„Ich habe von Hitler acht Jahre Urlaub bekommen“
20. Februar 2019 von Thomas Hartung
„Blicke ich auf meine geistige Entwicklung, so meine ich, etwas von Kindheit an Gleichbleibendes zu sehen. Die Grund-Verfassung der Jugend hat sich im Laufe des Lebens geklärt, im Stoff des Weltwissens bereichert, aber es hat niemals Wandlungen der Überzeugung gegeben, keinen Bruch, keine Krise und Wiedergeburt.“ Der das als 70jähriger durchaus selbstgewiss von sich behauptete, hat nicht nur der Psychiatrie ein Standardwerk geschenkt, sondern auch die Existenzphilosophie mitbegründet, die These der Kollektivschuld bestritten, die Wiedervereinigung abgelehnt und mehr direkte Demokratie gefordert. Was sich wie ein politisches Sammelsurium liest, offenbart sich als schweres Leben.
Karl Jaspers wurde am 23. Februar 1883 in Oldenburg als Sohn eines Bankdirektors und Landtagsabgeordneten sowie Urenkel eines Schmugglers geboren. Von Kindheit an litt er an Bronchiektasen, unheilbaren Lungenmissbildungen, die seine körperliche Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigten, ihn anfällig für Infektionen machten und ihn sein Werk buchstäblich dem Tod abtrotzen ließen: „Für mich selber war die Krankheit ein Schicksal.“ Diese Einschränkungen sowie familiäre Umstände sensibilisierten ihn für psychologische Fragen. Er studierte Jura und Medizin, wurde 1908 in Heidelberg promoviert und heiratete 1910 die jüdische Krankenpflegerin Gertrud Mayer.
1913 legte Jaspers als gerade Dreißigjähriger sein „Lehrbuch der Allgemeinen Psychopathologie“ in Heidelberg als Habilitationsschrift vor, die bis heute als richtungsweisendes Standardwerk gilt und ihm 1916 die Ernennung zum außerordentlichen Professor einbringt. Schon 1919 begründete er mit der „Psychologie der Weltanschauungen“ die „Existenzphilosophie“ und erntet damit ersten philosophischen Ruhm: Eine Typologie des Wunderns, Reflektierens, ja der Fragwürdigkeiten des Daseins. 1920 rückte er zum Extraordinarius auf, begann seine Freundschaft mit Martin Heidegger („Sein und Zeit“) und wurde 1921 als Doktor der Medizin auf einen Lehrstuhl der Philosophie berufen.
Seitdem ermöglichte er in schwergewichtigen Schriften erstmals das Gespräch unter den „Menschenwissenschaften“. Eine dreibändige Philosophie erschien 1932/33, zuvor stieß die Schrift „Die geistige Situation der Zeit“ (1931) mitten in die Existenzangst der Weltwirtschaftskrise vor. Wissenschaft und Technik, so Jaspers, sind zwar für jedes Handeln nützlich, sie können jedoch das, „was wirklich geschieht … nicht ändern“. Zu ändern vermag nur das „überschreitende Denken, durch das der Mensch er selbst werden möchte“, eben die „Existenzphilosophie“. Als Appell an die Freiheit („Existenzerhellung“) führt es aber „zu keinem Ergebnis“; es bleibt „gegenstandslos“. Jaspers: „Ich bin nicht, was ich erkenne, und erkenne nicht, was ich bin.“ 1932 promovierte er Golo Mann.
„Größe abendländischer Überlieferung“
Nach Hitlers Machtergreifung konstituierte sich an der Universität Heidelberg ein Kreis, dem auch Jaspers angehörte, mit dem Ziel, für die badischen Universitäten nach den Prinzipien des NS-Regimes eine neue Verfassung zu entwerfen. Jaspers selbst schuf einen Entwurf nach dem Führerprinzip: für ihn ist die Universität eine Stätte der Erziehung und Ausbildung einer geistesaristokratischen Elite, die sich von der „Vermassung“ und vom bloßen Wissenschaftsmanagement abhob. Der Kontakt zu Heidegger brach nach dessen NSDAP-Eintritt ab. 1950 hat der Jaspers gegenüber brieflich seine Scham darüber eingestanden: „Ich bin seit 1933 nicht deshalb nicht mehr in Ihr Haus gekommen, weil eine jüdische Frau dort wohnte, sondern weil ich mich einfach schämte.“ Jaspers war jedoch nicht bereit, die frühere Vertrautheit wiederzubeleben.
Dabei verdrängte der Philosoph anfangs die politischen Realitäten: Als man ihm prophezeite, man werde die Juden „eines Tages in Baracken bringen und die Baracken anzünden“, hielt er es für Phantasterei: „Das ist ja ganz unmöglich.“ Seine Schülerin und Freundin Hannah Arendt ließ er wissen, das Ganze sei „eine Operette. Ich will kein Held in einer Operette sein.“ Ihre Emigration erschien ihm als übereilte „Dummheit“. Arendt konnte Jaspers‘ Deutschtum nachvollziehen, aber hielt ihm auch deutlich vor, dass er aus naivem Vertrauen in die politische Reife seiner Mitbürger nicht in der Lage war, die Bedrohung des Nationalsozialismus zu erkennen. Er bejahe die deutsche Macht, weil er meinte, Deutschland solle zwischen dem russischen Despotismus und dem angelsächsischem „Konventionalismus“ ein drittes Reich werden und „den Geist der Liberalität, der Freiheit und Mannigfaltigkeit persönlichen Lebens, der Größe abendländischer Überlieferung“ vertreten.
Aufgrund der Maßnahmen zur „Gleichschaltung“ der Universitäten in Deutschland wurde Jaspers zunächst aus der Universitätsverwaltung ausgeschlossen, aber erst Ende September 1937 mit Ruhebezügen zwangspensioniert. 1938 wurde ihm zunächst ein inoffizielles, ab 1943 ein offizielles Publikationsverbot auferlegt. Er resümierte später: „Ich habe von Hitler acht Jahre Urlaub bekommen.“ Mehrere Male dachte er an Emigration und hoffte auf einen Ruf ins Ausland. Von Freunden unternommene Versuche scheiterten jedoch. Eigentlich hatte er sich für die innere Emigration entschieden, im Namen der Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft: „Niemand verlässt ohne Einbuße sein Land.“ Man laufe im Exil Gefahr, der „Bodenlosigkeit“ zu verfallen.
Nach 1945 gehörte Jaspers zu den profiliertesten Wissenschaftlern, die zur Neubegründung und Wiedereröffnung der Universität Heidelberg beitrugen, und wurde 1946 zum Ehrensenator gewählt. In der Schrift „Die Schuldfrage“, zugleich seine erste Vorlesung, entwickelte er ein vierdimensionales Verständnis von Schuld, das auch heute noch die politische Diskussion maßgeblich beeinflusst: die kriminelle, die politische, die moralische und die metaphysische Schuld. Die erste zu verurteilen ist Sache der Gerichte, die zweite Sache des Siegers. Gleichzeitig wandte er sich gegen die These von der Kollektivschuld und hielt es für „sinnwidrig“, ein Volk als Ganzes eines Verbrechens zu beschuldigen oder moralisch anzuklagen: „Verbrecher ist immer nur der einzelne. […] Moralisch kann immer nur der einzelne, nie ein Kollektiv beurteilt werden.“
„den notwendigen Weg der legalen Revolution vorbereiten“
1947 veröffentlichte er sein mit Abstand wichtigstes Buch „Von der Wahrheit“, das Menschen aus dem Klammergriff der „Existenz“ in die Wechselfälle des Lebens freisetzte. „Der Mensch ist unvollendet und nicht vollendbar“, lautet einer seiner Grundthesen. Enttäuscht von der weiteren allgemein- und hochschulpolitischen Entwicklung im Nachkriegsdeutschland nahm Jaspers 1948 einen Ruf als Professor nach Basel an: der neuen deutschen Wirklichkeit könne er nicht vertrauen.
„Überhaupt war er zwar in der Bundesrepublik ein Star-Intellektueller, doch innerhalb der Universitäten wurde er weitgehend ignoriert“, meint Thomas Meyer in der ZEIT. Er gab immer wieder stark beachtete Stellungnahmen zu Zeitfragen wie auch zu wissenschaftlichen Themen ab, seine Rundfunk- und Fernsehinterviews „wurden von Konrad Adenauer und seinen Bonner Kollegen genauso beachtet und kommentiert wie von Walter Ulbricht und dessen Genossen in Ost-Berlin“, so Meyer.
Auf über 1000 Seiten konnte man sich 1957 über „Die großen Philosophen“ belehren lassen, was, wie sich Jahre nach Jaspers’ Tod herausstellte, nur ein Teil eines mindestens zwei weitere Bände umfassenden gigantischen Unternehmens war. 1958 schrieb er in „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen“, die weißen Völker könnten die zur Unabhängigkeit gelangenden Völker nicht daran hindern zu verhungern, wenn diese partout nicht lernen wollten, sich redlich aus dem Land zu ernähren. Auch müsse der Krieg mit Atomwaffen „unvermeidlich augenblicklich zur Apokalypse führen“. Der Sowjetunion, in der Schrift noch als unverbesserlich totalitär eingeschätzt, empfahl er acht Jahre später, mit den USA zusammen die chinesische Atomrüstung ultimativ auszuschalten.
Zeitlebens der Idee eines deutschen Nationalstaats nicht gerade zugetan, schrieb er 1960 in „Freiheit und Wiedervereinigung“, die Bundesrepublik müsse, um ihre hitlerische Vergangenheit zu sühnen, auf die Wiedervereinigung verzichten. Die Anerkennung der DDR und der Grenze an Oder und Neiße forderte er nicht aus Zweckmäßigkeit, sondern als angemessene, als verdiente Quittung für den willkürlich begonnenen, verbrecherisch geführten Weltkrieg. Prompt wurde er als „Vaterlandsverräter“ und „Handlanger des Kommunismus“ beschimpft.
1966 erhob er in „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ seine Stimme gegen Machtpolitik und Parteienstaat und trat für eine Verfassungsänderung zugunsten von mehr direkter Demokratie ein. So regte er Rudolf Augstein am 9. Juli 1966 zu einer Recherche an: „Beherrschen uns am Ende 10 000 oder noch viel weniger? Wie funktioniert die Parteienhierarchie, und wie operieren die Parteifunktionäre? Durch welche Mittel behaupten sie ihre Macht? Welche Solidaritäten verbinden sie? Wie wirken sich ihre Rivalitäten aus? Dass wir Untertanen dieser kleinen Parteien-Oligarchie sind, scheint mir zweifellos. Man müsste es nur viel deutlicher sehen. Mir scheint, dass solches Wissen den notwendigen Weg der legalen Revolution vorbereiten könnte, um uns noch rechtzeitig zu befreien.“ Das klingt fast verschwörungstheoretisch und brächte Jaspers heute den Vorwurf von AfD-Nähe ein.
Als Reaktion auf die Wahl des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Kurt Georg Kiesinger zum Bundeskanzler sowie auf die Verabschiedung der Notstandsgesetze 1968 erwarb er auch die Schweizer Staatsbürgerschaft. Am 26. Februar 1969 starb Jaspers in Basel. Sein Werk umfasst über 30 Bücher mit etwa 12.000 Druckseiten, die meisten international übersetzt, und einen Nachlass von 35.000 Blättern mit einigen tausend Briefen. Man geht von einer deutschsprachigen Gesamtauflage von mehr als einer Million Exemplaren aus. Es gibt weltweit sieben Jaspers-Gesellschaften, in der Schweiz eine Karl-Jaspers-Stiftung, die Universität Heidelberg vergibt den Karl-Jaspers-Preis. Und seit 1990 veranstaltet die Universität in Oldenburg die jährlichen Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit. Er war Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Erasmus- und Goethe-Preisträger sowie mehrfacher Ehrendoktor, darunter an der Pariser Sorbonne.
„Keiner, Kant eingeschlossen, hat sich mit so wenig Schonung für die eigene Person in die Helle der Öffentlichkeit hineingeworfen, um der Philosophie zu sichern, was sie doch niemals beherbergen kann: tiefere Einsicht vom Standort einer höheren Moral“, schrieb Rudolf Augstein im SPIEGEL. Aber dieses „Hineinwerfen“ hat für Augstein vor allem mit „Appellieren“ zu tun, nichts mit „Aussagen“ – weshalb Jaspers eigentlich nur Anregung sei, nicht aber Bedeutung hätte. „Welche Wirkung konnte solch moralisches Appellieren haben? Die Frage wäre sinnvoll, wenn irgendein moralisches Appellieren in der Bundesrepublik je sinnvoll gewesen wäre“, so Augstein bitter. Darüber mag man ein Weilchen nachsinnen.