„ihre Vorurteile trübten ihren Scharfblick“
21. Mai 2019 von Thomas Hartung
„Die Welt ist für mich zu Ende! Wenn ich doch weiterleben muss, so ist es um unserer vaterlosen Kinder Willen (…) Sein Edelmut war zu groß, sein Streben zu hoch für diese elende Welt! Sein Geist lebt nun in der Welt, die er verdient!“ Die so um ihren Mann trauernde Witwe hatte mit ihm neun Kinder und sollte für die restlichen 40 Jahre ihres Lebens traumatisiert und verborgen bleiben: Victoria, Königin von England. Am 24. Mai vor 200 Jahren wurde sie geboren. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht herrschte sie über ein Fünftel der Erde und ein Drittel der Weltbevölkerung.
Der Nachwelt gilt die Königin als Symbol des Empire, und ihre fast 64-jährige Regentschaft, die erst ihre Ururenkelin Elisabeth II. ab dem 9. September 2015 zeitlich übertreffen sollte, als eigene Epoche der englischen Geschichte, als Viktorianisches Zeitalter: Die Blütezeit des englischen Bürgertums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihre Allgegenwart bis heute verdankt sich vielerlei Einflüssen. Zum einen ihrer Eigenschaft als „Großmutter Europas“, denn viele ihrer 40 Enkel und 88 Urenkel werden auf den Thronen des Kontinents Platz nehmen. Zum anderen werden ihr auch alle sozialen Erleichterungen für die Arbeiterschaft zugeschrieben, so das 1842 ausgesprochene Arbeitsverbot von Kindern unter 10 Jahren in Kohleminen oder der Bau erster Arbeitersiedlungen mit Spültoiletten und fließendem Wasser, obwohl die wesentlich von ihrem Gemahl initiiert wurden.
Zum weiteren der Unzahl an überlieferten privaten Ereignissen, ja Schnorren. So litt sie als Kind an einer krankhaften Phobie vor Bischöfen, überlebte sieben Attentate und ließ sich in einem weißen Kleid mit ihrem Brautschleier beerdigen. Und nicht zuletzt steht sie dem retrofuturistischen Kulturtrend „Steampunk“ Pate, der fiktionale technische Funktionen mit mechanischen Materialien des oft idealisierten viktorianischen Zeitalters verknüpft, das von der industriellen Revolution seit der ersten Dampfeisenbahn geprägt war und 1851 die erste Weltausstellung hervorbrachte, in der sich Großbritannien als größte industrielle, Handels-, Finanz- und Kolonialmacht präsentierte.
„fett wie ein Rebhuhn“
Victorias Geburt fiel in eine Krise der Erb- und Thronfolge. Hinter ihren drei kinderlosen Onkeln väterlicherseits sowie dem eigenen Vater stand sie zunächst an fünfter Position. Für damalige Verhältnisse ungewöhnlich, wurde die Prinzessin unmittelbar nach der Geburt gegen Pocken geimpft und von ihrer Mutter Victoria von Leiningen, geborene Prinzessin von Sachsen-Coburg, selbst gestillt. Der Vater Edward Augustus, Duke of Kent, schrieb an seine Schwiegermutter nach Coburg, das Mädchen sei „fett wie ein Rebhuhn“. Er starb acht Monate nach der Geburt.
Victoria, in Familienkreisen „Drina“ genannt, galt als willensstarkes, robustes Kind, das gelegentlich in Tobsuchtsanfälle ausbrach. 1824 wurde die deutsche Baronin Louise Lehzen Gouvernante in Kensington Palace und war fortan für die Erziehung Victorias verantwortlich; fünf Jahre später der Hauslehrer George Davys, der spätere Bischof von Peterborough. Ihr Programm umfasste täglich fünf Unterrichtsstunden an sechs Wochentagen mit den Schwerpunkten Bibelkunde, Geschichte, Geographie und Sprachen. Später kamen Tanzen, Malen, Reiten sowie Klavierunterricht dazu. Sie galt als lernfaul und wurde auf eine Rolle als Monarchin bewusst nicht vorbereitet. Einzig ihr Onkel, der belgische König Leopold I., beriet seine Nichte in Briefen, empfahl ihr Bücher und Manuskripte, die sie auf die Thronübernahme vorbereiten sollten, und wurde von ihr als „bester und gütigster Ratgeber“ bezeichnet.
Da einer der Hofbeamten, John Conroy, bei ihrer Thronbesteigung auf Einfluss spekulierte, redete er ihrer Mutter ein, dass das Leben der Tochter durch mögliche Mordanschläge gefährdet sein könnte. Victoria wuchs, abgeschirmt von der Außenwelt, daher weitgehend ohne Sozialkontakte auf. Es war ihr nicht einmal gestattet, eine Treppe ohne Begleitperson hinunterzugehen. Zeitlebens war sie überzeugt, eine unglückliche Kindheit erlebt zu haben: „Keinen Auslauf für meine starken Gefühle und Zuneigungen, keine Brüder und Schwestern, mit denen ich leben konnte“ schrieb sie später ihrer ältesten Tochter. 1832 begann sie Tagebuch zu führen. Als sich die 16-jährige trotz enormen Drucks sowie einer überstandenen schweren Erkrankung (vermutlich Typhus) weigerte, Conroy zum Privatsekretär zu ernennen, kam es zum vollständigen Bruch mit ihrer Mutter.
Gerade volljährig geworden, wurde sie am 28. Juni 1837 zur Königin von Großbritannien und Irland gekrönt – acht Tage zuvor war König Wilhelm IV., ihr Onkel, an einer Lungenentzündung gestorben. Schon 1836 hatte sie ihren Cousin, den deutschen Prinzen Albert von Sachsen-Coburg-Gotha kennengelernt. In einem Brief an Leopold I., der das Kennenlernen hintersinnig organisiert hatte, schwärmte sie von dem zwei Jahre Älteren und schrieb, er besäße jede Eigenschaft, um sie vollkommen glücklich zu machen. 1839 verlobte sich die junge Königin mit Albert, heiratete ihn am 10. Februar 1840 und bekommt neun Monate später ihre erste Tochter, Kronprinzessin „Vicky“ (Victoria).
Bis heute wird kolportiert, dass Victoria ihrem Albert einen Antrag machen musste – andersherum wäre es aufgrund ihres Ranges unangemessen gewesen. Die Ehe war trotz nicht ausbleibenden Streits überaus glücklich, vor allem Victoria schien von ihrem angebeteten Mann nicht genug zu bekommen. Sie fand Babys jedoch hässlich, nannte sie „froschartige Wesen“ und hatte einen „unüberwindbaren Ekel“ vor dem Stillen, weshalb sie es auch ihren Töchtern verbieten wollte. Die hielten sich nicht dran und wurden von ihr prompt „Kühe“ tituliert. Victoria schien zu Alberts Lebzeiten nur wenig an ihren Kindern interessiert zu sein – höchstens daran, sie zu Ebenbildern ihres vergötterten Vaters zu formen. Prinz Albert dagegen nahm, ungewöhnlich für jene Zeit und Schicht, großen Anteil am Leben seiner Kinder und tollte mit ihnen durchs Kinderzimmer.
„Wie bereue ich es, dass ich kein Mann bin“
In Albert hatte Viktoria aber nicht nur einen Gatten, sondern auch einen politischen Berater, der sich trotz mancher Widerstände von außen – schließlich war er Deutscher – überaus aktiv an den Alltagsgeschäften der Königin beteiligte, ja als besserer Privatsekretär agierte. Innenpolitisch herrschte seit den frühen 1830er Jahren heftiger Dauerstreit, im Parlament lösten sich liberale und konservative Regierungen regelmäßig ab. Zankapfel waren die sozialen und politischen Reformen: Arbeitsrecht, Sozialfürsorge, Bildung, das Parlament selbst.
Als Hauptkontrahenten standen sich Robert Peel und Lord Palmerston gegenüber, später Benjamin Disraeli und William Gladstone. 1841 hatte Albert seine Gattin von der konservativen Politik Peels überzeugt, so dass sie die Seiten wechselte. Mit ihrem Gatten teilte Viktoria zudem die Ansicht, der Monarch sei nicht nur zum Repräsentieren da, und forderte das Mitspracherecht der Krone vor allem in außenpolitischen Angelegenheiten: Ein Anliegen, das der Liberale Palmerston, von 1846 bis 1851 Außenminister und später zweimal Premier, allerdings geflissentlich überhörte.
1843 besucht sie als erste britische Herrscherin seit Heinrich VIII. Frankreich, 1845 Deutschland. 1848 floh die Königin mit den Kindern vor den Chartisten-Unruhen auf die Insel Wright. Im verlustreichen Krimkrieg 1853 – 1856, durch den endgültig das auf dem Wiener Kongress 1815 geschaffene politische System zerfiel, entdeckte Victoria ihre landesmütterliche Fürsorgepflicht für die Armee, zeigte Mitleid und persönliche Anteilnahme für ihre Soldaten, indem sie den Anstoß zu einer Militärreform gab und die Erneuerung des Lazarettwesens unterstützte. Sie stiftete das Victoria-Kreuz, mit dem erstmals Nichtoffiziere ausgezeichnet werden konnten, zeigte aber eher naive Begeisterung: „Wie bereue ich es, dass ich kein Mann bin und im Krieg kämpfen darf. Es gibt für einen Mann keinen schöneren Tod als auf dem Schlachtfeld zu fallen.“ Weder die ersten beiden Anglo-Afghanischen Kriege noch die beiden Burenkriege konnten ihr Image beschädigen.
Nachdem das Parlament Alberts Ernennung zum Prinzgemahl (Prince Consort) mehrfach abgelehnt hatte, verlieh ihm Victoria am 25. Juni 1857 diesen bevorrechtigten Titel selbst. Im Spätherbst 1861 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand, der königliche Leibarzt William Jenner diagnostizierte Typhus, ein heute umstrittener Befund. Albert verstarb in Anwesenheit Victorias sowie fünf der neun gemeinsamen Kinder am 14. Dezember 1861. Für den Tod machte Victoria ihren ältesten Sohn „Bertie“ verantwortlich. Der leichtlebige und ausschweifende Thronfolger war in eine unstandesgemäße Liebesaffäre mit einer Schauspielerin verwickelt, weshalb der kranke Albert Ende November zu einer langen Aussprache mit ihm reiste, die in strömendem Regen stattgefunden haben soll.
„Gestern oder vorgestern waren wir da und da“
Auf ausdrücklichen Wunsch der Königin wurde Albert im Royal Mausoleum von Frogmore im Park von Windsor beigesetzt, das Victoria eigens für sie beide in Auftrag gegeben hatte und in dem sie später selbst zur Ruhe gebettet wurde. Sein Tod traf sie tief. Sie zog sich fast vollständig aus dem öffentlichen Leben zurück, trug bis an ihr Lebensende Witwenkleidung und ließ die Gemächer Alberts täglich herrichten, als wäre er noch am Leben. Sie schlief mit seinem Schlafanzug neben sich ein und fragte sein Portrait um Rat, bevor sie wichtige Verträge unterzeichnete. In Form der Royal Albert Hall und dem Albert Memorial gab Victoria den Auftrag zur Errichtung einer nationalen Gedenkstätte.
Vor Alberts Tod war Viktoria eine lebenslustige Frau, die auch einem mitternächtlichen Kartenspiel nicht abgeneigt war. Sie lachte laut und herzlich. Doch mit Alberts Tod wich alle Freude aus ihrem Leben, was sich auch auf das Land übertrug, das buchstäblich mit seiner Monarchin mittrauerte. Victoria reagiert 1864 auf Vorwürfe aus der Bevölkerung und verspricht in einem offenen Brief in der Times, wieder in größerem Maße öffentlich tätig zu werden. Erst am 6. Februar 1866 trat sie zur Eröffnung des Parlaments, das sie „Staatstheater“ nannte, wieder öffentlich in Erscheinung.
Durch die jahrelange öffentliche Abwesenheit wurde die „Witwe von Windsor“ zu einer etwas wunderlichen Einsiedlerin, einer entrückten Gestalt, ehrfurchtgebietend und über ein weltumspannendes Imperium herrschend, was den Befürwortern einer Republik zeitweise großen Zulauf verschaffte. Der Verfassungsrechtler Walter Bagehot schrieb: „Aus unschwer zu benennenden Gründen hat die Königin durch ihren langen Rückzug aus dem öffentlichen Leben der Popularität der Monarchie fast ebenso großen Schaden zugefügt, wie der unwürdigste ihrer Vorgänger es durch seine Lasterhaftigkeit und Leichtfertigkeit getan hat“. Dennoch hatte sie nun die Selbstsicherheit, als selbständige konstitutionelle Monarchin zu regieren und unverblümt mit ihrer Abdankung zu drohen, wann immer sie ihren politischen Willen gegen den jeweiligen Premierminister durchsetzen wollte.
Außenpolitisch wurde sie durch die beiden Opium-Kriege mit China, die Eröffnung des Suez-Kanals und die Krönung als Kaiserin von Indien gestärkt. Letztere Zeremonie warf erneut ein bezeichnendes Licht auf ihren Charakter: da 1871 der Schwiegervater ihrer ältesten Tochter deutscher Kaiser wurde, was bedeutete, dass Vicky eines Tages Kaiserin sein würde, Victoria aber im Rang nicht unter ihrer Tochter stehen wollte, musste Premier Disraeli ihre Ausrufung als Kaiserin von Indien vorantreiben.
Auch sonst blieb ihr Verhältnis zu vielen Kindern ambivalent: Prinzessin Louise etwa lehnte sich gegen die Mutter auf, indem sie sich der Bildhauerei widmete, die sie ab 1868 an der nationalen Kunstschule als eine der ersten Frauen studierte. Sie schloss das Studium erfolgreich ab und wurde die erste Bildhauerin, von der eine Statue öffentlich aufgestellt wurde: Das Bildnis von Königin Victoria, ihrer Mutter, steht noch heute vor dem Kensington Palace. Kanada, in dem Louise mit ihrem Ehemann einige Jahre gelebt hatte, benannte seine Provinz Alberta und den darin liegenden Lake Louise nach der eigensinnigen Prinzessin.
Daneben war Victoria die erste bekannte Überträgerin der Erbkrankheit Hämophilie (Bluterkrankheit), die sie an zahlreiche ihrer Nachkommen weiter vererbte, darunter an ihren Urenkel Alexei Nikolajewitsch Romanow, den letzten Zarewitsch, aber auch an ihren Sohn Prinz Leopold, der 30-jährig starb. Einige Lebensjahre fand sie Freude an ihrem sieben Jahre jüngeren Stallknecht und langjährigen Diener John Brown. Die Boulevardpresse machte ihn zum Ziel grausamer Scherze und streute Gerüchte, dass er Victorias Geliebter oder sogar heimlich mit ihr verheiratet gewesen sei. 1883 starb er; eine Locke von ihm begleitete sie später in ihren Sarg.
Zu ihrem Goldenen und Diamantenen Thronjubiläum 1887 und 1897 kommen zahlreiche europäische Fürsten. Zum Weihnachtsfest 1900 plagt die 81-Jährige Rheuma, sie ist vom Grauen Star fast blind und fühlt sich schwach und schwindlig. Am 22. Januar 1901 stirbt sie in den Armen ihres Lieblingsenkels Kaiser Wilhelm II. und ihres ältesten Sohnes Albert Eduard, der als Edward VII. ihr Nachfolger wird. Er gehört laut Erbrecht zum Geschlecht seines Vaters, Sachsen-Coburg und Gotha, das bis heute herrscht, seit dem Ersten Weltkrieg unter dem Namen Windsor.
Im Gegensatz zu ihren Vorgängern hatte Victoria ein von Moral und persönlichem Anstand geprägtes Leben geführt und Zurückhaltung in der Öffentlichkeit gezeigt. Ihre Ehe galt den Zeitgenossen als Vorbild familiärer Eintracht und Harmonie, für die wohlhabende Mittelschicht als moralisch gefestigtes Wunschbild des eigenen Lebens. Parallel dazu hatte Victoria die Monarchie rehabilitiert und die Königsfamilie wieder zur angesehenen, die Gesellschaft verbindenden Instanz erhoben und emotional im Volk verankert.
Sie galt allerdings auch als aufrichtig bis zur Taktlosigkeit. Mit zunehmendem Alter erhielt diese Ehrlichkeit und Offenheit einen Anstrich von Nonchalance und Unberechenbarkeit; anscheinend war es ihr nicht möglich, sich in die Gefühle anderer zu versetzen. Tochter Beatrice, die zuletzt die Korrespondenz ihrer Mutter geführt hatte, verbrannte nach deren Tod große Teile des Tagebuchs und des Briefwechsels – sie wollte, dass die Nachwelt sich nur an die guten Seiten ihrer Mutter erinnerte, nicht an die kontrollsüchtige Egoistin, die sie zuletzt geworden war.
Der schwedische Historiker Herbert Tingsten bilanziert treffend: „Vitalität, Aufrichtigkeit, Strebsamkeit und Impulsivität waren ihre starken Seiten. Victorias Intelligenz erweist sich außerdem in ihren blitzschnellen und lebhaften Meinungsäußerungen. Fast alles, was sie geschrieben hat, liest man mit großem Interesse. Man ist fasziniert von der Art sich auszudrücken. Aber scharfsinnige, logische und wohldurchdachte Gespräche zu führen, das vermochte sie nicht. Victorias Eigensinn, ihre Vorurteile trübten ihren Scharfblick. Sie wäre sicherlich eine geschätzte und geachtete Persönlichkeit gewesen, wo das Leben sie auch hingestellt hätte, aber sie hätte sicherlich keine geschichtlich bedeutende Rolle gespielt, wenn sie nicht als Königin von England zur Welt gekommen wäre.“