Elbtal fliegt, Wattenmeer siegt
23. Juni 2019 von Thomas Hartung
Die Entscheidung am 25.Juni in Sevilla fiel mit 14 zu 5 bei 2 ungültigen Stimmen überaus eindeutig: Das Dresdner Elbtal verliert den UNESCO-Welterbestatus. „Das ist ein sehr trauriger Moment“, sagte die Präsidentin des Gremiums, María Jesús San Segundo, dem SPIEGEL. Es sei ein großer Verlust, wenn man das Welterbe aberkenne. Damit ist Dresden nach einem Naturschutzgebiet im arabischen Oman weltweit erst die zweite Stätte, die von der Liste gestrichen wurde.
Die Aberkennung hatte auch finanzielle Folgen: Dresden erhielt kein Geld mehr aus einem 150 Millionen Euro schweren Förderprogramm für deutsche Welterbestätten. Doch die Blamage gerade fünf Jahre nach der Verleihung des Titels war eine mit Ansage und hatte viel mit der teuersten Stadtbrücke Deutschlands zu tun: der Waldschlößchenbrücke, die den „Landschaftsraum des Elbbogens an seiner empfindlichsten Stelle irreversibel in zwei Hälften“ teilt, so die UNESCO.
Der Brückenstandort war seit dem 18. Jahrhundert umstritten. Denn immer wieder ist es dieselbe Perspektive von der alten Hirschtränke unterhalb der Villa „Waldschlösschen“, an der die Schwärmer für den Elbtalblick – neben Malern auch Dichter, Philosophen, Bildhauer, Architekten und Diplomaten – ihre Loblieder anstimmten und ihre Staffeleien aufstellten. Um eine Bebauung, ja auch nur die Aufstellung von Reklameschildern an diesem Ort zu verhindern, hatten die Dresdner Stadtverordneten noch 1908 die Waldschlößchenwiesen für 400.000 Goldmark aus Privathand angekauft – und zwar ausdrücklich mit der Zielsetzung, dass „der einzigartige, herrliche Aussichtspunkt auf die Stadt und ihre Umgebung für alle Zeiten in städtisches Eigentum gebracht und gesichert“ werde.
Erst den Nazis blieb es vorbehalten, mit diesem Grundsatz zu brechen: 1937 nahmen sie den Hang am Waldschlösschen als Brückenstandort in ihren Hauptverkehrsplan auf. Es waren diese Pläne, die in der DDR nach einer Schamfrist Wiederauferstehung feierten und zeitweise in Brückenprojekten mit acht Fahrspuren und dem Abriss ganzer Stadtquartiere mündeten. Noch kurz vor der Wiedervereinigung wurden dann die Planungen 1989 in einem Architektenwettbewerb konkretisiert. Danach sollte die Elbtalaue an ihrer breitesten Stelle von einer Schrägseilbrücke des Autobahnbaukombinats mit linkselbischem Pylon überspannt werden – ein ähnliches Bauwerk wurde 2011 elbabwärts in Nie-derwartha eingeweiht. Doch die neu gewählten Volksvertreter nahmen die zusätzliche Elbquerung nur in ihre Programme auf, verwarfen den Siegerentwurf aber als „anachronistisch“.
„nicht besonders hochwertiges Ingenieurbauwerk“
Von diesem Augenblick an datiert das endlose Ringen um eine Lösung für die Elbquerung, die der Landschaft keine Gewalt antut und den Verkehrsbelangen Rechnung trägt. Eine schicksalhafte Bedeutung kommt dabei der conditio sine qua non zu, die der sächsische Wirtschaftsminister Kajo Schommer (CDU) im November 1995 formuliert hatte: Die sächsische Landesregierung werde keine andere Flussquerung fördern als eine Brücke am Waldschlößchen. Damit waren Tunnellösungen und auch ein „Mehrbrückenkonzept“ für mehrere kleinere, aber weniger landschaftsbelastende und in der Summe billigere Brücken von vornherein ausgeschlossen. Artig beschloss der Dresdner Stadtrat im Sommer 1996 den Brückenbau am Waldschlößchen. Ein Wettbewerb wurde ausgelobt.
Ein Berliner Büro setzte sich unter den 27 eingereichten Entwürfen durch und gewann den 1. Preis samt 75.000 Mark. Sein Entwurf sah eine Stahlkonstruktion von 635 Metern Länge mit einem Bogen in der Spannweite von 145 Metern und einem sich anschließenden Landtunnel von 400 Metern Länge vor. Veranschlagt mit 156 Millionen Euro – 96 Millionen steuert der Freistaat Sachsen zu der Bausumme zu, 46 Millionen muss die Stadt Dresden aufbringen – sollten es schließlich 180 Millionen werden. Im jahrelangen Ringen um Korrekturen sind zuerst zusätzliche Lärmschutzmaßnahmen, dann eine Geschwindigkeitsbeschränkung sowie schließlich eine „Verschlankung“ der Konstruktion verordnet worden. An der optischen Wirkung des Bauwerks änderte sich nichts.
Parallel wurde das Projekt Welterbe in Angriff genommen und, weil Dresdens rekonstruierte Altstadt mangels Authentizität kaum Welterbe-Chancen hatte, der wohlbegründete Antrag seinerzeit auf die gesamte „sich entwickelnde Kulturlandschaft Elbtal“ von Schloss Übigau bis Schloss Pillnitz ausgeweitet: 20 Kilometer Flussufer. Im Juli 2004 war der Antrag erfolgreich. Am 27. Februar 2005 sprechen sich bei einem Bürgerentscheid knapp 68 Prozent der Dresdner für den Bau in der vorliegenden Form aus. Die UNESCO wird jetzt auf den Entwurf aufmerksam. Im Juli 2006 wurde Dresden ob des Brückenentwurfs bereits auf die Rote Liste der gefährdeten Weltkulturstätten gesetzt – prompt stimmte am 10. August der Stadtrat gegen den Bau. Das Land Sachsen dagegen beharrt auf dem Vorhaben.
Bei einer Abstimmungsbeteiligung von 50,8 %, d.h. marginal mehr als der Hälfte der Stimmberechtigten, hatten an diesem Tag aber weniger als 40 % aller Dresdner dafür gestimmt. Erst im Nachhinein erwiesen sich Spreng- und Rechtskraft dieses Bürgerentscheids. Im Juni 2007 scheitert Dresden vor dem Bundesverfassungsgericht mit einer Klage gegen den vom Freistaat angeordneten Bau: Die Richter bescheinigten dem Bürgerentscheid einen höheren Rang als den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus der von ihr selbst mit entworfenen und 1972 unterzeichneten UNESCO-Konvention. Der Hamburger Architekt Volkwin Marg, damals Juryvorsitzender, spricht im Nachhinein in der WELT von einer „offensichtlichen Manipulation des Wunsches der Bürger nach besseren Verkehrsverbindungen zu einem Plebiszit für den Brückenbau“. Dankwart Guratzsch schrieb in der WELT gar von einem „Sieg der Autolobby“.
Marg galt später als vehementer Verfechter einer Tunnellösung. Neben ihm hatten sich auch die Stararchitekten Santiago Calatrava und Sir Norman Foster geweigert, Brückenentwürfe für die Waldschlößchenquerung vorzulegen. Unter Fachleuten hatte der Entwurf wenig Zustimmung gefunden. Marg spricht von einem „nicht besonders hochwertigen Ingenieurbauwerk“, die Landschafts- wie auch die Tiefbauarchitekten der Bundesarchitektenkammer nennen den Entwurf „dramatisch schlecht“.
„keine gute Nachricht“
Anknüpfend an den von Startrompeter Ludwig Güttler mit initiierten „Ruf aus Dresden“ zum Wiederaufbau für die Frauenkirche von 1990 hatten Bürgerinitiativen 2007 wiederum mit Güttler unter dem Titel „Erneuter Ruf aus Dresden“ eine Schrift gegen die Errichtung der Brücke veröffentlicht, um den Welterbestatus zu retten. Er verhallte ungehört, im November desselben Jahres starteten trotz Mahnungen der Welterbe-Hüter und diverser artenschutzrechtlicher Bedenken die Bauarbeiten.
Ein Bürgerbegehren gegen die Brücke und für einen Tunnel, für das bereits 50.000 Stimmen gesammelt worden waren, ließ die sächsische Regierung im April 2008 scheitern – einmalig in der 200-jährigen Geschichte des deutschen Denkmal- und Naturschutzes überhaupt, einmalig auch in der Geschichte der UNESCO und des von ihr erfassten Weltkulturerbes. „Der Verlust des Welterbetitels ist verkraftbar“, befand Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU). Mit Blick auf die verfahrene Situation trat das Dresdner „Kuratorium Welterbe“ am 20. Juni 2008 zurück.
Die – erwartete – Entscheidung von Sevilla zog den Schlussstrich unter einen Streit, der weit über Sachsens Landeshauptstadt hinaus die deutsche Kulturszene und Gesellschaft aufgewühlt hatte. Nahezu 20 Berufsgruppen, Spitzenverbände des Kulturlebens, mehrere Bundesminister und Gerichtsinstanzen waren damit befasst, ja sind es teilweise bis heute: Erst im Sommer 2016 entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass der Planfeststellungsbeschluss zum Brückenbau teilweise rechtswidrig war, und ordnete erneute Artenschutzprüfungen an, setzte dafür aber keine Fristen fest.
Noch vier Wochen vor der UNESCO-Entscheidung hatten acht namhafte Künstler, darunter Günter Grass, Martin Walser und Wim Wenders, Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem offenen Brief zum schnellen Eingreifen aufgefordert. Für die acht steht nichts Geringeres als „der Ruf unseres Landes als Kulturnation“ auf dem Spiel. „Wir befürchten, dass der bisher nicht gestoppte Frevel an einem einzigartigen Kulturerbe wie dem des Dresdner Elbtals vieles von diesem Ansehen zunichtemacht“, schreiben sie.
Umsonst. Mit Blick auf die Kaufbegründung vor 100 Jahren hätten sich die Dresdner die aktuelle Begründung selbst geben können: „Die Elbwiesen bilden hier eine nahezu hindernisfreie Auenfläche mit nur wenigen eingestreuten Bäumen, wodurch sich inmitten der Großstadt Dresden ein einmaliger Eindruck landschaftlicher Weite ergibt, die nur dort zur Wirkung kommen kann, wo sie nicht unmittelbar an Grenzen stößt. Dieses eindrückliche Landschaftserlebnis wird durch die bogenförmige Krümmung des Talraums verstärkt, weil die baulichen Konturen der benachbarten Ortsteile in den Hintergrund treten und sich der Eindruck von unendlicher Landschaft ergibt.“ Genau dieses Erlebnis macht der Brückenklotz zunichte.
Die Reaktionen fielen entsprechend aus. Bundesbauminister Wolfgang Tiefensee (SPD) sprach im SPIEGEL von einem „schwarzen Tag für Dresden und die Kulturnation Deutschland.“ Er bedaure sehr, dass es dazu gekommen sei. Es sei mehr als genug Zeit für Sachsen und die Stadt Dresden gewesen, mit der UNESCO zu einem Kompromiss zu gelangen. Schon eine grundsätzlich andere Brückenlösung hätte genügt, kritisierte Tiefensee. Die Stadt Dresden müsse nun beweisen, „dass ihr Bekenntnis zu diesem Kulturdenkmal nicht nur ein Lippenbekenntnis war.“ Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) hob im selben Blatt ebenfalls den Zeigefinger:
„Ich kann daher nur an Länder und Kommunen appellieren, die UNESCO bei Bauvorhaben rechtzeitig zu informieren und zu beteiligen. Dann können bereits im Vorfeld Konflikte entschärft werden“.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sagte der Sächsischen Zeitung: „Die Entscheidung des Welterbekomitees ist keine gute Nachricht.“ Auch die Deutsche UNESCO-Kommission hat die Streichung des Dresdner Elbtals von der Welterbeliste bedauert. „Die Entscheidung kommt leider nicht völlig überraschend. Ich hätte mir sehr viel mehr Offenheit auf beiden Seiten für eine Veränderung der Brückenpläne gewünscht“, erklärte Präsident Walter Hirche (FDP), im SPIEGEL. Der sächsische Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Jan Mücke (FDP), entblödete sich dagegen nicht, den Beschluss mit dem Ausruf „Dresden ist Welterbe der Herzen“ zu feiern.
„Auszeichnung für ganz Schleswig-Holstein“
Ganz anders dagegen ging das Gremium auf derselben Sitzung mit dem deutsch-niederländischen Gemeinschaftsantrag um, das Wattenmeer zum Welterbe der Menschheit erklären zu lassen. Dazu gehören das niederländische Wattenmeer-Schutzgebiet sowie die deutschen Wattenmeer-Nationalparks in Niedersachsen und Schleswig-Holstein: mehr als 9500 Quadratkilometer. Das Komitee würdigte das Gebiet „als eines der größten küstennahen und gezeitenabhängigen Feuchtgebiete der Erde“. Es sei ein einzigartiges Ökosystem mit einer besonderen Artenvielfalt.
„Die Entscheidung des Komitees, den einzigartigen Wert des Wattenmeers als Welterbe anzuerkennen, verleiht den Bemühungen um die weltweite Vernetzung von Kultur- und Naturerbe neuen Auftrieb“, sagte nun Hirche. Der einzigartige Lebensraum stand nun auf einer Stufe mit Naturwundern wie dem Great Barrier Reef vor Australien, dem Grand Canyon in den USA, den Galapagos-Inseln vor Ecuador oder dem Serengeti-Nationalpark im afrikanischen Tansania.
„Das ist eine Auszeichnung für ganz Schleswig-Holstein“, sagte Ministerpräsident Peter Harry Carstensen (CDU) in Kiel. „Die Anerkennung ist eine große Ehre für die Länder an der deutschen Nordseeküste sowie ein Meilenstein und Ansporn für die gemeinsamen internationalen Bemühungen für den Schutz des Wattenmeeres.“ Für Niedersachsens Umweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP) wurde mit der UNESCO-Entscheidung der Einsatz der Wattenmeeranrainer zum Schutz dieses einzigartigen und faszinierenden Lebensraumes honoriert.
„Naturschutz hat bei uns eine Tradition, die annähernd 100 Jahre zurückreicht. Mit der Anerkennung nehmen wir den Auftrag an, dieses Erbe auch für die folgenden Generationen zu erhalten.“
Dass der eine Ministerpräsident die Küste pars pro toto für das ganze Land sprechen lässt, während der andere seine Landeshauptstadt quasi separiert, lässt auf Unterschiede zwischen Ost und West schließen, die 20 Jahre nach der Einheit immer noch deutlich zutage traten. Und anders als die Sachsen brauchten die Nordländer immerhin 18 Jahre vom Bewerbungs- bis zum Anerkennungsbeschluss. Das lässt auf die Richtigkeit der Volksweisheit „Gut Ding will Weile haben“ schließen – in Dresden war es offenbar ein Schlecht Ding.
Das Beispiel Dresden zeige aber auch, dass man den Schutz dieses Welterbes nicht leichtfertig gefährden dürfe, sagte Sander weiter. Das lässt auf die Rolle von Demut sowie des Schutzgedankens schließen; eine Rolle, die Eigenschaften wie Selbstverliebtheit, ja Hochnäsigkeit in ihre Schranken wies – andernfalls hätte ja ein Dialog mit der UNESCO, ja ein wie auch immer gearteter Kompromiss zustande kommen können, wie Tiefensee und Naumann konsensual monierten. Vielleicht zeigt der parallele Vorgang aber auch einfach, dass die Dresdner ihre identifikative Sonderrolle schon damals etwas überstrapazierten. Daran hat sich bis heute, leider, wenig geändert.
Derzeit versuchen die Dresdner übrigens wieder, auf die deutsche Vorschlagsliste für neue UNESCO-Welterbestätten zu kommen: mit dem Gartenstadt-Ensemble Hellerau als „Laboratorium einer neuen Menschheit“. Das Unterfangen, als aussichtslos eingeschätzt, wurde schon 2014 von der Kultusministerkonferenz zurückgewiesen. Ganz anders dagegen der Antrag der Montanregion Erzgebirge/Krušnohoří, der zum Stichtag 1. Februar 2018 im Welterbezentrum in Paris vorlag, wie das Gremium mitteilte. Das Welterbekomitee wird voraussichtlich noch diesen Sommer über eine Aufnahme in die Welterbe-Liste entscheiden. Sollten die Dresdner nicht bleibende Imageschäden für Sachsen hinterlassen haben, könnte der Antrag sogar erfolgreich sein.