„Sobald die Aktualität rief, war er da“
19. Februar 2019 von Thomas Hartung
Den Weihnachtsabend 1976 hat Lothar Loewe sicher zeitlebens nicht vergessen: Zwei Tage zuvor zur „unerwünschten Person“ erklärt, musste der ARD-Korrespondent für Ost-Berlin binnen 48 Stunden die DDR verlassen. Während in den Häusern ringsum beschert wird, passiert er die Grenze nach Westberlin. Anlass war ein Tagesschau-Bericht mit der Aussage: „Hier in der DDR weiß jedes Kind, dass die Grenztruppen den strikten Befehl haben, auf Menschen wie auf Hasen zu schießen“. Den Satz wertete die DDR-Regierung als „grobe Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR“.
In seinen Lebenserinnerungen schrieb er später: „Das war, was wohl als der ‚Hasen-Kommentar‘ in die Mediengeschichte eingehen wird. Ich gestehe, dass ich den Satz geschickter und präziser hätte formulieren können. Aber die Mauer vor Augen, an der Grenzpolizisten erst kurz zuvor auf einen Ost-Berliner Jungen geschossen hatten, den mysteriösen Autounfall, die ständige Konfrontation mit Stasi-Männern und Volkspolizisten – war es ein Wunder, dass ich plötzlich für ein paar Sekunden die Fassung und die ruhige Überlegung verlor?“
Ebenso wie 1975, als der SPIEGEL-Korrespondent Jörg Mettke wegen seiner Berichte über Zwangsadoptionen in der DDR ausgewiesen wurde, endet auch das Jahr 1976 mit einem journalistischen Zwischenfall, der die Beziehungen zwischen Bonn und Ost-Berlin vorübergehend erheblich belastete. Weitere folgten fast im Jahrestakt: Anfang 1978 wird das SPIEGEL-Büro in Berlin geschlossen, im Frühjahr 1979 ZDF-Korrespondent Peter van Loyen ausgewiesen. Doch kein anderer Journalist konnte es mit Loewes Bekanntheit – und Direktheit – aufnehmen.
aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht
Am 9. Februar 1929 in Berlin-Wilmersdorf geboren, wächst Lothar bis Januar 1945 in Landsberg an der Warthe auf, wohin sein Vater, ein Postbeamter, versetzt wurde. Die Schlacht um Berlin erlebte er als 16jähriger Hitlerjunge mit der Panzerfaust in der Hand. „Bis ich sie endlich wegschmissen habe und mit der letzten Straßenbahn nach Hause gefahren bin“, sagte er der WELT. Beim Berliner Abend fing er dann zusammen mit dem späteren Bild-Chef und Springer-Vorstandvorsitzenden Günter Prinz „learning by doing“ als Polizeireporter an – kulinarisch bestens versorgt von Mutter Prinz, „die trotz der schlechten Zeit so wunderbare Butterbrote schmieren konnte“.
Er entwickelt sich in verblüffender Geschwindigkeit zum Vollblutjournalisten: Neugierig, respektlos, bestens informiert, immer zur Stelle, dazu witzig und charmant. Obendrein fleißig, ehrgeizig und pfiffig, wurde er zum Chronisten des Kalten Krieges und damit der Weltgeschichte. Zunächst erlebt er den Aufstand vom 17. Juni 1953 in Ost- Berlin mit, nur drei Jahre später als einer von wenigen West-Journalisten auch den Ungarn- Aufstand. Auf seine eindrucksvollen Reportagen wurde die noch im Aufbau befindliche ARD aufmerksam und schickte den Mann mit der markigen Stimme und dem unüberhörbaren Berliner Akzent gleich als Korrespondenten nach Washington, wo er erst die Kuba-Krise, dann die Ermordung John F. Kennedys und schließlich die Reaktionen auf den Bau der Berliner Mauer begleitete. Damals sei er Atlantiker geworden, behauptet die WELT.
Von Washington nach Moskau als Nachfolger von Gerd Ruge – für Lothar Loewe 1967 die nächste, wiederum prestigeträchtige Herausforderung. Aus nicht ganz geklärten Gründen musste er 1970 seine Koffer packen: Angeblich hatte er ein Gespräch zwischen den Außenministern Walter Scheel und Andrej Gromyko zu belauschen versucht. Die drei Jahre schärften allerdings sein Weltbild und sensibilisierten ihn zugleich. Dank seines profunden Wissens vor allem auch in militärstrategischen Fragen war als Gesprächspartner geschätzt, seiner Deutlichkeit wegen aber auch gefürchtet: er habe aus seinem Herzen, aus seinen politischen Überzeugungen keine Mördergrube gemacht, meint Joachim Stoltenberg in der WELT.
Ab Ende 1974 berichtete er dann als erster ARD-Fernsehkorrespondent aus Ost-Berlin. Zwei Ziele stehen dabei nebeneinander: Den westdeutschen Fernsehzuschauern zeigen, wie die Deutschen im anderen Teil Deutschlands leben, und den DDR-Bürgern eine Alternative zur staatlich gelenkten Berichterstattung zugänglich zu machen. Gerade mal 20 West-Akkreditierungen ließ die DDR gleichzeitig zu: Denn für die SED waren die Westkorrespondenten nichts anderes als Agenten des Klassenfeinds.
„Wir waren der DDR-Journalistenverordnung unterworfen“, erzählte Loewe. „Diese forderte Selbstverständlichkeiten wie das Einhalten der Gesetze der DDR, umfasste aber auch eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit. Waren wir außerhalb von Ost-Berlin tätig, hatten wir dies dem DDR-Außenministerium zu melden. Wollten wir etwa bei einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft oder in einem Volkseigenem Betrieb filmen, musste das auch beantragt werden.“
„Nagel in den Sarg der DDR geschlagen“
Durch Loewes Berichterstattung wird im Sommer 1976 die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz in Zeitz aus Protest gegen die Schul- und Jugendpolitik der SED überhaupt erst in der DDR bekannt. Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist Loewe für die DDR-Führung eine persona non grata. Vor einer Ausweisung schreckte sie aber offenbar noch zurück und will die Verantwortung dafür lieber anderen in die Schuhe schieben. Bemühungen, die ARD dazu zu bewegen, Loewe unauffällig abzuziehen, bleiben aber erfolglos, ebenso Versuche, das auf politischem Weg zu erreichen. Loewes Berichterstattung über die Ausbürgerung Biermanns und den Hausarrest Havemanns im Herbst 1976 tragen nicht zu einer Entspannung der Lage bei, bevor dann die „Tagesschau“ am 21. Dezember den willkommenen Anlass bietet, ihn loszuwerden.
„Die Korrespondenten, vor allem von Rundfunk und Fernsehen, haben einen entscheidenden Beitrag zum Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen und zur deutschen Einheit geleistet. Mit der Berichterstattung aus der DDR in die DDR hat besonders das Fernsehen einen dicken Nagel in den Sarg der DDR geschlagen“, bilanziert er. 1979 bekam er das Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland.
Nachdem er sich überraschend zur Wahl gestellt hatte, wurde er im März 1983 tatsächlich zum Intendanten des Senders Freies Berlin SFB gewählt. Er war als Reporter aber vor allem Einzelkämpfer, kein Teamworker. Sein Führungsstil war umstritten, viele im Sender warfen ihm vor, selbstherrlich zu regieren. Das Vertrauen, das besonders die CDU in ihn gesetzt hatte, war schnell verspielt. Sein Ende sollte durch einen Abwahlantrag herbeigeführt werden – einmalig in der Geschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Loewe kam diesem Verfahren 1986 durch eine Vertragsauflösung zuvor. Er sei mit Leib und Seele ein leidenschaftlicher Journalist gewesen, wird ihn später RBB-Intendantin Dagmar Reim würdigen, eine seiner Nachfolger. „Er war und blieb immer Reporter. Sobald die Aktualität rief, war er da“, sagte sie der Frankfurter Rundschau.
Nach dem Fall der Mauer erfuhr Loewe Rehabilitierung und Genugtuung. Er wurde 1992 Hörfunkbeauftragter für den Deutschlandsender Kultur der DDR, der mit dem Deutschlandfunk und dem Sender Rias 1994 in ein neues nationales Hörfunksystem mit Deutschlandradio und Deutschlandfunk überführt wurde. Loewe genoss aber nicht nur seinen Job, sondern auch das Leben: Er schätzte sein schnelles Cabrio, fuhr sehr gut Ski und spielte auf gutem Niveau Tennis, bis ein Hüftleiden den sportlichen Ausgleich beendete.
Wer Lothar Loewe näher kannte, sagte von ihm, er sei in seinen letzten Jahren ruhiger und milder geworden; der weiche Kern, der stets hinter seiner rauen Schale verborgen lag, habe sich nun öfter offenbart. Aber immer wieder trat er als Zeitzeuge der Entwicklung in Ost und West oder als Kolumnist auf, so zuletzt der BILD. Und aus der las er seiner Frau am Berliner Frühstückstisch am 23. August 2010 vor und lachte noch kurz, bevor sein Herz zu schlagen aufhörte.