„Zeitgeist in Quäklauten“
15. Februar 2019 von Thomas Hartung
Vor fast genau 70 Jahren wird in Pommern ein offizielles Verbot der „Swing- und Niggermusik“ erlassen: „Jaulende Orchester und swingende Paare gehören in den Urwald.“ Wilhelm Frick, der erste Landesminister der NSDAP, erließ für Thüringen bereits 1930 ein Jazz-Verdikt. Einer der Verbotsgründe: ein Instrument namens Saxophon. Der national-protestantische „Deutsche Frauenkampfbund gegen Entartung im Volksleben“ verlangte neben dem Verbot von „Negertänzen“ auch ein „Verbot von Saxofonen“. 1929 hatte die Deutsche Tonkünstler-Zeitung ebenso ein „Verbot der Saxofone“ gefordert. Alfred Rosenberg, Chef-Ideologe der NSDAP, schimpfte 1930 ebenfalls auf „das Getute der Saxofone und anderer für Niggertrommelfelle gefertigter Instrumente“.
Die angesehene Allgemeine Musikzeitung diffamierte das Instrument 1932 in einem ausführlichen „Traktat“ als „Monstrum“, „bizarre Maschine“, „groteskes Instrument“ und als „modulationsarmes, näselndes, nörgelndes, der Erzeugung eines falschen Sentiments in der Musik dienendes Tonwerkzeug“, das dem „Zeitgeist in Quäklauten“ Stimme gebe. Einem Autor der Zeitschrift Die Musik war 1936 „das Gedudel und Gequietsche“ des Instruments „ein Greuel“. Und in Musik im Kriege hieß es 1943 über das Saxofon in der Konzertmusik: „Es muss doch wohl seinen besonderen Grund haben, wenn dieses Instrument in der langen Zeit seit seiner Erfindung so wenig in der höheren Musik verwertet wurde.“ Der Grund wurde auch gleich mitgeliefert: Er liegt nämlich im „weichlichen, qualligen, zuweilen ungesunden, schwülen Klang“ des Instruments.
Der Erfinder desselben wäre über solche Charakterisierungen sicher mehr als verdutzt gewesen, wurde es zu seinen Lebzeiten wegen seiner „Freilufttauglichkeit“ doch vor allem als Militärinstrument verwendet: Adolphe Sax. Geboren am 6. November 1814 im belgischen Dinant an der Maas als eines von elf Kindern eines Kunsttischlers, überlebte er eine ganze Reihe schauriger Unfälle: Er wurde von einem Ziegelstein erschlagen, verschluckte eine Nadel, stürzte eine Treppe hinab, fiel auf einen brennenden Herd und trank Schwefelsäure. Die Mutter zweifelte an seiner Lebenskraft, in der Nachbarschaft nannten sie den kleinen Sax „das Gespenst“. Doch Adolphe Sax, geschaffen für Leiden und Gegenwind, zeigte bis ins Alter unbändigen Überlebenswillen: So überstand er einen Lippenkrebs, eine üblicherweise tödliche Diagnose.
Die Familie zog 1835 nach Brüssel, wo der Vater eine Instrumentenbauwerkstatt eröffnete. Adolphe, der das Brüsseler Konservatorium besuchte und dort Flöte, Klarinette, Gesang und Harmonie studierte, ging daneben bei seinem Vater in die Lehre. Seine erste selbstständige Arbeit als Instrumentenbauer war eine 1838 patentierte Vervollkommnung der Klarinette, die er hervorragend spielte. Nur mit einem Exemplar des von ihm 1840 entwickelten, völlig neuen und nach sich selbst benannten Instruments ausgestattet, begab er sich zwei Jahre später mittellos nach Paris und erregte die Aufmerksamkeit verschiedener Persönlichkeiten des Pariser Musiklebens, darunter Hector Berlioz.
„melancholisch wie ein abklingendes Echo“
Der Komponist der „Symphonie fantastique“ prophezeite der Neuheit 1844 aufgrund ihrer Eigenschaften eine große Zukunft: „…bald feierlich-ernst und ruhig, bald leidenschaftlich, dann träumerisch oder melancholisch wie ein abklingendes Echo oder wie die unbestimmten Klagen des Wehens im Walde […]. Kein anderes mir bekannte Musikinstrument besitzt diesen seltsamen Klang, der bis an die Grenzen der Stille geht.“ Am 21. März 1846 wurde es in Paris unter der Nummer 3226 patentiert.
Die besonderen Eigenschaften ergeben sich einerseits aus dem konischen Rohr, das sich zum Ende hin weitet und damit etwa von der zylindrischen Klarinette unterscheidet, und andererseits aus der Tatsache, dass sein Ton mit Hilfe eines Rohrblatts erzeugt wird und es darum, anders als sein Messing-Korpus vermuten lässt, zur Familie der Holzblasinstrumente gehört. Laut Patentantrag bewege sich das Instrument klanglich zwischen dem „wärmend-biegsamen“ Klang der Klarinette und dem eher durchdringenden, näselnden Sound der Oboe.
1845 empfahl Sax sein Instrument der königlichen Familie zur Aufnahme in die Militärorchester. Daraufhin rief König Louis Philippe einen Wettstreit zwischen einer herkömmlichen und einer mit Sax-Instrumenten ausgestatteten Militärkapelle aus: Ein gewaltiges Spektakel auf dem Champ de Mars, dem 25.000 Besucher beiwohnten. Das Saxophon konnte sich nicht nur besser gegen die Trompeten und Posaunen behaupten als die leiseren Holzblasinstrumente wie Oboe und Fagott. Mit seinem Metallkorpus erwies es sich auch als robuster gegen Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen als seine wetterfühligen Kollegen aus Holz. Das Instrument bekam fortan einen festen Platz in der Militärmusik und sein Erfinder das Monopol auf dessen Bau.
Deswegen hatte sich Sax zeitlebens mit neidischen Konkurrenten herumzuschlagen. Die gerichtlichen Entscheidungen fielen zwar immer zu seinen Gunsten aus, kosteten aber viel Geld. Und nicht nur das: Seine Rivalen entführten Arbeitskräfte, stahlen Sax‘ Pläne und bezeichneten den Erfinder als Verrückten, ja Besessenen. Einige Pariser Instrumentenbauer bildeten gar einen Verein mit dem Ziel der systematischen Verfolgung von Adolphe Sax. Auf dem Höhepunkt ihrer Aktivitäten brachten sie sogar seinen Diener um, der das Pech hatte, seinem Herrn ähnlich zu sehen.
Der Musikkritiker Marc Navet erklärte den Neid im Saarländischen Rundfunk mit Sax‘ technischer Begabung: „Er wusste, wie lang die Luftsäule war, die durch das Instrument strömte. Und daher wusste er auch genau, wo er die Löcher für die Klappen bohren musste. Daher waren alle Instrumente, die seine Fabrik verließen, exakt gestimmt. Bis dahin konnte man beim Instrumentenbau oft erst nach der Fertigstellung prüfen, ob das Instrument gut oder schlecht war. Adolphe Sax hingegen besaß das Genie, mathematische und physikalische Formeln beim Instrumentenbau anzuwenden.“
„nur einige Stunden des Friedens“
Obwohl seine Werkstatt mit zeitweilig 100 Mitarbeitern über 20.000 Instrumente in acht verschiedenen Größen gebaut haben soll, ging Sax dreimal Bankrott: was er verdiente, gab der fünffache Vater mit vollen Händen auch wieder aus. Er wurde 1857 Saxophon-Lehrer am Pariser Konservatorium und 1858 Direktor des Bühnenorchesters der Pariser Oper. „Ich beklage, dass ich nur einige Stunden des Friedens in einem von Sorge verschlungenen Leben erreichen konnte“, schrieb Sax 1867, lange vor seinem Tod. Nach der Niederlage Frankreichs 1871 und der darauf folgenden wirtschaftlichen Depression wurde die Stelle als Saxophon-Lehrer gestrichen, auch die Nachfrage nach den Instrumenten ging stark zurück.
Denn außerhalb des Militärs setzte es sich nur zögerlich durch. Als eines der wohl bekanntesten, seltenen Beispiele aus dem 19. Jahrhundert gilt Georges Bizets „L’Arlésienne“ (1872). Im folgenden Jahrhundert änderte sich das – nicht zuletzt, weil das „wollüstige“ Instrument 1903 von Papst Pius X. mit einem Bann belegt wurde. Bekannte Beispiele aus dem 20. Jahrhundert sind u. a. George Gershwins „Rhapsody in Blue“, Maurice Ravels „Boléro“, Alban Bergs „Lulu“ oder die „Sinfonia domestica“ von Richard Strauss.
Mit dem Aufkommen von Jazz und Swing zumal in New Orleans begann die eigentliche Blütezeit des Instruments – im Glenn-Miller-Sound feierte es triumphale Erfolge. Und allen musikalischen Befindlichkeiten zum Trotz erhielten auch die Musikkorps der Deutschen Luftwaffe ab 1940 einen fünf Instrumente umfassenden Saxophon-Satz, in guten Tanzorchestern waren vier vertreten. An der Berliner Musikhochschule wurde das Saxophonspiel weiterhin gelehrt, auch die deutsche Saxophonindustrie konnte aufatmen. Hans Hinkel vom Reichspropagandaministerium stellte 1942 fest, dass das Saxophon nur „fälschlich als Negerinstrument“ bezeichnet wird.
Im zaristischen Russland war es allerdings ebenso wie in Japan verboten, in den 50er-Jahren kam „The Devils‘ Horn“ selbst in der Traumfabrik Hollywood wegen seiner „offensichtlichen Sexualität“ auf die schwarze Liste – man erkannte darin ein Phallussysmbol. Doch die Verbote reizten nur. Ohne des „Teufels Horn“ sind weder Soul noch Blues und erst recht der Rock ’n’ Roll, namentlich der Twist, oder die New-Wave-Punkmusik in den 70er- und 80er-Jahren vorstellbar. Ex-US-Präsident Bill Clinton spielte es ebenso begeistert wie des „braunen“ Bautzens Ex-Oberbürgermeister Christian Schramm; Foreigner, Pink Floyd und Supertramp etablierten es in der Rockmusik, heute sind Candy Dulfer und Jan Garbarek gefeierte Stars auf dem Instrument.
Mehr als 30 Erfindungen ließ Sax im Laufe seines Lebens patentieren, darunter sogar eine Dampforgel, eine Signalanlage für die Eisenbahn, eine Kanone und einen Apparat zur Lungengymnastik; allesamt versunken in der Zeit – bis auf eine. Ihr Erfinder starb verarmt und nahezu vergessen am 7. Februar 1894 in einer Pariser Gnadenpension. Den weltweiten Siegeszug seines Instruments erlebte er nicht mehr. Seit 1936 trägt der Asteroid 3534 seinen Namen. Sein Geburtshaus ist heute ein Museum.
Nicht vergessen sei Ravels Orchesterfassung von Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“. Im Satz „Das alte Schloß“ veredelt Ravel das solistische Saxophon zu unübertrefflicher Melancholie und träumerischer Noblesse. Dafür hatten die nazistischen Kulturignoranten natürlich kein Ohr; und Bartoks „Holzgeschnitzter Prinz“ galt uhnen ohnehin als „entartet“.
Tippfehlerteufel. Natürlich „ihnen“, nicht „uhnen“.