„wo die Volksrepublik endet und das freie Polen beginnt“
2. Juni 2019 von Thomas Hartung
Zum großen Triumph am 4. Juni 1989 war sie bereits ausgetreten: Anna Walentynowicz, Kranführerin auf der Danziger Lenin-Werft. Ihre fristlose Entlassung am 7. August 1980, wenige Monate vor ihrer Pensionierung, war eine Woche später der Anlass zu den Streiks, die zur Gründung der ersten freien Gewerkschaft führten. Neun Jahre später geht die „Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft Solidarität“, die „NSZZ Solidarność“, als Siegerin der ersten freien Parlamentswahlen Polens hervor.
Als Auslöser der großen Streikwelle galten die Preiserhöhungen für Fleisch vom 1. Juli 1980, verursacht durch eine Wirtschaftskrise, die schon seit Jahren die Lebensbedingungen der Polen stetig verschlimmert. Zuerst protestieren die Eisenbahnangestellten in Lublin, dann legen immer mehr Arbeiter im ganzen Land ihre Arbeit nieder. Am 14. August erreicht die Streikwelle auch die Lenin-Werft: die Arbeiter besetzen das Werftgelände, verschanzen sich hinter den Toren und gründen ein betriebliches Streikkomitee. Zu ihrem Anführer wird der junge Elektriker Lech Walesa. Bereits vier Jahre zuvor hatte er versucht, eine vom Staat unabhängige Gewerkschaft zu gründen, und wurde entlassen.
Die Arbeiter verlangen unter anderem die Wiedereinstellung von Anna Walentynowicz sowie ein Denkmal für die Streikenden, die 1970 vom Militär vor der Werft erschossen wurden. Als den Forderungen nachgegeben wird, scheint der Streik nach zwei Tagen zu Ende zu gehen. Doch die Arbeiter entscheiden sich dazu, weiterzumachen: Unter Walesas Führung wird ein „Überbetriebliches Streikkomitee“ gegründet, das mehr als 300 polnische Betriebe repräsentiert und 21 Forderungen an die Regierung ausarbeitet. Die beinhalten etwa Lohnerhöhungen, Abschaffung der Zensur und Redefreiheit, Streikrecht und vor allem das Recht auf unabhängige Gewerkschaften.
Nach langen Verhandlungen lenkt die Regierung ein. Am 31. August 1980 unterzeichnen Walesa und Vize-Ministerpräsident Mieczyslaw Jagielski das „Danziger Abkommen“. Polen ist damit das erste Land im Ostblock, in dem freie Gewerkschaften zugelassen werden. Jagielski kommentierte die Einigung mit den Worten „Es gibt weder Sieger noch Verlierer“ – und täuschte sich gewaltig. Die Sowjetunion fühlt sich durch die Geschehnisse bedroht und zieht sogar Truppen nahe der polnischen Grenze zusammen, doch zu einem Einmarsch kommt es nicht: Regierungschef Wojciech Jaruzelski fühlt sich noch als Herr der Lage und kann Moskau beruhigen.
als Freiheitsbewegung im Untergrund
Am 17. September gründen schließlich Vertreter von mehr als 30 örtlichen Streikkomitees in Danzig die Gewerkschaft Solidarność und wählen Lech Walesa zum Vorsitzenden. Die Gründung wird Anfang November durch den Obersten Gerichtshof anerkannt. Im folgenden Jahr hat die Gewerkschaft fast zehn Millionen Mitglieder – das waren mehr als die Hälfte der polnischen Arbeitnehmer. Auch viele Mitglieder der kommunistischen Partei PVAP wurden Mitglieder der freien Gewerkschaft, teilweise bis zu einer Million, was ca. 30 % der Parteimitglieder entsprach.
Rückendeckung bekommen sie von Anfang an von regimekritischen Intellektuellen vor allem des 1976 gegründeten „Komitees zur Verteidigung der Arbeiter“ KOR. Darunter waren Jacek Kuroń, der spätere Arbeits- und Sozialminister Polens und enge Mitarbeiter Lech Wałęsas, der spätere Verteidigungsminister Antoni Macierewicz sowie der Autor Jerzy Andrzejewski, aber auch der spätere Premier Tadeusz Mazowiecki sowie der spätere Außenminister Bronisław Geremek. Und Rückendeckung bekommen sie auch von ihrem polnischen Landsmann Papst Johannes Paul II., der sich bereits während der Besetzung der Leninwerft mit den Streikenden solidarisch zeigte und in einem offenen Brief an die polnischen Bischöfe dazu aufrief, die Arbeiter in ihrem Kampf um soziale Gerechtigkeit zu unterstützen. Walesa und andere Gewerkschaftsführer sind am 15. Januar 1981 zu einer Privataudienz ein beim Papst eingeladen. In den nächsten sechs Jahren reist der Pontifex zweimal in seine Heimat.
Auf ihrem ersten Nationalkongress im September und Oktober 1981 wird Lech Walesa knapp in seinem Amt als Gewerkschaftsführer bestätigt, denn inzwischen haben sich zwei Lager innerhalb der Solidarność gebildet. Auf der einen Seite steht Walesa, der sich für eine gemäßigte Auseinandersetzung mit der kommunistischen Regierung ausspricht, während eine eher national-konservative Gruppe um Andrzej Gwiazda und Jan Rulewski mehr in die Offensive gehen möchte.
Da sich die wirtschaftliche Lage des Landes nicht verbessert und durch weitere Streiks ein Engpass in der Lebensmittelversorgung entsteht, wird die Sowjetunion unruhig: KPdSU-Chef Leonid Breschnew fordert die polnische Staatsführung dazu auf, gegen die Gewerkschaft vorzugehen. Am 13. Dezember 1981 verhängt Jaruzelski für zwei Jahre das Kriegsrecht über sein eigenes Land, verbietet Solidarność und interniert Walesa mit anderen Gewerkschaftsführern vorübergehend. Die Gewerkschaft geht als Freiheitsbewegung in den Untergrund und gründet Büros im Ausland, darunter in Bremen. Zwei Jahre später wird Lech Walesa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
1984 erreicht das köchelnde politische Klima in Polen einen neuen Siedepunkt: drei Offiziere des Staatssicherheitsdienstes ertränken am 19. Oktober den römisch-katholischen Priester Jerzy Popiełuszko, der als Seelsorger für Streikende tätig war und dessen St.-Stanisław-Kostka-Gemeinde in Warschau zum Sammelbecken für oppositionelle Bürgerrechtler wurde. An seiner Beerdigung nahmen bis zu 800.000 Menschen teil, das Grab wurde zu einer Pilgerstätte. 2010 wurde Popiełuszko selig gesprochen.
Die Unruhen in Polen nehmen in den Folgejahren nicht ab und erleben 1988 einen weiteren Höhepunkt. Auf Hilfe aus Moskau kann Jaruzelski nicht hoffen: Michail Gorbatschow ist seit 1985 neuer KPdSU-Chef. Jaruzelski sieht nur noch einen Ausweg: Er bittet Walesa um Hilfe. Der bittet die Arbeiter erfolgreich, ihren Streik zu beenden, und fordert als Gegenleistung die Einführung eines „runden Tisches“, der nach der Wiederzulassung von Solidarność im Januar 1989 am 6. Februar zu arbeiten beginnt.
Solidarność heute politisch einflusslos
Oppositionelle aus den Reihen der Gewerkschaft sitzen als Gleichberechtigte mit Abgesandten der polnischen Regierung acht Wochen lang an einem Tisch und versuchen, sich in politischen und ökonomischen Fragen anzunähern. Wichtigstes Resultat: Die Vereinbarung erster halbfreier Wahlen im kommunistischen Polen. Der Senat sowie 35 Prozent der Parlamentssitze werden am 4. Juni 1989 frei gewählt. Solidarnosc tritt als eigene Partei an und erhält 99 Prozent der Stimmen für den Senat sowie alle frei wählbaren Sitze im Parlament.
Am 24. August wird Tadeusz Mazowiecki schließlich erster nichtkommunistischer Regierungschef Polens nach dem Zweiten Weltkrieg. Ende des Jahres erklärt sich das Land nach einer Verfassungsänderung wieder zur Republik. Lech Walesa wird 1990 zum Staatspräsidenten gewählt, tritt als Gewerkschaftschef ab – und beruft einen gewissen Jarosław Kaczynski zum Kanzleichef. Während Walesas Amtszeit entwickelt sich Polen immer mehr zu einem marktwirtschaftlichen Land.
Doch mit dem größten Erfolg beginnen auch der Machtverfall und die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung. Denn während die neue Regierung den radikal liberalen Umbau der polnischen Wirtschaft vorantreibt, bleiben viele der alten kommunistischen Kader der Verwaltung des neuen Staates erhalten. Radikalen Antikommunisten wie den Zwillingsbrüdern Kaczynski ist das ein Dorn im Auge, hatten sie doch jahrzehntelang gegen genau diese kommunistischen Seilschaften gekämpft. „Die alte und die neue Zeit, die Volksrepublik und das unabhängige Polen wurden nicht voneinander getrennt. Man weiß nicht, wo die Volksrepublik endet und wo das freie Polen beginnt“, zitiert der MDR Kaczynski aus einem Interviewbuch 1993.
Im gleichen Jahr verliert die Solidarnosc, bedingt durch die sozialen Verwerfungen aufgrund des radikalen Wirtschaftsumbaus – viele Polen machen sie für die negativen Auswirkungen der Wende verantwortlich – ihre Regierungsbeteiligung. Zwei Jahre später wird auch Präsident Walesa abgewählt. Als „Wahlaktion Solidarität“ (AWS) besteht der parteipolitische Arm der Solidarnosc noch bis 2001 und löst sich dann auf. Heute ist die Solidarność politisch einflusslos, besteht aber weiterhin als unabhängige Gewerkschaft. Aktuell sind in Polen nur noch rund 15 % der Arbeitnehmer überhaupt einer Gewerkschaft angeschlossen.
Als Walesa am 31. August 2005 aus der Solidarność austritt, da es nicht mehr dieselbe Gewerkschaft sei wie früher, geht eine Ära zu Ende: Viele Jahre wurde er mit der Solidarność gleichgesetzt. So verglich die Berliner Zeitung seinen Austritt mit dem Austritt des Papstes aus der katholischen Kirche. Aus der politischen Insolvenzmasse der Solidarnosc-Partei entstehen wiederum zwei neue Parteien, die die Politik Polens bis heute prägen: die liberal-konservative Bürgerplattform (PO) und die Nationalkonservative Recht und Gerechtigkeit (PiS).
Und auch personell tragen die beiden Parteien das Solidarnosc-Erbe weiter. Auf PO-Seite stehen der spätere Ministerpräsident Donald Tusk, heute Präsident des Europäischen Rates, und der 2015 abgewählte Staatspräsident Bronislaw Komorowski. Beide gehörten Anfang der 1980er Jahre ebenso zu den inhaftierten Solidarnosc-Mitgliedern wie die Kaczynskis auf der anderen, der PiS-Seite, die zwischen 2005 und 2007 als Präsident und Premierminister Polen regierten.
Anna Walentynowicz blieb ein eigenwilliger Charakter: sie lehnte 2000 sowohl die Ehrenbürgerschaft Danzigs als auch 2005 eine Ehrenpension des polnischen Ministerpräsidenten ab und blieb auch den Feierlichkeiten zum 25-jährigen Jubiläum der Solidarność fern. Dagegen nahm sie 2005 die amerikanische Medal of Freedom aus der Hand von Präsident George W. Bush an, 2006 auch den Orden vom Weißen Adler, die höchste Auszeichnung Polens aus der Hand von Präsident Lech Kaczyński.
Gegen ihren Widerstand verfilmte Volker Schlöndorff ihre Geschichte 2007 unter dem Titel „Strajk – Die Heldin“ mit Katharina Thalbach in der Hauptrolle. 2010 gehörte sie Lech Kaczyńskis Delegation an, die anlässlich des siebzigsten Jahrestages des Massakers von Katyn zur Gedenkstätte nach Russland fliegen sollte, und kam wie alle anderen 96 Passagiere der Regierungsmaschine bei Smolensk ums Leben.