Wenn der Filmsex verschwindet
18. Mai 2019 von Thomas Hartung
Nicht einmal die Simpsons wollen noch etwas mit ihm zu tun haben. Eine alte Folge der Zeichentrickserie, in der Michael Jackson einem Psychiatriepatienten die Stimme leiht, soll künftig nicht mehr ausgestrahlt werden. Die Modemarke Louis Vuitton hat Teile ihrer aktuellen Herrenkollektion zurückgezogen, die von Jacksons Stil inspiriert war. Und viele Radiosender auch in Deutschland boykottieren seine Songs, seit der Dokumentarfilm „Leaving Neverland“ am 6. April auf ProSieben lief und in dem zwei Männer erzählen, wie sie als Kind von Jackson sexuell missbraucht wurden. Lange schon standen solche Vorwürfe im Raum, doch erst jetzt, im Schwung der #MeToo-Bewegung, scheint sich ein kultureller Bann über den Beschuldigten auszubreiten.
Jacksons Fall ist vor allem darum perfide, weil sich der Betroffene nicht mehr wehren kann. Der Medienanwalt Sven Krüger bringt die Causa in der Zeit in Bezug auf einen namenlosen aktuellen deutschen Mandanten auf den Punkt:
„Stellt er sich den Vorwürfen, um sie zu entkräften, verschlechtert er seine Chancen, dass die Gerichte ihn vor Namensnennung und publizierter Häme schützen. Schweigt er aber, um diesen rechtlichen Schutz nicht zu gefährden, verspielt er die Chance, seine Sicht der Dinge deutlich zu machen – und manche, die ihn, auch ungenannt, erkannt haben, legen ihm nun sein Schweigen womöglich als Schuldeingeständnis aus.“
Nach Angaben der unabhängigen Antidiskriminierungsstelle des Bundes seien die Beratungsanfragen zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zwischen 2016 und 2018 von 91 auf 193 Fälle gestiegen. Die Betroffenen sind größtenteils weiblich. „Durch #MeToo hat der alte Konflikt zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Schutz des Verdächtigten eine neue Dimension gewonnen. Die Wucht dieser Debatte droht das mühsam austarierte System des Ausgleichs zwischen Persönlichkeitsrecht und Meinungsäußerungsfreiheit aus dem Lot zu bringen“, konstatiert Krüger zähneknirschend mit Blick auf die Unterhaltungsbranche.
Mindestens in Australien hat sich die Justiz jetzt sensibel gezeigt: Ein Gericht in Sydney sprach dem australischen Oscar-Preisträger Geoffrey Rush Mitte April umgerechnet 540 000 Euro Schadenersatz zu. Der zuständige Richter Michael Wigney urteilte, dass der Daily Telegraph 2017 nicht mit der erforderlichen Sorgfalt gearbeitet habe, und sprach von „rücksichtlosem und unverantwortlichem Sensationsjournalismus der übelsten Art“. Das Blatt hatte unter Berufung auf eine Schauspielerin behauptet, dass Rush die Frau während einer Theaterproduktion von „König Lear“ sexuell belästigt habe. Doch was in der deutschen Film- und Fernsehszene noch größtenteils als Einzelfall skandalisiert wird (Dieter Wedel, Gebhard Henke), wird in den USA als Normalfall gesehen – und prompt gegengesteuert: mit Berufsbildern wie „Intimitätstrainerin“ oder „Intimitätskoordinatorin“.
Berufsbilder wie Intimitätstrainerin
Claire Warden etwa, eine Britin mit Wohnsitz in New York, sieht als Intimitätstrainerin ihre Aufgabe darin, Schauspielern erniedrigende Erfahrungen wie in Bernardo Bertoluccis „Butterszene“ zu ersparen. Zur Erinnerung: in Bertoluccis Film „Der letzte Tango in Paris“ 1972 spielte Marlon Brando den Amerikaner Paul, der sich mit einer jungen Französin trifft – und sie vergewaltigt. Paul setzt Butter als Gleitmittel ein. Die Idee dazu kam dem Regisseur und seinem Hauptdarsteller am Tag der Dreharbeiten spontan beim Frühstück. Dass sie die Szene abwandeln wollten, sagten sie Brandos Filmpartnerin, der neunzehnjährigen Schauspielerin Maria Schneider, nicht. Bertolucci gab 2013 in einem Interview zu, sie bewusst im Dunkeln gelassen zu haben, damit sie ihr Entsetzen und ihren Abscheu nicht habe spielen müssen. Er habe ihre Reaktion „als Mädchen, nicht als Schauspielerin“ einfangen wollen – eine Form des method acting.
Schneider sagte, sie habe sich missbraucht gefühlt, selbst wenn es nicht zu Geschlechtsverkehr gekommen sei. „Bei der Schauspielerei, egal ob vor der Kamera oder auf der Bühne, sind die Akteure sehr verletzlich. Das gilt selbstverständlich besonders bei Sexszenen oder Parts mit Nacktheit“, meint Warden. Die Butterszene hätte es bei ihr nicht gegeben: „Auch nach fast 50 Jahren ist die Szene immer noch schwer zu ertragen. Sie zählt zu den schlimmsten Übergriffen vor der Kamera“. Wie hätte sie dann die Ratschläge von Günther Grass während der Dreharbeiten zur „Blechtrommel“ aufgenommen? So habe er zu einer heftigen Sexszene etwa erklärt: „Adorf, das ist keine Liebesszene. Das ist eine brutale Fast-Vergewaltigung, eine Rammelei.“
Ita O‘Brien wiederum ist Intimitätskoordinatorin für die Netflix-Serie „Sex Education“. Bei Nackt- und Sexszenen möchte sie sicherstellen, dass Dreharbeiten respektvoll und einvernehmlich, also ohne herabwürdigende Situationen verlaufen. An der Verpflichtung solcher Intimitätskoordinatoren zeigt sich der unmittelbare Einfluss der MeToo-Diskussion auf die Unterhaltungsproduktion in den USA. Es geht um wirksame Konzepte gegen Missbrauch und Sexismus, genauso wie um den Nachholbedarf einer Industrie, die öffentlichkeitswirksam ihre Bereitschaft zur Korrektur demonstriert.
HBO und der Streaming-Dienst Netflix unterhalten sogenannte Intimitätskoordinatorinnen inzwischen hauptberuflich. Sie fungieren in der Film- und Fernsehproduktion als Kollektiventscheidungen herbeiführende Vermittler, sind aber ganz dem Wohl der Schauspielerinnen und Schauspieler verpflichtet. Zu ihrer Arbeit gehören die Koordination von simuliertem Sex, die Sicherstellung eines möglichst angenehmen Arbeitsklimas und assistierende Aufgaben, etwa Hilfe bei der Bedeckung von Körperteilen. O’Brien versuche der Durchführung von Sexszenen demnach Struktur zu verleihen und Bloßstellungen zu vermeiden.
„Nudity Rider“
Der am Theater bereits länger etablierte, aber für die Film- und Serienherstellung erst 2018 vom Programmanbieter HBO salonfähig gemachte Job rief Skeptiker auf den Plan. Gollum-Darsteller Andy Serkis hält die Richtlinien der Intimitätskoordination auf dem Filmportal moviepilot für eine „Zensur der Kreativität“, stattdessen sollten Filmemacher und Schauspieler entsprechende Fragen unter sich klären. O‘Brien hingegen versichert, dass es nicht um Verbote gehe, vielmehr sei die Darstellung von Nacktheit und Sex durch ein besseres Arbeitsumfeld „glaubhafter, saftiger, leidenschaftlicher“, sagte sie moviepilot.
Bei den zahlreichen Wortmeldungen mutmaßlicher Missbrauchsopfer, so der häufigste Einwand, werde nicht unterschieden zwischen Fehlverhalten und Vergewaltigung – ein unangebrachter Kommentar dürfe nicht die gleichen Konsequenzen haben wie ein körperlicher Übergriff. Mitunter ging es dabei um Relativierungen und kulturellen Alarmismus. Hinter dem Missbrauch stecke eigentlich Prostitution. Und MeToo sei der Beginn einer neuen Prüderie. Wo sind Grenzen zu ziehen, und von wem?
Rajko Burchardt konstatiert auf moviepilot, „dass sich die Diskussion auf einem schmalen Grat zwischen Ideologiekritik und Hexenjagdvergleichen“ bewegt. So kamen Gegenstimmen nicht allein von Männern, wie Catherine Deneuve bewies, die neben 100 weiteren Frauen zu den Unterzeichnerinnen eines offenen Briefs gehörte, der vor den negativen Folgen der MeToo-Bewegung warnte. Die Debatte habe zu einer „Kampagne der Denunziation“ geführt und spiele „den Feinden der sexuellen Freiheit, religiösen Extremisten und schlimmsten Reaktionären“ in die Hände. Auch Rocklegende Suzie Quatro bestätigte jüngst im Weser-Kurier, dass die Debatte aus dem Ruder gelaufen sei:
„Wir sind politisch ‚zu korrekt‘ geworden und sollten zu einem natürlicheren Lebensstil zurückkehren. Wer belästigt wird, sollte das sofort sagen – und nicht 25 Jahre damit warten“.
Andererseits mag das Wort Intimitätskoordination einen furchtbaren Klang erzeugen, aber offensichtlich notwendige oder mindestens erwünschte Kontrollmechanismen beschreiben: Wenn ohnehin Zusatzklauseln in Schauspielverträgen über Details von Nacktheit und sexuellen Darstellungen entscheiden, sollte es bei Dreharbeiten auch eine Person geben, die auf ihre Einhaltung achtet. So beinhaltet der für die HBO-Serie „Game of Thrones“ ausgehandelte Vertag von Emilia Clarke ein Vetorecht gegenüber Nacktszenen, das entscheidet, ob eine als unangebracht empfundene Szene gedreht bzw. überhaupt geschrieben wird. Ebenso könne Elisabeth Moss, Hauptdarstellerin und Produzentin der Serie „The Handmaid‘s Tale“, über alle von ihr entstandenen Aufnahmen und deren Verwendung entscheiden.
Zugleich seien die Regelungen für betroffene Schauspielerinnen und Schauspieler nicht bindend. Einwände gegen Sexszenen oder die Art ihres Zustandekommens hätten auch dann keine Konsequenzen, wenn solche Szenen ausgemacht und daher vertraglich durchsetzbar sind. Diese als „Nudity Rider“ bezeichneten Zusatzklauseln regeln persönliche Bedürfnisse der an Nackt- oder Sexszenen beteiligten Personen, um eine Bildproduktion im kompletten Einvernehmen mit den Künstlern zu gewährleisten. Festgehalten werden sämtliche Einzelheiten der Inszenierung. Das Persönlichkeitsrecht und der Schutz einer Frau sind selbstredend wichtiger als Seriensex. Doch lässt sich immer zweifelsfrei sagen, wo Kunst endet und Befindlichkeit anfängt?
asexuelle Superhelden
Auch eine Sony-Sprecherin bestätigte Ende April gegenüber dem Wall Street Journal, dass das Unternehmen seine eigenen Richtlinien aufgestellt hätte, die dafür sorgen sollen, dass die Entwickler „ausgewogene Inhalte auf der PlayStation-Plattform anbieten“. Die Anpassung bzw. die Abschwächung vermeintlich anstößiger, sexueller Inhalte auf der PlayStation 4 basiert auf diesen neuen Richtlinien zur Regulierung von sexuell eindeutigen Spielinhalten. Zugleich soll das Spielen bzw. das Gaming sowohl „das gesunde Aufwachsen“ als auch die „Entwicklung junger Menschen“ nicht behindern. Laut Wall Street Journal sollen die Führungskräfte des Unternehmens befürchten, dass der Verkauf von bestimmten Spielen mit expliziten, sexuellen Inhalten den Ruf (weltweit) schädigen könnte. Diese Besorgnis soll vor allem von Spiele-Software geschürt werden, die auf dem japanischen Heimatmarkt des Unternehmens angeboten wird, „der traditionell eine größere Toleranz gegenüber fast nackter Haut und Darstellungen von jungen Frauen hat, die minderjährig sein könnten“.
Bereits im Oktober 2018 wurde der „Intimitätsmodus“ (Intimacy Mode) in „Senran Kagura Burst Re:Newal“ auf Wunsch von Sony aus der PlayStation-4-Version entfernt, in der PC-Version war dieser „Anfassen-Modus“ weiterhin verfügbar. Ähnliche Schwierigkeiten hatten wohl auch die Entwickler von „ToeJam & Earl: Back in the Groove!“ und „Omega Labyrinth Z“, auch in „Devil May Cry 5“ wurde ein weiblicher, nackter Hintern zensiert. Mark Kern, ehemaliger Produzent bei Blizzard Entertainment, warnt auf dem Spieleportal 4players vor einer „neuen Welle des Puritanismus bei Computer- und Videospielen“ und bezeichnet die aktuelle Situation als „lächerlich“. Die USA hätten ohnehin eine lange Geschichte rund um „moralische Panikmache“ hätte; er nannte die Prohibition (Alkoholverbot) als Beispiel:
„Ich finde es beunruhigend, dass die USA anderen Ländern und Kulturen sowie ausländischen Spieleentwicklern ihre derzeitige moralische Panik aufzwingen. Die USA als Weltpolizei für Moral bezeichne ich als ‚kulturellen Unterdrücker‘. Wir können genauso gut wieder rausgehen und kolonisieren.“
Burchardt traut dem Frieden nicht: „Ein von Problemlösung durch Repräsentation überzeugtes Engagement gegen Diskriminierung muss sich zwangsläufig in Opportunismus und Scheinheiligkeit verstricken. Besinnungslos werden Projektentscheidungen gewinnorientierter Unternehmen gefeiert… Die Konstruktion von Meilensteinen führt geradewegs zur Negation filmhistorischer Errungenschaften. Daher bleibt abzuwarten, ob die Richtlinien zur Darstellung von Nacktheit und Sex über reine Symbolpolitik hinausgehen.“
Dass „Nudity Rider“ ein Gewinn sein können, ließe sich mit Blick aufs „zugeknöpfte Unterhaltungsangebot“ schwer vermitteln, befindet er: „Während verschämte Erotik-Blockbuster wie ‚Fifty Shades of Grey‘ als gewagt und freizügig gelten, erhält die wilde Teenager-Fantasien versprechende Romanze ‚After Passion‘ eine FSK-Freigabe ab 0 Jahren.“ Die Kritikerin Catherine Shoard unterstreicht das im Guardian: „Wir leben in einer Zeit der filmischen Abstinenz“, im globalisierten Kino sei dafür kein Platz mehr vorgesehen, Sex fiel gewissermaßen einer Marktverengung zum Opfer.
Jedes große Hollywoodstudio möchte wie Disney sein, behauptet Burchardt: „Und wie Disney sein bedeutet, asexuelle Superhelden- und Sternenkriegsfilme am laufenden Band zu produzieren. Erzählwürdig ist, was sich beliebig ausdehnen und vor allem in Länder exportieren lässt, die es mit der Freiheit nicht so genau nehmen“. Da es beim Sex sehr wesentlich um Freiheit geht, muss Hollywood für seine Auslandsmärkte eben Abstriche machen. Da in China bereits die Erwähnung unliebsamer sexueller Orientierungen zum Aufführverbot führen kann, wurde „Bohemian Rhapsody“ dort um alle Hinweise auf Freddie Mercurys Liebesleben bereinigt. US-Studios führen solche Zensuren bereitwillig durch, zum Teil mildern sie Filme auch in vorauseilendem Gehorsam ab. Schon die unzensierte Fassung des Queen-Biopics zeichnet ein verklemmtes Bild von Sex im Allgemeinen und Homosexualität im Besonderen.
Fraglos haben solche und ähnliche Maßnahmen nicht nur – wie gedacht – Einfluss auf Produktionsabläufe, sondern führen Veränderungen der Inhalte selbst herbei. Burchardt befürchtet bereits, dass MeToo-Sensibilitäten eine Allianz mit einem Bedürfnis nach unanstößigen Geschichten eingehen könnten und zu oscartauglichen Biopics wie „Can You Ever Forgive Me?“ oder „Green Book“ führten: „Um Sex scheren die Filme sich wenig, auch sie sind familienfreundlich aufbereitet. Meist verwöhnen sie das liberale Zielpublikum mit Gesinnungen bestätigenden Dialogen, die sich demonstrativ zeitkritisch geben. Bescheinigt werden soll ihnen dadurch Relevanz – Geschichten über Unterdrückung als symbolische Stütze tatsächlich Benachteiligter. Der absurde Glaube an ein Kino, das erzieherisch sein könne oder gar sein müsse, geht in Hoffnungen auf Erlösung über.“ Das würde den Film in eine Rolle drängen, die er weder spielen kann noch will, und ihn ebenso überfordern wie eine Gesellschaft, die eben nicht erzogen werden, sondern einfach leben möchte.