„den bösen Bann gebrochen“
1. Mai 2019 von Thomas Hartung
Das Jahr 1959 war das bislang beste für die deutsche Nachkriegsliteratur. Nicht nur, weil Siegfried Unseld die Leitung des Suhrkamp-Verlags übernahm und Marcel Reich-Ranicki seine Kritikerkarriere in Deutschland begann. Sondern, weil Heinrich Böll mit „Billard um halbzehn“ eins seiner Hauptwerke veröffentlichte, der junge Uwe Johnson mit „Mutmaßungen über Jakob“ erstmals mit einem Roman an die Öffentlichkeit trat… und dann noch Günter Grass war, der im Verlag Luchterhand einen Roman publizierte. So unerhört, dass er unter Deutschlands Kritikern „Schreie der Freude und Empörung“ hervorrufen werde, mit dem Deutschland aber wieder das „Klassenziel der Weltliteratur“ erreiche, wie im November 1959 Hans Magnus Enzensberger prophezeite. Gemeint ist „Die Blechtrommel“, die neben ihrem 60. Erscheinungsjahr auch das 40. Premierenjahr ihrer Verfilmung feiert: am 3. Mai 1979 kam der Streifen in zunächst 55 Kinos, nochmals fünf Jahre später ins Fernsehen.
Enzensberger sollte Recht behalten: „Die Blechtrommel“ katapultierte Grass von einem Tag auf den anderen nicht nur in die Riege der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts, sondern sorgte zugleich auch für einen politischen Skandal: Kirchen und Soldaten gingen gegen das Buch auf die Barrikaden, nannten es „blasphemisch“ und „jugendgefährdend“. Als Grass den Literaturpreis der Stadt Bremen erhalten sollte, legte der Bremer Senat sein Veto ein. Akademie-Sekretär Horace Engdahl meinte 1999 in seiner Nobelpreis-Laudatio auf Grass, der Autor habe mit seiner literarischen Arbeit den „bösen Bann gebrochen, der über Deutschlands Vergangenheit lastete“. Die Blechtrommel sei die „Wiedergeburt des deutschen Romans im zwanzigsten Jahrhundert“ gewesen.
Literaturgeschichtlich gesehen war es der experimentell-expressionistische Stil der „Blechtrommel“, der Generationen von Autoren auch im Ausland beeinflussen sollte: Salman Rushdie, John Irving, Nadine Gordimer, Kenzaburo Oe – sie alle bestätigten, dass es die Hauptfigur mit ihrer Kindertrommel gewesen sei, die sie in ihrem Schreiben motiviert und inspiriert habe. „Die Blechtrommel ist der größte Roman eines lebenden Autors“, urteilte Irving 1982. Aber, so Irving weiter: Auch Grass selbst habe dieses erste Werk nicht mehr übertroffen – was den Autor bis ans Ende nachhaltig ärgerte. Denn an weiteren großen oder viel diskutierten Werken mangelt es ihm nicht: Die Vollendung seiner mit der „Blechtrommel“ begonnenen „Danziger Trilogie“ mit „Katz und Maus“ und „Hundejahre“, der „Butt“, die „Rättin“ oder sein halb-autobiografisches Werk „Beim Häuten der Zwiebel“, das 2006 wegen des Autors Bekenntnis, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, für Schlagzeilen sorgte.
jeder Verantwortung entziehen
Grass erzählt die Geschichte eines kleinwüchsigen Monstrums namens Oskar Matzerath, das mit einer Mischung aus kindlicher Naivität und perfider Boshaftigkeit, mit vor Kraft strotzendem Ausdruck und tabuloser Detailfreude nicht nur das literarische Deutschland durcheinanderwirbelte: Das Buch wurde in über 50 Sprachen übersetzt. Es ist die Geschichte eines frühreifen Jungen, der 1927 mit drei Jahren beschließt, nicht mehr zu wachsen – ein arrangierter Sturz von der Kellertreppe liefert dafür die vermeintliche Erklärung. Ein Junge, dessen Stimme Glas zerspringen lässt, der mit seiner Blechtrommel, einem Geburtstagsgeschenk, den Menschen seinen Willen aufzuzwingen vermag – und dabei einen Bogen über fünf Jahrzehnte deutscher Geschichte spannt.
Die Perspektive eines Zwergs mit allen Vorteilen einer überschaubaren Größe auf das fatale Geschehen der Welt – vor dem Zweiten Weltkrieg bis zu den Aufbaujahren der jungen Bundesrepublik – ist einzigartig. Als höhnischer Störenfried hockt er unter Tischen und beobachtet dort Heikles, ja Obszönes, er kriecht unter Tribünen und gibt mit seiner Trommel Nazi-Aufmärschen Walzertakte vor. Oft ist er auch Beobachter am Rande, klug, gewitzt und manchmal auch unmoralisch: Mit Oskar feiert der Schelm seine spektakuläre Wiedergeburt in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. In der Geschichte, die im Film auf einem Kartoffelacker in der Kaschubei beginnt, artikuliert er seinen Protest gegen die verlogene, intrigante Welt der Erwachsenen, die sich ihm einerseits in diversen Sex-Affären seiner Familienmitglieder, andererseits im Terror der Nazis offenbart.
Und gegen das Verdrängen des Naziterrors in der jungen Bundesrepublik schrieb Günter Grass an, gegen das Verschweigen ließ er seinen Oskar trommeln, der selbst zum Sinnbild des deutschen Kleinbürgers der Nachkriegszeit wird: Das genaue Gegenteil des heldenhaften riesigen Herkules, mit dem sich die Deutschen zuvor so gern identifizierten. Ein intelligenter Erwachsener beschließt, Kind zu bleiben, um sich so jeder Verantwortung entziehen zu können, obgleich er selbst mehrfach zum Mörder wird – so steckt er seinem Vater Alfred Matzerath dessen Parteiabzeichen zu, just in dem Augenblick, als er von russischen Soldaten kontrolliert wird. Erst nach dem Krieg beginnt Oskar wieder zu wachsen, doch er bleibt deformiert: Die Zeit der Verweigerung, sich der Realität zu stellen, hat ihre Spuren hinterlassen.
Gleichzeitig ist Oskar das Brennglas, unter dessen vermeintlich kindlicher Perspektive Grass schonungslos die Verführbarkeit und die Unzulänglichkeit der Menschen in Weimar und unter den Nationalsozialisten aufzeigt. Er seziert ihre Schwächen in Großaufnahme, mit jedem ekelerregenden Detail – etwa beim Tod von Oskars Mutter Agnes oder der ungezügelten Sexualität seiner Stiefmutter Maria. Gleichzeitig thematisiert Grass aber auch die allzu schnelle Re-Integration von Amtsträgern und Kriegsverbrechern der Nazi-Zeit: ein Obergefreiter, der den Mord an mehreren Nonnen in der Normandie befehligte, gelingt der Aufstieg zum etablierten Maler – von Nonnenbildern.
Diese Zuspitzungen bis an die Grenze des Perversen mussten schockieren. Denn zum einen hatte es in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur solch eine tabubrechende Sprachgewalt noch nicht gegeben, zum anderen war ihre Aussage an jeden einzelnen gerichtet. Grass nahm der Nazizeit das Dämonische, sah den kleinbürgerlichen, angeblich immer hilflosen Mitläufern und -tätern auf die Alltagsfinger und verwob deren Schicksal mit der Weltgeschichte in vielen kleinen Episoden. Er forderte zur Auseinandersetzung mit der jeweils individuellen Schuld der deutschen Bürger auf. Nicht wenige, nein, das deutsche Volk in seiner Gesamtheit habe den Nationalsozialismus mit allen seinen schrecklichen Auswirkungen mitgetragen, das war Oskars Botschaft. Dieser Aufarbeitung weiter aus dem Wege zu gehen, war mit einem Trommelschlag unmöglich geworden.
„Zuhören, zuschauen, Vertrauen ausstrahlen“
Grass hat sich lange gesträubt, den Roman für das Kino freizugeben. Einen amerikanischen Produzenten, der allen Ernstes vorschlug, den zwergenwüchsigen Oskar der Vermarktbarkeit wegen in einen Helden von normaler Statur zu verwandeln, setzte er kurzerhand vor die Tür. „Ein gewisser Irrwitz gehört indessen wohl dazu, wenn jemand sich anschickt, dieses vielköpfige Monstrum aus realistischer Erzählkunst und ausufernder Phantastik, Parabel und Groteske, diesen Entwicklungsroman, der alle Entwicklungsromane verhöhnt, auf die Leinwand zu bringen“, erklärt Hans C. Blumenberg in der ZEIT.
Altproduzent Franz Seitz („Die Lümmel von der ersten Bank“) bekam den Zuschlag und wurde rasch mit Volker Schlöndorff einig, für den er schon 1965 die Musil-Verfilmung „Der junge Törless“ produziert hatte. Nun machten sich beide auf die Suche nach Klein Oskar und wurden nach Besuchen von Zirkusvorstellungen, Lilliputanertreffen und dem Kongress für Kleinwüchsige beim Münchner Medizin-Professor Otfried Butenandt fündig, der sie auf einen seiner kleinsten Patienten aufmerksam machte: den zwölfjährigen David Bennent, dessen gehemmtes Wachstum – er misst 1,17 Meter und kann im günstigsten Fall 1,55 Meter groß werden – die Ärzte als Nanosomie bezeichnen. Der Sohn des Münchner Schauspielers Heinz Bennent, der in der „Blechtrommel“ einen Gemüsehändler spielte, erweist sich als Idealbesetzung. Für den Böse-Wicht bringt er nicht nur die gnadenlos neugierigen Glubschaugen und in seinem Benehmen die altkluge Chuzpe mit, sondern hat auch den treffenden Tonfall: Sein Deutsch wirkt kindlich arrogant näselnd, da er vorwiegend französisch erzogen wurde.
Schlöndorff fragt sich in seinem Tagebuch des „Blechtrommel“-Films am 20. Oktober 1978, „worin Regietätigkeit in meinem Falle eigentlich besteht. Zuhören, zuschauen, Vertrauen ausstrahlen, Kontinuität wahren, Vorschläge anhören und einarbeiten, zusammenhalten, was sich einmal durch lange Auswahl und Vorarbeit zusammengefügt hat: Darsteller, Szenen, Schauplätze. Wenig Kreatives, eigentlich nur Ordnendes und Wahrendes. Keine charismatische Persönlichkeit – doch was würde eine solche aus der ‚Blechtrommel‘ machen?“
Mit Mario Adorf, Katharina Thalbach oder Charles Aznavour hatte er aber durchaus charismatische Persönlichkeiten verpflichtet. Adorf lässt im Berliner Kurier lachend die Sex-Szenen Revue passieren: „Ich erinnere mich noch, dass Katharina Thalbach sich mit einem schwarzen Pflaster zugeklebt hat, weil sie ja nackt war. Und da ich auch nackt war, klebte ich sozusagen an ihrem…“ Außerdem verriet er, dass Günther Grass damals ins Studio kam und Ratschläge gab. So habe er zu einer heftigen Sexszene etwa erklärt: „Adorf, das ist keine Liebesszene. Das ist eine brutale Fast-Vergewaltigung, eine Rammelei.“
Zentrale Szenen des in 15 Wochen realisierten Films entstanden in Berlin, so diente als die Straße in Danzig, in der der Blechtrommler aufwächst, die Neuköllner Uthmannstraße. Der Brand der Danziger Synagoge wurde in der Weddinger „Wiesenburg“ in der Wiesenstraße gedreht. Sonst ließ Schlöndorff Oskar auf den Originalschauplätzen des Romans trommeln, in Grass‘ Danziger Heimat, wo er sogar mit polnischen Statisten die Vertreibung der Deutschen nachstellte. Die Naziaufmärsche mit Massen in brauner Uniform und Hakenkreuzfähnchen mochte er allerdings den Polen nicht zumuten und drehte das „Sieg-Heil“-Geschrei in Jugoslawien.
„Beschaulicher Naturalismus hat keine Chance“
Schlöndorff nahm nur das erste und zweite von drei Büchern des Romans in den Film auf und verzichtete zugunsten einer linearen Handlung auf die Rahmenerzählungen, wodurch er sich viele Rückblenden und Handlungssprünge ersparte. Außerdem entschied er sich für oft ans Groteske reichende, ja symbolistische Szenen: wie mit einem Pferdekopf Aale gefangen werden, die vorher mit feinen Nadelstichen angenäht worden waren und bei deren Anblick Agnes erbrechen muss; wie Oskar mit einer Christusfigur in der Kirche spricht oder eingespeicheltes Brausepulver vom Körper des Kindermädchens leckt. An den Produktionskosten von 7,5 Millionen Mark, für deutsche Verhältnisse eine Mammutsumme, beteiligte sich die amerikanische Majorcompany United Artists über ihre deutsche Produktionsfirma Artemis mit einer Million.
Das Feuilleton überschlug sich: War damit „Papas Kino“ nun tot, hatte der „Neue Deutsche Film“ gesiegt? Blumenberg erkennt ein „schönes Chaos“: „Beschaulicher Naturalismus hat keine Chance, sich einzuschleichen, allzu drastisch prallen Horror- und Heimatfilm, Slapstick und heroisches Drama, kleinbürgerliches Satyrspiel und politische Satire aufeinander“. Es war der erste deutschsprachige Film, der 1980 mit einem „Oscar“ ausgezeichnet wurde – trotz des Vorwurfs, er würde Kinderpornografie zeigen. Die Klage wurde in letzter Instanz abgewiesen – unter anderem mit der Begründung, dass der Film ein „echtes Kunstwerk“ sei. Bis 1982 gewann er zwischen Cannes und dem Japanese Academy Award sehr viel von dem, was ein Film in dieser Welt gewinnen kann.
Daneben sorgte „Die Blechtrommel“ aber auch für Kontroversen: 1997 wollten christliche US-Fundamentalisten den Film wegen „pädophiler Szenen“ (allerdings vergeblich) vor Gericht verbieten lassen, und 2013 verboten ihn chinesische Behörden, ließen ihn aber immerhin einmalig im Rahmen eines Festivals laufen. Zudem gibt es auch in Deutschland verschiedene Filmfassungen: Im Kino war der Film 150 Minuten lang, in den USA 135, die ARD kürzte den Film auf etwa 140, während die 2014 erschienene „Director’s Cut“-Version eine Lauflänge von 163 Minuten besitzt. Die „politische Zuspitzung und der größere surrealistische Touch“ machten diese Version lohnenswert, meint Christiane Peitz im Tagesspiegel.
David Bennent hat sich bis heute standhaft geweigert, eine Fortsetzung zur Vollendung des 3. Buchs zu drehen: „Ich habe Volker immer gefragt: Wie willst du das steigern?“, erklärt er in der WELT. „Weißt du überhaupt, was man von uns erwartet? Dieser Gefahr wollte ich mich zugegeben nicht gern ausliefern. Und dann wäre ich auch endgültig abgestempelt gewesen. Und wenn das schief gelaufen wäre, hätte ich mir vielleicht einen neuen Beruf suchen können.“
Darüber ist Blumenberg sicher nicht böse: „Ein beunruhigend passiver Anarchist, dessen Hass und dessen Stimme dennoch gewaltig sind. Man hat Angst vor ihm in diesem Film“, gestand er sein Unbehagen ob des Hauptdarstellers. Und als Schlöndorffs 18-jährige Tochter „Die Blechtrommel“ auf der Münchner Premiere des „Director’s Cut“ zum ersten Mal sah, fand sie den Film gruselig. „Wegen der Aale?“, fragte ihr Vater. „Nein, wegen der Augen von Oskar“. In ihnen flackert der Irrsinn jener Zeit. Etwas, das die Nachgeborenen bis heute verstört.