Protesten in der islamischen Welt käme. „Wir lebten damals in unbedarfteren Zeiten“, sagt Rushdie dem STERN. „Ich habe keine Lust mehr, über den Iran und die Fatwa zu reden. Das ist ein alter Hut“, erklärte er weiter. „Es ist, als wäre etwas weltberühmt, das ich nicht bin“. Über diese Zeit auf der Flucht hatte er 2012 eine Autobiographie geschrieben, die zeitgleich in 27 Ländern ausgeliefert wurde, allein in Deutschland in 100.000 Exemplaren.
Er ist sich sicher, dass das Buch heute keinen Verleger mehr fände, sagte er der BBC. Aber: „Ich bestehe auf dem Recht der Meinungsäußerung – auch gegenüber Religionen.“ Die seien für ihn „Gift für das Herz“. Rücksicht auf die Meinung von Millionen Gläubigen zu nehmen, hält er für falsch. „Man kann Ideen nicht einzäunen. Ich halte Gott nun mal für eine lächerliche Idee. Und ich sollte das Recht haben, das auch zu sagen.“ Rushdie bedauert ein wenig, die im islamischen Paradies versprochenen Freuden nicht zu erlangen: „Heute erwarte ich keine Jungfrauen mehr im Himmel“, schmunzelt der viermal verheiratete Autor der Weltwoche. „Ich brauche, um ein moralisches Wesen zu sein, keinen obersten Schiedsrichter.“
Er würde seinen Roman genauso wieder schreiben. „Zum Glück muss ich es nicht mehr“, sagte er in einem Interview mit dem SPIEGEL. Auch die umstrittenen Traumpassagen über den Propheten, in dem Huren nach den Ehefrauen des Propheten Mohammed benannt sind, würde er so lassen. „Ich finde, sie gehören zu den besten Passagen des Buchs (…) Diese Passagen sind ernsthaft und legen an keiner Stelle nahe, dass die Frauen des Propheten sich unangemessen verhalten hätten.“ Bereut hat Rushdie sein Buch nie: Wer es nicht mag, müsse es ja auch nicht lesen.