„um meine Hochzeitsreise zu finanzieren“
29. April 2019 von Thomas Hartung
„Seit Franz Kafkas ‚Amerika’ hat kein europäischer Künstler sich mit solcher Intensität der Bedeutung von amerikanischer Kultur und Mythologie zugewandt“, behauptet Stuart Kaminsky. Gemeint war ein Italiener, genauer ein Römer, der erst nach fünf Filmen über die USA begann, Englisch zu lernen, und zwischen Mitte der sechziger und Mitte der achtziger Jahre zu einem der prägendsten Drehbuchautoren und Filmregisseure weltweit werden sollte, obwohl sein Ruhm genau genommen auf gerade sieben Filmen gründete, die ihn zum Milliardär machten: Sergio Leone.
Geboren am 3. Januar 1929 im römischen Viertel Trastevere, war ihm das Filmbusiness quasi in die Wiege gelegt. Der Vater Vincenzo Leone war ein italienischer Filmpionier, die Mutter Edvige Valcarenghi eine unter ihrem Künstlernamen Bice Walerian bekannte Stummfilmdiva. Vincenzo sympathisierte mit den Kommunisten und zog sich unter dem Eindruck des Faschismus weitgehend in die innere Emigration zurück. Ab 1939 nahm er, der unter dem Pseudonym Roberto Roberti seit 1911 Regie führte, seinen Sohn mit in die römische Filmstadt Cinecittà.
Auf diese Herkunft, die Besetzung Roms sowie die letzten Kriegsjahre 1943/45 hat Leone oft die pessimistische Note seiner Filme zurückgeführt: „Ein Römer zu sein, das bedeutet anders zu sein … fatalistisch zu sein. Hinter uns liegen ein verfallenes Weltreich und das Wissen um all die Dummheiten, denen wir uns über die Jahrhunderte schuldig gemacht haben. Mehr noch: Die historischen Zeugnisse unseres Reichs sind quer über die ganze Stadt verstreut, als dauerhafter Beweis unserer Fehler.“
Vorliebe für epische Geschichten
Sergio war nicht nur von Kindesbeinen an mit allen Aspekten der Filmherstellung vertraut, sondern wurde auch mit der US-amerikanischen Populärkultur sozialisiert, für die er sich begeisterte, darunter auch dem Kino Hollywoods. Überdies lernte er mit Ennio Morricone gemeinsam in einer Klasse. Bis Anfang der sechziger Jahre arbeitete er für rund 30 Filme unter anderem als Statist und Regieassistent, auch als Regisseur des zweiten Kamerateams und später als Drehbuchautor. Seine erste kleine eigene Rolle hatte er bereits in Vittorio De Sicas neorealistischem Film „Fahrraddiebe“ (1948).
Zumeist war er aber für Streifen im Genre des damals sehr populären „Antik-“ oder „Sandalenfilms“ tätig: historischen oder biblischen Geschichten im breitformatigen Cinemascope-Verfahren. Darunter waren einige monumentale US-Produktionen, die Leones Vorliebe für epische Geschichten prägten: Mervyn LeRoys gefeierter Nero-Film „Quo Vadis“ (1951) mit Peter Ustinov und William Wylers mit elf Oscars gekröntes Remake „Ben Hur“ (1959) mit Charlton Heston. Aufgrund einer Erkrankung des Regisseurs stellte Leone „Die letzten Tage von Pompeji“ im selben Jahr alleine fertig. Sein eigentliches Regiedebüt absolvierte er mit „Der Koloß von Rhodos“ (1961): eine groß ausgestattete, erstaunlich naive Kostüm- und Kampfproduktion mit einer Vielzahl roher Folterszenen. Er räumte später ein, er habe den Film nur gedreht, um seine Hochzeitsreise zu finanzieren. Sein Privatleben schirmt er ab.
Dann holte er drei Jahre lang aus – und landete nach Dreharbeiten in der südspanischen Landschaft um Almería mit einem relativ unbekannten US-amerikanischen Fernsehdarsteller in der Hauptrolle 1964 seinen ersten großen Erfolg; noch dazu in einem Genre, das als uramerikanisch galt: dem Western „Für eine Handvoll Dollar“ mit dem 34jährigen Clint Eastwood, der für gerade 15.000 Dollar verpflichtet wurde – Wunschstars wie Henry Fonda oder James Coburn waren viel zu teuer.
Da Leone nicht so recht darauf vertraute, dass das Publikum in dieser rein amerikanischen Domäne einen italienischen Film für glaubwürdig halten würde, nannte er sich Bob Robertson, eine Hommage an das Pseudonym seines Vaters. Auch einige der Darsteller nahmen englische Pseudonyme an. Die Sorge war unbegründet: Leones Film wurde ein Welterfolg. Obwohl er nicht der erste Italowestern war, etablierte er ihn doch als eigenständiges Subgenre zu einer Zeit, da dem US-Western merklich die Luft ausgegangen war – und dann -zig Leone-Kopien auf den Markt geworfen wurden.
Eine Originalleistung hatte Leone allerdings auch nicht erbracht – einen „genialen Parasit“ nennnt ihn die Tiroler Tageszeitung. Sein Film ist ein verkapptes Remake (manche reden von Plagiat) des japanischen Samurai-Films „Yojimbo, der Leibwächter“ (1961) von Akira Kurosawa. Die Hauptfigur von Kurosawas Film, einen Samurai-Krieger, transformierte Leone in einen Westernhelden. Kurosawa und sein Co-Autor strengten einen Copyright-Prozess an und erhielten unter anderem 15 % der weltweiten Einnahmen des Leone-Films. Leone kann nicht einmal die Idee für sich beanspruchen, einen Kurosawa-Film zum Western umzubauen, das hatte John Sturges mit „Die glorreichen Sieben“, einem Remake von Kurosawas „Die sieben Samurai“ (1953), bereits 1960 bewiesen.
„nicht nur für den Italowestern stilbildend“
Schon in diesem Streifen sind alle späteren Stilmittel des „romantischen Dekonstruktivisten“ (Georg Seeßlen in epd Film) angelegt, die den Inszenierungsstil des gesamten Genres revolutionierten und nicht nur für den Italowestern stilbildend wirkten: die ausgedörrte und feindliche Umgebung gleicht einer Vorhölle und hat nichts mit den Tälern, Bergen und der Weite des amerikanischen Westens gemein. Wenn die US-Western als Thema oft die Nutzbarmachung des Landes behandelten, die Verwandlung der Wüste in einen Garten, so ist bei Leone das Land wieder zur Wüste geworden und wird es auch in den Folgefilmen bleiben – ein Anti-Eden.
In der gesamten „Dollar“-Trilogie, die Leone mit den beiden Fortsetzungen „Für ein paar Dollar mehr“ (1965) und „Zwei glorreiche Halunken“ (1966) schuf, gibt es keine Versuche, den Boden zu bearbeiten, wir sehen nie auch nur einen einzigen Cowboy, eine Rinderherde oder eine Weidelandschaft. Auch Indianer, im Western sonst Signifikant der Wildnis, sind in Leones erster Trilogie, manchmal auch „Paella-“ oder „Schnelle“ Trilogie genannt, vollständig abwesend: die Wildnis und die Rohheit des Landes hat auf die Gesellschaft selbst übergegriffen. Ihr Erfolg galt als Ausdruck des grassierenden Zynismus der italienischen Gesellschaft und des Verfalls tradierter Werte und Normen hin zu den neuen, einzigen anerkannten „Werten“ Geld und Macht. „Der Held konnte sich ohne weiteres einen Vorteil verschaffen, wenn er das Prinzip der ‚ritterlichen‘ Waffengleichheit durchbrach“, erkannte Seeßlen.
Die stärkste der Verkehrungen des klassischen Westerns lag in seinen Protagonisten begründet: Statt des positiven Westernhelden, der Ritterfigur Amerikas, trat mit Eastwoods brutalem Revolvermann eine gewissenlose Söldnerfigur an. Nun war nicht mehr der Held zum Glück auch der beste Schütze, sondern der beste Schütze wurde zum Helden. In der Rolle des zynischen „Fremden ohne Namen“, der seinen Gegnern als Zigarillo rauchender Schießvirtuose in einem Poncho mit aufreizender Lässigkeit gegenübertritt, wurde Eastwood zu einem internationalen Star, ja einer Ikone der Popkultur, an dessen Typus sich unzählige Westerndarsteller in den Folgejahren orientierten. Leone selbst hielt anfangs nicht allzu viel von den schauspielerischen Fähigkeiten seines Hauptdarstellers: „Er hat zwei Gesichtsausdrücke: einen mit und einen ohne Hut.“ Ausgefeilte, zynische Dramaturgie zwischen Härte und Humor, brillante Kameraarbeit und perfekte Musik: das waren die Zutaten, die Leones Filme erfolgreich werden ließen.
Als Regisseur etabliert, bekam er für den letzten Teil der in nur drei Jahren abgedrehten „schnellen“ Trilogie ein Budget von 1,2 Millionen Dollar, was die Produktion eines epischen Westernfilms mit aufwändigen Szenenaufbauten und vielen Statisten ermöglichte. Clint Eastwood war zum dritten Mal als Kopfgeld- und Goldschatzjäger im Poncho zu sehen. Der Streifen avancierte zu einem Kultfilm, rangierte 2016 auf der Liste der besten Filme in der Internet Movie Database auf Platz 9 und gilt dort als bester Western aller Zeiten. Seit dieser Zeit drehte Leone nicht nur überlange Filme von mindestens 2 ½ Stunden, sondern diese auch mit einem festen Mitarbeiterstab. Drehbuchautoren wie Bernardo Bertolucci und Dario Argento wurden später selbst bekannt Regisseure.
Bedeutendstes Stab-Mitglied: sein Klassenkamerad Ennio Morricone, der ab 1964 in jedem Leone-Film für die Musik verantwortlich zeichnete. Er schuf Soundtracks, die sich fundamental von den traditionellen symphonischen Westernsoundtracks unterschieden, durch den Einsatz unkonventioneller Instrumente wie Maultrommel und Soundeffekte wie Kojotengeheul auffielen und zu den bekanntesten der Filmgeschichte wurden, die bis heute auch symphonisch aufgeführt werden. Da der „Verdi des Kinos“ seine Musik oft schon vor den Dreharbeiten fertig stellt, konnte Leone Szenen oder Kamerabewegungen genau auf sie abstimmen – eine eher seltene Technik.
„Gesicht, mit dem man eine Lokomotive stoppen könnte“
Endgültig als internationaler Star-Regisseur etabliert, erhielt er von Paramount die Chance, in Hollywood zu arbeiten, und kreierte aus Rache, Gier und Mord rund um den Bau einer Eisenbahnlinie die epische, opernhafte Prestigeproduktion „Spiel mir das Lied vom Tod“, die teils jahrelang in den Kinos lief. Darin bringt ein mundharmonikaspielender Revolvermann (Charles Bronson) einen sadistischen Schurken (Henry Fonda) unter Mitwirkung einer Prostituierten (Claudia Cardinale) zur Strecke. Leone wollte den verwitterten Bronson, weil „er ein Gesicht hat, mit dem man eine Lokomotive stoppen könnte“, und machte auch ihn zum Star. Dieser Streifen ging ebenfalls als Höhepunkt und Klassiker des Italowesterns sowie als Kultfilm in die Filmgeschichte ein.
Darin perfektionierte er die Grammatik seiner Filmsprache, das betraf sowohl seine gemäldehafte Symmetrie als auch die Wechsel von totalen Landschaftsaufnahmen mit Nahaufnahmen von Händen und Augen sowie die Wechsel von extrem langsamen und schnellen Schnitten. Unvergessen die fast zeitlupenartige Anfangssequenz, in der sich Jack Elam mit einer lästigen Schmeißfliege duelliert, Al Mulock seine Knöchel knacken lässt und damit zur Geräuschmusik beiträgt, oder Woody Strode unbewegt dasteht, einer Ikone des Stoizismus gleich, während auf seinen fast kahlgeschorenen Schädel rhythmisch die Wassertropfen eines lecken Tanks schlagen. Mulock beging übrigens während der Dreharbeiten Selbstmord, indem er in seinem Kostüm aus dem Hotelfenster sprang.
Der Film gilt als erster der zweiten, „langsamen“ oder auch „Amerika“-Trilogie Leones. Doch die Premiere wurde in Amerika zum Desaster und fiel an den Kinokassen durch, da die Produktionsfirma 25 der insgesamt 165 Minuten wegschneiden ließ. Damit war der Film seiner inhaltlichen Stringenz beraubt. Heute jedoch gilt der inzwischen wieder restaurierte Western als ein Highlight der Filmgeschichte, da sich eine 15 Minuten längere Version Jahre später bei den Erben Leones in Italien fand. Vor allem in Europa konnte der ungekürzt aufgeführte Film dagegen große Erfolge feiern, in Deutschland avancierte er mit 13 Millionen Zuschauern zu einem der erfolgreichsten Kinofilme.
Den Erfolg versucht Leone mit „Die Todesmelodie“ mit Rod Steiger als mexikanischer Bandit und James Coburn als irischer Berufsrevolutionär und Sprengstoffspezialist in den Hauptrollen fortzusetzen. Die Eröffnungsszene hat noch einen sozialrevolutionären Hintergrund, doch im Laufe der Handlung zerstört Leone jede Hoffnung auf politische Lösungen oder gar persönliches Glück. Was in einer Welt der Gewalt noch bleibt, ist die Männerfreundschaft bis in den Tod. Das Happy End vom „Spiel mir das Lied vom Tod“ fehlt. Der Film überzeugt 1972 durch originelle Ideen, unerwartete Wendungen und natürlich die einzigartige Musik von Morricone.
Dass der harte Italowestern als Genre trotzdem ausgedient hat, merkt Leone rasch und persifliert prompt seine eigenen überzogenen Charaktere in zwei Filmen mit Terence Hill, schreibt das Drehbuch für „Mein Name ist Nobody“ (1973) und führt Regie in „Nobody ist der Größte“ (1975). Parallel bereitete er sein Gangster-Epos „Es war einmal in Amerika“ vor, das auf Harry Greys Buch „The Hoods“ basierte und den dritten Teil seiner Amerika-Trilogie darstellt.
Der 12 Jahre später ins Kino gelangte Film erzählt auf drei Zeitebenen das Leben des jüdischen Gangsters Noodles (Robert De Niro), der während der Prohibitionszeit an der Seite seines Freundes Max (James Woods) Karriere macht, diesen dann aber an die Polizei verrät. Leone besuchte Grey dazu im Gefängnis. Besonders durch seine Rückblendenstruktur und seine Melancholie machte das Werk Furore, in dem Kritiker einen Abgesang auf die Ideale des „American Dream“ sahen. Der Film gilt als einer der großen Klassiker der 1980er Jahre, obwohl Leone nie die von ihm geplante Schnittfassung erstellen konnte. Unter Leitung von Martin Scorsese wurde der Streifen restauriert und 2012, bei den Filmfestspielen von Cannes, in einer um 25 Minuten verlängerten Fassung gemeinsam mit Leones Töchtern präsentiert. In den USA kam nur eine 139-minütige Version ohne Zeitsprünge heraus – wie es heißt, um die amerikanischen Hirne nicht über Gebühr zu strapazieren.
„romantische Sehnsucht nach dem Vergangenen“
Diese zweite Trilogie ist als Triptychon vom Werden Amerikas angelegt, aber eigentlich ein europäischer Traum von Amerika, also aus einer Perspektive, die Amerika als Legende begreift und als historischen Raum weitgehend ignoriert. Sie vereint die romantische Sehnsucht nach dem Vergangenen, den Traum der europäischen Emigranten von der Neuen Welt, die Projektion der Intellektuellen und der italienischen Antifaschisten während der Mussolini-Jahre, sowie den mythischen Westen, der in der Nostalgie des Cinephilen fortlebt, der seiner vom Kino genährten Phantasmen der Kindheit gedenkt, klagt Leone-Biograph Harald Steinwender. „Man kann die erste Trilogie auch als ‚Komödie der Feindschaft‘ bezeichnen und die zweite Trilogie eine ‚Tragödie der Freundschaft‘. Und wie die Feindschaft die Zeit zu verdichten scheint, so dehnt sie die Freundschaft“, meint Seeßlen.
Noch heute beschreiben viele Regisseure Leone als ihr großes Idol. Quentin Tarantino ist bekennender Liebhaber seiner Filme und lässt leonetypische Kameraeinstellungen in seine eigenen Filme einfließen. Obwohl er einige Streitigkeiten mit ihm gehabt hatte, widmete ihm Clint Eastwood seinen Oscar für die beste Regie von „Erbarmungslos“ (Unforgiven, 1992). In einer Moviepilot-Umfrage belegt er unter den „Besten Regisseuren aller Zeiten“ Platz acht.
Der stark übergewichtige Leone starb am 30. April 1989 im Alter von 60 Jahren an einem Herzinfarkt, als er gerade an einem Film über die Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg arbeitete. „Leningrado“ sollte, frei auf Harrison Salisburys „The 900 Days – The Siege of Leningrad“ (1969) basierend, die Schlacht um Leningrad im Zweiten Weltkrieg als italienisch-sowjetische Koproduktion auf die Leinwand bringen. Es wäre sein erster Film seit „Der Koloss von Rhodos“ geworden, der wieder auf dem europäischen Kontinent gespielt hätte. So bleibt an und von ihm doch etwas Unvollendetes.