„dass es eine Begabung bei mir gibt“
30. März 2019 von Thomas Hartung
Dass der Verkündungstag des „Gesetzes über die Deutsche Bibliothek“ vor 50 Jahren auf den 10. Todestag des charismatischen Verlegers Peter Suhrkamp fiel, ist schon ein eigenartiger Zufall: Allein bis zum Jahre 2000 hatte die Suhrkamp-Gruppe bereits 12.711 Titel zur Bibliothek beigesteuert, die alle deutschen Bücher in zwei Exemplaren zu sammeln gesetzlich beauftragt ist und auch die Abgabe von Pflichtexemplaren wissenschaftlicher Arbeiten regelt. Suhrkamp war der erste deutsche Verleger, der am 8. Oktober 1945 von den britischen Militärbehörden wieder eine Verlagslizenz erhielt.
Dabei war sein Weg dahin alles andere als gradlinig. Am 28. März 1891 wird Johann Heinrich Suhrkamp in Kirchhatten, Oldenburg, als Sohn eines Bauern geboren. Bis ins 16. Jahrhundert lässt sich die Familie zurückverfolgen – Bauern und Handwerker meist, der Hof immer vererbt. Also wollte der Vater dem ältesten von vier Söhnen und zwei Töchtern auch den Hof vererben. Sohn Johann Heinrich sollte ordentlicher Bauer werden. Doch der eigensinnige Sprössling wollte unabhängig sein, träumte sich weit weg in eine andere Welt und war kein einfaches Kind: mit dem Vater zerstritten, der ihn nicht selten prügelte, mit der Mutter ein kaltes Verhältnis bis zum Ende des Lebens – sie, die er fast nie besuchte, überlebte ihn um 14 Tage.
Suhrkamp nennt sich Peter, flieht vom Hof, war Seminarist am Evangelischen Lehrerseminar Oldenburg und trat seine erste Stelle als Volksschullehrer 1911 in Augustfehn an. 1913 holt er sein Abitur nach und heiratet eine Lehrerkollegin. 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger und bekam für seine Verdienste als Stoßtruppführer das Eiserne Kreuz. Von einem kriegsbedingten Nervenzusammenbruch genesen, begann er dann Germanistik in Heidelberg, Frankfurt am Main und München zu studieren. Nebenbei arbeitete er als Lehrer an der Odenwaldschule und an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf. 1918 geschieden, heiratet er 1919 erneut und wird Vater seines Sohnes.
Von 1921 bis 1925 war er als Dramaturg und Regisseur am Landestheater Darmstadt angestellt, lässt sich zum zweiten Mal scheiden und führt 1923/1924 mit einer Opernsängerin seine dritte Ehe. Von 1925 bis 1929 unterrichtet er erneut an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, gab dann den Lehrerberuf endgültig auf und übersiedelte nach Berlin, wo er als freier Mitarbeiter des Berliner Tageblatts und des Monatsmagazins Uhu begann. „Dann wollte ich Schriftsteller sein, zog mich zurück aufs Schreiben, stellte fest, dass ich nicht am Schreibtisch sitzen konnte, sondern, da ich aus dem praktischen Leben, aus einer Bauernfamilie heraus kam, praktisch anfassen musste.“
„ein schöpferisches und erzieherisches Wirkenwollen“
1932 wurde er als Herausgeber der Zeitschrift Die Neue Rundschau Mitarbeiter des S. Fischer Verlags und stieg bereits ein Jahr später in den Vorstand auf. Im Jahr darauf starb Verlagschef Samuel Fischer, sein Schwiegersohn und Erbe Gottfried Bermann Fischer stimmt unter dem Druck der Nazis einer Teilung des Verlages zu: Er selbst verlegt künftig im Wiener Exil, Suhrkamp kaufte den nicht transferierten Teil: „Ich glaube, dass es eine Begabung bei mir gibt, die Begabung, das, was auf Blättern geschrieben da ist, auf einem ganzen Konvolut von Blättern, in eine plastische Gestalt zu übersetzen, in die Buchgestalt.“ 1935 heiratete er seine vierte Frau Annemarie „Mirl“ Seidel, die später als Lektorin im Verlag arbeitete.
1942 wurde das Unternehmen auf Druck der Nationalsozialisten in Suhrkamp Verlag umbenannt, womit der Name des jüdischen Gründers verschwunden war. Im Umgang mit dem Regime zeigt sich Peter Suhrkamp ebenso bauernschlau wie unbeirrbar: „geistiger Abstand zum Nationalsozialismus und praktische Nähe zu seinen Organen gehen ständig miteinander einher“, so Biograph Wolfgang Schopf in der Süddeutschen. Aufgrund eines Lockspitzels allerdings, der ihm anbietet, Verbindungen zum Widerstand herzustellen, wird er im April 1944 verhaftet, wegen Hoch- und Landesverrats angeklagt und ins KZ Sachsenhausen gebracht. Zehn Monate Lagerhaft schädigen seine Gesundheit nachhaltig und haben ihn wohl traumatisiert.
Freunde berichten, dass er sich seitdem zwischen Zweifeln am Tun, Einsamkeit, Menschenscheu und Todesnähe auf der einen, Lebensbejahung, Genuss und Lust an Begegnungen auf der anderen Seite bewege. Hermann Hesse war der Ansicht, von den beiden „Lebenstemperaturen“ habe am Ende „die passive und resignierende die Oberhand gewonnen“. Die Briefe an Mirl aus der Haft künden aber auch von der anderen Seite: vom Pol „einer kühnen Aktivität, eines schöpferischen und erzieherischen Wirkenwollens“.
Verschiedene Persönlichkeiten hatten sich für seine Freilassung eingesetzt, darunter Arno Breker bei Albert Speer, Gerhart Hauptmann bei Baldur von Schirach und Hans Carossa bei Ernst Kaltenbrunner. Nach Kriegsende kooperiert er zunächst mit Gottfried Bermann Fischer, doch statt der geplanten Fusion kommt es zum Bruch und zur Neugründung des S. Fischer Verlags in Frankfurt. Die Vorgänge – und Akten dazu – sind bis heute umstritten. Ingo Langer behauptet im Cicero, dass sich Suhrkamp den Verlag von Bermann Fischer mit einem falschen Testament ergaunert habe.
Hermann Hesse schreibt dagegen in einem Brief an seinen Jugendfreund Otto Hartmann, dass Suhrkamp das „Martyrium in den Gefängnissen und Konzentrationslagern“, die Verhöre und Folterungen, die ewigen Transporte und Hinrichtungen „für die Rettung des Verlages S. Fischer aus den Händen der Partei, den Erben Fischers zulieb“ erlitten habe, „die jetzt aus Amerika zurück kamen und ihren Verlag wieder an sich genommen haben, während Suhrkamp auf der Straße steht und von vorn anfangen muss.“
Vor allem er bestärkte Peter in seiner Verlagsgründung. Suhrkamp und Bermann Fischer einigten sich schließlich außergerichtlich: Suhrkamp durfte diejenigen der während des Krieges von ihm betreuten Autoren behalten, die sich entschlossen, ihm die Rechte an ihren Werken zu geben. Von den 48 Autoren entschieden sich 33 für eine Zusammenarbeit mit ihm, darunter neben Hesse auch Bertolt Brecht, Max Frisch und George Bernhard Shaw. Als Suhrkamp seinen eigenen Verlag ins Frankfurter Handelsregister eintragen lässt, ist er 59 Jahre alt, schwer krank, aber immer noch respekteinflößend.
„ernsthaft, gescheit, freundlich“
Einer seiner ersten Lehrlinge, Klaus Wagenbach, erinnert sich im DLF: „Wir hatten den alten Suhrkamp erlebt, und das war ein äußerst eindrucksvoller Mann. Er war ganz mager, er hatte eine KZ-Einbuchtung mühsam überlebt. Sehr deutsch, sehr protestantisch, er war so was von norddeutsch, es ging einem ein bisschen auf die Nerven. Aber ganz ernsthaft, gescheit, freundlich. Er war ein guter Pädagoge, will ich damit sagen.“ Damals beginnt, was später als „Suhrkamp-Kultur“ in die deutsche Literaturgeschichte eingehen sollte: der Einfluss der Literatur und ihrer Autoren auf das öffentliche Leben im Nachkriegsdeutschland. Bereits 1951 wurde die erste Reihe des Hauses ins Leben gerufen, die Bibliothek Suhrkamp, in der bis heute „Klassiker der Moderne“ erscheinen.
Der Verlag publizierte von Beginn an deutschsprachige und internationale Literatur des 20. Jahrhunderts sowie geisteswissenschaftliche Texte , die theoretisch und ästhetisch die „conditio humana“ repräsentieren. Dabei ging es Suhrkamp immer darum, den Autor an sich und nicht die einzelnen Bücher zu fördern. Zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen, darunter viele Nobelpreise, für die von Suhrkamp unterstützten Schriftsteller zeugen von der Richtigkeit seiner Entscheidungen: „Sie alle kennen Menschen, die ständig verliebt sind. Auch wenn sie im Moment gar keine Geliebte haben. Dann warten sie auf einen Gegenstand für ihre Liebe. So sind die echten Verleger: ständig in die Literatur Verliebte und auf der Suche nach einem Gegenstand für ihre Liebe.“
Mit dem 1951 gegründeten Theaterverlag trifft Peter Suhrkamp dann eine profitable Entscheidung. Es beginnt das Geschäft mit den Lizenzen. Diese kaufmännische Ader ist in den Augen des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki das große Plus von Peter Suhrkamp: „Er ist ein Mann der Literatur, ein leidenschaftlicher Literaturfreund, Literaturkenner, Literaturförderer. Und er ist gleichzeitig ein vorzüglicher Kaufmann, Geschäftsmann. Das ist unerhört wichtig“, sagte er dem DLF. Im selben Jahr erhielt der Verleger die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt.
1953 verkaufte das Ehepaar Suhrkamp ein Anwesen in Kampen auf Sylt, das Mirl aus einer früheren Ehe mitbrachte, für 45.000 DM an Axel und Rosemarie Springer. Vom Verkaufserlös finanzierte Suhrkamp den Erwerb der deutschen Rechte am Werk Marcel Prousts. Ein ähnlicher literarischer Idealismus ist von keinem anderen deutschen Verleger überliefert. 1956 erhält Suhrkamp das Bundesverdienstkreuz. 1957 machte er Siegfried Unseld, der fünf Jahre zuvor auf Hermann Hesses Vermittlung als Assistent in den Verlag eingetreten war, zum persönlich haftenden Gesellschafter und veröffentlicht mit „Munderloh“ einen eigenen Band mit fünf Erzählungen. Von Krankheiten und Sanatorienaufenthalten gepiesackt, leitet er den Verlag oft vom Krankenbett.
Am 31. März 1959 stirbt er 68jährig im Universitätsklinikum Frankfurt am Main – nur 48 Stunden vor seinem Scheidungstermin mit Annemarie, die, schwer alkoholkrank, ihren Mann nur um Tage überleben sollte. Er wird auf Sylt begraben und hinterlässt seinem Nachfolger Unseld ein gut bestelltes Haus, dem der sich auch bis zu seinem Tod 2002 mehr als würdig erwies. Doch unter dessen Witwe Ulla Unseld-Berkéwicz begann der Niedergang der Verlagsmarke „Suhrkamp“. Autoren wie Martin Walser, Marcel Reich-Ranicki oder der Schweizer Adolf Muschg kündigten öffentlich die teilweise jahrzehntelange Zusammenarbeit auf. Auch verdienstvolle Lektoren wie Mechthild Strausfeld, die u.a. Julio Cortázar, Mario Vargas Llosa oder Isabel Allende betreute, verließen den Verlag, der 2010 nach Berlin umgezogen war.
Verlagshistorischer Höhepunkt der vielfachen Querelen: der Abriss des Suhrkamp-Hauses in Frankfurt 2011. Medienökonomischer Höhepunkt: ein Insolvenzverfahren 2013 und die Umwandlung des Verlags in eine Aktiengesellschaft 2015. Kulturpolitischer Höhepunkt: die Distanzierung des Verlags von seinen eigenen Autoren Sibylle Lewitscharoff nach ihrer „Dresdner Rede“ 2014 und Uwe Tellkamp nach seinem „Dresdner Dialog“ mit Durs Grünbein 2018. Suhrkamps Hermann Hesse gewidmete „Erzählung des Lehrers“ enthält den Satz „Denn Mitleid ist zu nichts gut und kann nur den Lebensmut schwächen“. Ein Glück, dass er tot ist und das Desaster nicht mehr erleben muss.