„Ausgeburten des Wahnsinns“
20. März 2019 von Thomas Hartung
Was am 20. März 1939 im Hof der „Alten Feuerwache“ in der Lindenstraße 42 in Berlin wirklich geschah, ist umstritten. Für die einen hatten die Nationalsozialisten 1.004 Ölgemälde sowie 3.825 Aquarelle, Zeichnungen und graphische Blätter auf einen Haufen werfen lassen und angezündet. Alles Werke „entarteter Kunst“, die sie in den Jahren zuvor aus über hundert Museen in ganz Deutschland zusammengerafft hatten, um die deutsche Kunst zu „säubern“. Jedoch: Es gibt keine offiziellen Bilder von der Verbrennung, die – im Gegensatz zur Bücherverbrennung 1933 – unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschehen sein soll. Auch in Propagandaminister Joseph Goebbels Tagebuch findet sich kein Hinweis auf diesen Tag.
Daher meinen die anderen, dass keine Bilderverbrennung stattgefunden hat, da sie nicht zweifelsfrei belegbar ist. In den Kriegswirren sind die Unterlagen der Feuerwache vernichtet worden. Offiziell ist von einer „Löschübung“ die Rede: Möglich ist also, dass nur Rahmen und Pappe verbrannt wurden. Goebbels’ Abschlussbericht ist seit 1949 verschollen. Erhalten ist lediglich der Entwurf eines „Schlussberichtes über die Abwicklung der Entarteten Kunst“ vom 4. Juli 1939, der allerdings sehr vage gehalten ist und weder Rückschlüsse auf eine Verbrennung geschweige eine Anweisung dazu zulässt. Danach sollen die meisten Kunstwerke vernichtet oder magaziniert, ein Teil von 300 Gemälden und Plastiken sowie 3000 Graphiken ins Ausland verkauft worden sein.
Man kann zwei Begründungen finden, wieso Kunst in diesem Frühjahr 1939 „verschwunden“ sein könnte – einerlei, wie. Nach der einen handelte es sich um den „unverwertbaren Rest“ des noch viel größeren Lagers der Berliner Hafen- und Lagerhaus A.G. in der Köpenicker Straße 24a in Berlin-Kreuzberg. Die andere lautet, dass die Nationalsozialisten mit dieser Propagandamaßnahme die Preise für die von ihr diffamierten Werke auf dem Kunstmarkt in die Höhe treiben wollten. Denn: Wer sollte bereit sein, viel für Werke zu bezahlen, die Goebbels kurz zuvor während eines Besuchs des Zentrallagers für „entartete Kunst“ im Kreuzberger Viktoria-Speicher als einen solchen „Dreck“ bezeichnet hatte, „dass einem bei einer dreistündigen Besichtigung direkt übel wird“.
„Kunstzwerge, Kunstbetrüger, Kunststotterer“
Die Vorgeschichte dieses „Verschwindens“ ist dagegen besser bekannt. Am 30. Juni 1937 beauftragte Goebbels den Präsidenten der Reichskammer der Bildenden Künste, Adolf Ziegler, alle Museen auf „deutsche Verfallskunst“ zu durchforsten, die Werke zu inventarisieren und für eine Ausstellung aufzubereiten. Ziegler stellte eine Kommission zusammen, die im Juli 1937 in einer Eilaktion mehrere Hundert Werke seit 1910 beschlagnahmte und zur Ausstellung „Entartete Kunst“ kuratierte. Über 120 Künstlerinnen und Künstler mit über 700 Exponaten wurden an den Pranger gestellt, mit teilweise diffamierenden Inschriften, die unter dem NS-Schlagwort der „jüdisch-bolschewistischen Kunst“ antisemitische und antikommunistische Vorurteile schürten.
Darunter waren Max Beckmann, Otto Dix, Max Ernst, Ernst Ludwig Kirchner, Paul Klee, Oskar Kokoschka und Käthe Kollwitz.1933 war das noch anders: Da hatten sich die Expressionisten Hoffnungen gemacht, in den Rang einer „nordisch-deutschen“ Staatskunst erhoben zu werden. Goebbels schien sie zu schätzen, und der NS- Studentenbund feierte Emil Nolde – er war NSDAP-Mitglied –, Ernst Barlach und die Maler der „Brücke“ als vorbildliche Künstler. Entschieden wurde der Richtungsstreit vom ehemaligen Postkartenmaler Hitler, der einen spießig-glatten Neoklassizismus bevorzugte und die Expressionisten, Dadaisten und Neusachlichen als „Kunstzwerge, Kunstbetrüger, Kunststotterer“ verspottete.
„Sie sehen um uns herum diese Ausgeburten des Wahnsinns, der Frechheit, des Nichtskönnertums und der Entartung. Uns allen verursacht das, was das Auge bietet, Erschütterung und Ekel“ – mit diesen Worten eröffnete Ziegler am 19. Juli 1937 die Ausstellung im Galeriegebäude am Münchener Hofgarten. Als „entartet“ galten alle kulturellen Strömungen, deren Ästhetik „undeutsch“ erschien und nicht in das propagierte Menschenbild passte: neben dem Expressionismus, Neue Sachlichkeit und Dadaismus auch Kubismus. Die Schau ging durch Großstädte des Deutschen Reichs auf Wanderung, wurde etwa in Berlin, Leipzig und Hamburg gezeigt und zu einem Publikumsmagneten: Insgesamt hatte sie über drei Millionen Besucher.
Am Tag zuvor, dem 18. Juli 1937, eröffnete Adolf Hitler, nur wenige Meter vom Hofgarten entfernt, das „Haus der Deutschen Kunst“ (heute „Haus der Kunst“) mit der ersten „Großen Deutschen Kunstausstellung“. Parallel dazu stattete er Ziegler mit einer Generalvollmacht aus, mit der er alle in den Museen noch vorhandenen „Machwerke der Verfallszeit“ konfiszieren sollte. Der Raubzug wurde durch das „Gesetz über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“ vom 31. Mai 1938 begründet, das das entschädigungslose Beschlagnahmen nachträglich legitimieren sollte. Fast 20.000 Werke von ca. 1400 Künstlern wurden eingesammelt und in Berlin sowohl im Viktoria-Speicher als auch auf Schloss Niederschönhausen untergebracht, wo sie für den Verkauf auf dem internationalen Kunstmarkt aufbewahrt wurden.
„trotzdem wieder ausfindig machen können“
Vier vom Propagandaministerium ausgewählte Kunsthändler, darunter Hildebrand Gurlitt, erhielten exklusive Rechte und sollten mit den Werken handeln. Einige Transaktionen sind bekannt, so mit dem Sammlerehepaar Sofie und Emanuel Fohn in Italien oder die Auktion der Galerie Fischer in Luzern. Einen Vorschlag, wie mit dem unverkäuflichen Rest der Kunstwerke zu verfahren sei, machte Franz Hofmann, Leiter der Abteilung Bildende Kunst beim Propagandaministerium: „Ich schlage deshalb vor, diesen Rest in einer symbolischen propagandistischen Handlung auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, und erbiete mich, eine entsprechend gepfefferte Leichenrede dazu zu halten“, schrieb er an Goebbels.
Die genaue Auflösung des Kreuzberger Lagers, das dem Womanizer Goebbels auch als Liebesnest gedient haben soll, und der Verbleib vieler Werke seit dem Frühjahr 1939 sind nur teilweise geklärt – auch bei Nazi-Größen selbst tauchten nach Kriegsende einige der verfemten Gemälde auf, so das „Bildnis des Dr. Gachet“ von Vincent van Gogh in der Privatsammlung von Hermann Göring. Die propagandistische Wirkung der Verbrennungssaga verfehlte allerdings nicht ihr Ziel: so kamen etwa Abgesandte des Basler Kunstmuseums mit 50.000 Schweizer Franken nach Berlin, um Kunstwerke zu kaufen – oder zu retten, je nach Perspektive.
Der Referent in der Abteilung Bildende Kunst, Rolf Hetsch, hatte alle Exponate der „entarteten Kunst“ bürokratisch genau dokumentiert, die Liste ist allerdings nur unvollständig überliefert. Die Kunsthistorikerin Meike Hoffmann von der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ der FU Berlin hat mit ihrem Team die umfangreichste Datenbank mit über 21.000 Einträgen zur „entarteten Kunst“ aufgebaut. Immer wieder gibt es Überraschungen. „Im NS-Inventar haben all die Werke, die vernichtet werden sollten, ein ‚X‘ erhalten. Wir haben einige dieser Werke trotzdem wieder ausfindig machen können“, so Hoffmann gegenüber der Deutschen Welle.
Denn die ausgewählten Händler haben einzelne Werke auch für sich selbst reklamiert und privaten Handel betrieben. Das Ausmaß der Privatgeschäfte war lange unklar – bis zum „Schwabinger Kunstfund“ Ende 2013: In der Wohnung von Hildebrands Sohn Cornelius Gurlitt wurden rund 1400 Kunstwerke beschlagnahmt. Bei rund 500 davon wurde nicht ausgeschlossen, dass sie sogenannte NS-Raubkunst sind. Tatsächlich nachgewiesen werden konnte dies jedoch nur in fünf Fällen.
„wir haben die Hoffnung noch nicht verloren“
Neue Nahrung erhielt die Anti-Verbrennungsthese schon im Mai 2011, nachdem bei den Bauarbeiten zur U-Bahn-Linie 5 in der Königstraße 50 nahe dem Roten Rathaus mehr als ein Dutzend als verschollen geltende Skulpturen der „Entarteten Kunst“ gefunden wurden. Im Zuge der Aufklärung dieses Fundes war Hoffmann im Bundesarchiv auf ein Schreiben des Propagandaministeriums vom 14. August 1942 an die Reichspropagandaleitung gestoßen, die damals die Ausstellung in München organisiert hatte.
Daraus geht hervor, dass sich in dem 1944 bei einem Bombenangriff der Alliierten zerstörten Gebäude ein bisher unbekanntes Depot des Reichspropagandaministeriums befand, das für Erfassung, Verkauf und Lagerung der beschlagnahmten Kunstwerke zuständig war. Überliefert sei eine Notiz über „sieben Meter Ladung“, die sich wohl auf gedrängt aufgestellte Gemälde bezog, so Hoffmann.
Danach müssen Hunderte von Objekten in der Königsstraße 50 gelagert gewesen sein. Ungeklärt ist, warum es ein solches bislang unbekanntes Sonderdepot gab, obwohl die händlerische Verwertung durch das Ministerium als abgeschlossen galt, und wie groß das Lager tatsächlich war. Hoffmann glaubt dennoch, dass es die Verbrennung gab: „Die Nationalsozialisten waren große Bürokraten, aber sie hätten nicht eine angeordnete Vernichtung von mehr als 5000 Werken vertuschen können“.
Zudem gäbe es von dem Bilderbestand, der angeblich zur Vernichtung freigegeben wurde, keine Spuren in Dokumenten oder Sammlungsunterlagen. So gelten neben dem „Schützengraben“ von Otto Dix auch Franz Marcs 1913 entstandener „Turm der blauen Pferde“ bis heute als verschollen, obwohl sie angeblich nach dem Krieg erneut gesichtet worden sein sollen. Hoffmann bleibt optimistisch: „Aber wir haben die Hoffnung noch nicht verloren, auch weitere Werke, die als ‚X‘ gekennzeichnet waren, wieder aufzufinden.“