„Dialektik von Parteilichkeit und Gesetzlichkeit“
18. April 2019 von Thomas Hartung
Die Rechtsprechung müsse auf der fortschrittlichen Wissenschaft des Leninismus-Stalinismus basieren und parteilich-klassenkämpferisch sein. Was ein Verbrechen sei, habe nicht mehr eine formale Gesetzesvorschrift zu bestimmen: Entscheidend sei allein, ob eine Handlung „gesellschaftsgefährlich“ ist. Für solche Aussagen, die einem heute noch – oder vielmehr wieder – das Blut gefrieren lassen, erhielt sie 1952 von der Ostberliner Humboldt-Universität die Würde eines „Ehrendoktors der Rechte“, da sie „besondere Leistungen bei der Fortentwicklung des neuen demokratischen Strafrechts“ vollbracht habe: Hilde Benjamin, damals Vizepräsidentin des Obersten Gerichts und später nicht nur erste Justizministerin der DDR, sondern weltweit. Sie starb am 18. April vor 30 Jahren in Berlin.
Geboren wurde Helene Marie Hildegard Lange 140 Kilometer südwestlich davon, am 5. Februar 1902 in Bernburg als Älteste von drei Kindern. Der Vater, ein kaufmännischer Angestellter, sympathisierte mit den Ideen der Freimaurer, die Mutter war eine selbstbewusste und gebildete Hausfrau. Schwester Ruth war Kugelstoß-Weltrekordlerin und wurde 1927 Deutsche Meisterin, Bruder Heinz Ingenieur in der DDR. Prägte ihr evangelisches Elternhaus ihre Vorlieben für Literatur und Musik, prägte Berlin, wohin die Familie 1908 zog, ihre politische Entwicklung: „Die Novemberrevolution erlebte ich bereits bewusst und stand gefühlsmäßig auf der Seite der Arbeiter. … Von entscheidender Bedeutung wurde die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, … und ich begann, mich immer aktiver für die politische Entwicklung zu interessieren und Partei zu ergreifen“, erinnert sie sich.
Mit 19 Jahren machte Hilde Lange Abitur und studierte als eine der ersten Frauen von 1921 bis 1924 Jura in Berlin, Heidelberg und Hamburg. Ihr Assessor-Examen folgte 1927, eine Dissertation blieb unvollendet. Außerdem lernte sie die russische Sprache. Sie heiratete 1926 den Arzt und Kommunisten Dr. Georg Benjamin, Bruder des berühmten Philosophen und Essayisten Walter Benjamin, ein wohlhabender jüdischer Kaufmannssohn, der sieben Jahre älter und wie sie von der Wandervogelbewegung beeinflusst war. Bis zur Heirat SPD-Mitglied, trat sie nun in die KPD ein, engagierte sich in der Roten Hilfe und als Lehrerin in der Marxistischen Abendschule.
„In dieser kurzen, glücklichen Zeit“
1929 eröffnete Hilde Benjamin ihre Kanzlei und trat im Jahr darauf erstmals in einem spektakulären Strafprozess in Berlin-Moabit auf: Horst Wessel („Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen…“) war von Rotfrontkämpfern angeschossen worden und gestorben. Die Vossische Zeitung schrieb: „Bemerkenswert war das Auftreten eines weiblichen Verteidigers, nämlich Frl. Dr. Benjamin in diesem Prozess (weder Fräulein noch Doktortitel stimmen – T.S.). In interessanter Beweisführung plädierte sie für ihre Klienten auf Freispruch.“ Sie verteidigte fast nur Arbeiter und kleine Angestellte.
Nachdem ihr erstes Kind 1931 kurz nach der Geburt gestorben war, kam Ende 1932 Sohn Michael zur Welt. In ihrer Biographie über Georg Benjamin heißt es: „In dieser kurzen, glücklichen Zeit nach der Geburt von Mischa tauchte … schattenhaft der Wunsch auf: vier Kinder.“ Benjamin wurde direkt nach dem Reichstagsbrand ins KZ Sonnenburg „in Schutzhaft“ genommen und zu Weihnachten vorerst entlassen. Ihr selbst wurde die Anwaltszulassung entzogen. Das Dokument war – bittere Ironie der Geschichte – von Roland Freisler unterzeichnet, dem später berüchtigten Präsidenten des Volksgerichtshofs, mit dem sie in Zeiten des Kalten Kriegs manchmal als „weiblicher Freisler“ verglichen wurde. 1936 wurde Georg Benjamin wegen Hochverrat zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt.
Bis 1939 konnte sie als juristische Beraterin der Sowjetischen Handelsgesellschaft in Berlin arbeiten, danach wurde sie bis Kriegsende als Angestellte in der Konfektionsindustrie dienstverpflichtet. Ihr Schwager Walter Benjamin beging 1940 auf der Flucht vor der Gestapo an der französisch-spanischen Grenze Suizid. 1942 kommt ihr Mann im KZ Mauthausen ums Leben; „Selbstmord durch Berühren der Starkstromleitung“ hieß es offiziell. Ihr Sohn durfte als „Halbjude“ seit 1942 nicht mehr die höhere Schule besuchen. Hilde Benjamin unterrichtete ihn selbst und unterstützte in dieser Zeit bedrohte jüdische Freunde, darunter die später nach Auschwitz deportierte Lyrikerin Gertrud Kolmar. Sie vergrub Kolmars Gedichte und veröffentlichte sie 1977 unter dem Titel „Das Wort der Stummen“.
den „parteilichen Richter“ schaffen
Das zweite Leben der Hilde Benjamin begann am 12. Mai 1945 mit dem Auftrag des sowjetischen Kommandanten, das Gericht in Steglitz-Lichterfelde neu zu organisieren: „Nun begann das, wofür wir die vergangenen zwölf Jahre gekämpft, worauf wir uns die letzten Monate innerlich vorbereitet hatten,“ hieß es in ihren Erinnerungen. Bis heute wird gerätselt, ob es Rachsucht oder politischer Fanatismus war, der sie nach dem Krieg den Spieß einfach umdrehen ließ. Vor allem setzte sie sich für die Säuberung der Justiz von ehemaligen Nationalsozialisten ein: 80 % des Justizpersonals wurden entlassen. Eine vergleichbare Entlassungswelle in der Justiz hatte es noch nie in der deutschen Geschichte und auch nie wieder danach gegeben.
Hilde Benjamin versuchte die gewaltige Personallücke anfangs mit „Richtern im Soforteinsatz“, später mit „Volksrichtern“ zu schließen, hämisch „Galoppjuristen“ genannt. In Schnellkursen von anfangs sechs und zuletzt 18 Monaten wurden antifaschistisch gesinnte Menschen, meist SED-Mitglieder, ohne Abitur bis in die fünfziger Jahre in der DDR zum Richter ausgebildet und später zum Aufbaustudium verpflichtet. Hilde Benjamin wandte sich radikal gegen die bürgerliche Vorstellung vom „unpolitischen Richter“ und wollte einen neuen Richtertyp schaffen: den „parteilichen Richter“, der die „Dialektik von Parteilichkeit und Gesetzlichkeit“ verstanden hatte.
Mit Gründung der DDR – Hilde Benjamin war Mitglied der SED und der Volkskammer, hatte auch den Demokratischen Frauenbund mitgegründet und wurde 1949 Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR – wurde jedoch nicht sie Justizministerin, sondern Max Fechner. Als Vorsitzende des 1. Strafsenats von 1949 -1953 führte sie 13 große Verfahren wie den Bernburger Solvay-Prozess und sprach 67 Verurteilungen aus, darunter zwei Todesurteile, 15 Mal lebenslänglich und insgesamt ca. 550 Jahre Zuchthaus. Bei den Waldheimer Prozessen war sie beratend beteiligt: 3324 Angeklagte wurden damals wegen kriegs- bzw. nationalsozialistischer Verbrechen eingesperrt.
Verurteilt wurden politische Gegner anderer Parteien, Abenteurer und Kriminelle, wie sie der Kalte Krieg zwischen Ost und West hervorgebrachte, enteignete Industrielle, aber auch Mitglieder der Zeugen Jehovas, unliebsame Genossen aus den eigenen Reihen und Jugendliche, die sich den Neuanfang nach dem Untergang des 3. Reichs anders vorgestellt hatten. Allerdings haftet der Empörung über die Todesurteile gegen Johann Burianek und Wolfgang Kaiser bis heute ein G’schmäckle an: beide waren Mitglieder der „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU), eine CIA-finanzierte, militante antikommunistische Organisation, die von West-Berlin aus den Widerstand gegen die SED-Diktatur unterstützte und Sabotageakte durchführte, wobei sie ihrerseits auch zivile Opfer in Kauf nahm.
Benjamins Verhöre waren demütigend: „Eine Woge von Hass kam über den Richtertisch“, zitiert ihre Biographin Marianne Brentzel eine junge Angeklagte. Sie begründete ihre Härte mit der Notwendigkeit, die DDR zu schützen. „Wahrscheinlich hätte ein Mann an ihrem Platz nicht diese negative Berühmtheit erlangt. Eine Frau auf dem Richterstuhl scheint in der öffentlichen Meinung ungleich heftiger be- und verurteilt zu werden“, mutmaßt Brentzel. Seitdem Drohbriefen und Anrufen ausgesetzt, bekam sie einen zweiköpfigen Personenschutz zugeordnet.
Die Ereignisse des 17. Juni 1953 brachten dann den Karrieresprung. Als Minister Fechner, ein sozialdemokratischer Werkzeugmacher, das „Streikrecht“ für verfassungsgemäß erklärt hatte, wurde er beim Rapport im Politbüro am 14. Juli als „Feind der Partei“ verhaftet und seiner Funktion enthoben, später gar zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Ernennungsurkunde für den „Minister der Justiz Hilde Benjamin“ lag schon bereit. Obwohl sie lebenslang Mitglied des Zentralkomitees blieb, hat sie weitere Machtpositionen in der SED nie errungen: Das tiefsitzende Misstrauen der proletarischen Führungsspitze gegenüber einer bürgerlichen Intellektuellen stand wohl immer dagegen. Sie blieb auch in Pankow wohnen, als die oberste Spitze der SED sich in Wandlitz ihr Prominentenghetto schuf.
„Es hätte sie umgebracht“
Die Ministerjahre Hilde Benjamins waren von zwei widersprüchlichen Tendenzen gekennzeichnet. Einerseits repräsentierte sie weiterhin einen harten Kurs gegenüber allen „Feinden des Sozialismus“, unrühmliche Höhepunkte waren der Prozess um den Verleger Walter Janka sowie die Jagd auf Oppositionelle nach dem 13. August 1961. Ruchlos waren die drei Justizmorde an Erna Dorn, Manfred Smolka und Ernst Jennrich, die sie als Ministerin angeordnet hat. Infolge einer zweiten, von Chruschtschow im Oktober 1961 angestoßenen Entstalinisierungswelle wurde sie von Walter Ulbricht prompt „fortschrittsfeindlicher Umtriebe“ bezichtigt. Trotz „prinzipieller Korrekturen“ gebe es in der DDR-Justiz „noch immer Erscheinungen des Dogmatismus“. Benjamin wehrte sich und warnte, der Verzicht auf stalinistische Rechtspraktiken werde dem westlichen Klassenfeind Tür und Tor öffnen. Mit der Auslagerung wesentlicher Kompetenzen aus ihrem Ministerium begann damals ihre schrittweise Entmachtung.
Andererseits arbeitete sie an Reformwerken wie dem Familiengesetzbuch, das für die DDR-Bürger teilweise positive, gesellschaftliche Weichen stellten. Nachdem 1965 ein Entwurf in Millionenauflage verteilt wurde, kamen 23 737 Änderungsvorschläge im Ministerium an, im endgültigen Gesetzestext waren 230 davon berücksichtigt. Das Gesetz brachte Jahre vor vergleichbaren Veränderungen in Westdeutschland ein neues Namensrecht, die weitere rechtliche Gleichstellung außerehelicher Kinder und die Verankerung des Rechts auf Scheidung. Für die Förderung der Berufstätigkeit der Frauen wurde sie sogar in Westdeutschland gewürdigt.
Hilde Benjamins Rede zum Familiengesetz sollte ihr letzter großer Auftritt als Ministerin vor der Volkskammer sein. 1966 wurde der Stasi bekannt, dass sie Mitglied eines „lesbischen Kreises“ war. Das Jahr 1967 begann mit der Verleihung des Ordens „Held der Arbeit“ zu ihrem 65. Geburtstag – „Zweimal bekam sie den Karl-Marx-Orden sowie viele andere Auszeichnungen. Kaltgestellt mit Ordensblech und Ehrentiteln“, kommentierte Brentzel. Denn nach der Volkskammerwahl im Juli wurde Hilde Benjamin unerwartet und gegen ihren Willen von einem LDPD-Politiker abgelöst: Offiziell aus „gesundheitlichen Gründen“ und zur Verjüngung des Ministerrats.
Zu ihrer Genugtuung wurde ihr die Leitung der Gesetzgebungskommission nicht aus der Hand genommen, in der sie maßgeblich mit der Anpassung des Gerichtsverfassungsgesetzes, des Jugendgerichtsgesetzes und der Strafprozessordnung an eine kommunistisch orientierte Rechtslehre befasst war. Die Gesetzesneufassungen beseitigen unter anderem die Unabsetzbarkeit der Richter sowie die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Das neue Strafgesetz befreit zwar in Teilen von überkommenen Moralvorstellungen u.a. beim alten § 175 und dem Abtreibungsverbot, leitete aber im politischen Strafrecht eine weitere Verschärfung ein und hielt an der Todesstrafe fest.
Im selben Jahr übernahm sie den für sie geschaffenen Lehrstuhl „Geschichte der Rechtspflege“ an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam, den sie bis zu ihrem Tod innehatte. Sie erarbeitete eine dreibändige „Geschichte der Rechtspflege der DDR“ und schrieb die Biographie ihres Mannes. Als sie wenige Monate vor dem endgültigen Untergang der DDR an den Folgen eines Beinbruchs 87jährig starb, war sie keine sanft gewordene, weise Mutterfigur ihres Staates, sondern immer noch dessen Furie. „Hilde Benjamin und die DDR waren einander ähnlich geworden“, so Brentzel. Ihre Starrheit und Unbelehrbarkeit entsprachen der Erstarrung des gesamten Systems des realen Sozialismus. Ihr Sohn, befragt, wie sie mit dem Ende ihres Lebenswerkes umgegangen wäre, antwortete: „Es hätte sie umgebracht“.
„Mörderinnen keine Ehre!“
Brentzel würdigte sie 1997 zwar als Vorkämpferin für die Rechte der Frauen, kritisierte aber, dass ihr Umgang mit der Macht kein Vorbild für Frauen in Ost und West wurde: „Eher kann man sie als ‚negative Lehrmeisterin‘ ansehen.“ 21 Jahre später hat sich dieses Image gewandelt: Der schwarz-grün regierte Bezirk Steglitz-Zehlendorf legte die Broschüre „Starke Frauen 1945 – 1990“ auf, in der Hilde Benjamin neben unter anderem Verfassungsrichterin Jutta Limbach (SPD) gewürdigt wird. Die Broschüre war im Auftrag des Jobcenters von einem Verein „YOPIC“ (Young People for International Cooperation e.V.) als freier Träger erstellt sowie mit offiziellem Bezirkslogo und einem Vorwort des Stadtrats für Gleichstellung, Michael Karnetzki (SPD), versehen worden.
Die Vereinschefin Doris Habermann rechtfertigte das in der taz: „Menschen sind nicht nur schwarz und weiß. Wir haben ihre Taten ja nicht verheimlicht. Wir wollten ihre wichtige Arbeit für die Gleichberechtigung deshalb aber nicht vernachlässigen“. Auf die Frage, ob die Würdigung einer Frau, die Todesurteile gesprochen habe, nicht Grenzen überschreite, sagte Habermann: „Manche mögen das so sehen, aber das ist dann eine subjektive Einschätzung. Unserer Meinung nach sind Menschen auch für ihre positiven Eigenschaften zu würdigen. Benjamins Einsatz für die Gleichberechtigung zählt für uns dazu“. Hubertus Knabe, jüngst geschasster Leiter der Stasiopfer-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen, machte in den sozialen Medien schon früh auf den Vorfall aufmerksam und bezeichnete ihn auf t-online.de als „bewusste Verklärung einer führenden Stalinistin.“ Erst auf den CDU-Dringlichkeitsantrag „Mörderinnen keine Ehre!“ hin wurde die Broschüre zurückgezogen.
Entsetzlich daran ist, dass es unter dem Label der „Gleichberechtigung“ eigentlich um „Gleichstellung“ und damit um ein Genderthema geht, wie u.a. weitere Projekte Habermanns beweisen, darunter „Fit in KMU“, das „mit konsequenter Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien durch Frauen Wettbewerbsvorteile für die brandenburgische Wirtschaft“ schaffen will, um das „brachliegende weibliche Technik-Potenzial“ zu aktivieren. Aber dass es zwischen den Ideen heutiger Genderisten und einstiger Totalitaristen keinen Unterschied mehr gibt, konstatierte jüngst erst Heike Diefenbach auf sciencefiles: sie seien „Gemeinsame im Geist, vereint in ihrem Hass auf die Errungenschaften des Liberalismus und in ihrem Hass auf die Freiheit des Einzelnen, dessen Unabhängigkeit von dem, was sie für die richtige Gemeinschaft halten“. Die Würdigung Benjamins beweist das auf unerträgliche Weise.