„gehören wir zu den Siegern der Geschichte“
5. Juni 2019 von Thomas Hartung
Im Dezember 1976 ließ die SED im Sitzungssaal des Roten Rathauses in Berlin die Dichter Sarah Kirsch, Jurek Becker und Gerhard Wolf von den Genossen im Schriftstellerverband aus der Partei werfen. Das Vergehen: Sie hatten, zusammen mit neun weiteren Kollegen, in einem offenen Brief an die Parteiführung gegen den Rausschmiss des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR aufgemuckt. Am 7. Juni 1979 schlug die SED am selben Ort zum zweiten Mal zu. Über fünf Stunden, zeitweilig mit tumultartigen Szenen, dauerte die Mischung aus Parteiverfahren und Schauprozess. Am Ende wurden gleich neun renitente Literaten per Mehrheitsbeschluss aus dem Schriftstellerverband SSV entfernt.
Die Begründung: Sie seien „vom Ausland her gegen unseren sozialistischen Staat, die DDR, die Kulturpolitik von Partei und Regierung und gegen die sozialistische Rechtsordnung in verleumderischer Weise“ aufgetreten. Die wirklichen Vergehen der Gefeuerten: Die Romanciers Stefan Heym und Rolf Schneider hatten ohne Erlaubnis der ostdeutschen Zensurbehörde in der Bundesrepublik systemkritische Bücher veröffentlicht, ihre Kollegen Joachim Seyppel und Karl-Heinz Jakobs – aus Mangel an DDR-Gelegenheiten ebenfalls im Westen – die Pressionen gegen missliebige Autoren kritisiert.
Die anderen fünf – die Erzähler Kurt Bartsch, Klaus Poche, Klaus Schlesinger, Dieter Schubert und der Lyriker Adolf Endler – kamen wegen eines Briefs an Erich Honecker zu Fall, in dem der SED-Chef im Mai nachlesen konnte, was die Schreiber von seiner Kulturpolitik halten: „Immer häufiger wird versucht, engagierte, kritische Schriftsteller zu diffamieren, mundtot zu machen oder, wie unseren Kollegen Stefan Heym, strafrechtlich zu verfolgen.“ Bei den Verfassern des Protestbriefes an Honecker fehlten beim Ausschlussverfahren die Namen Jurek Becker, Martin Stade und Erich Loest. Becker und Stade hatten bereits 1977 bzw. 1978 den SSV verlassen, und Loest gehörte dem Leipziger Verband an. Er trat 1980 aus und verließ ein Jahr später die DDR. Die Bannbullen gehören nicht nur durch den Ort, sondern auch in der Sache zusammen: Nach einer erfolglosen Phase der Befriedung ihrer seit der Biermann-Vertreibung aufgestörten Kulturszene geht die SED erneut und diesmal endgültig gegen ihre intellektuellen Abweichler vor.
„Der öffentliche Meinungsstreit findet nicht statt“
Die 1928 von Friedrich Wolf gehaltene Rede „Kunst ist Waffe“ umreißt die starke Politisierung der Kunst und vor allem der Literatur im Bund proletarischer Schriftsteller, die später auch der Kulturpolitik der SED in der DDR als Grundlage diente. Dabei gelangte die Literatur aufgrund funktionaler Überfrachtung rasch an ihre Grenzen: Unterhaltung, Reflexion sozialer Verhältnisse, Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge, Vermittlung von Lehren (wie Brecht forderte), Widerspiegelung der Wirklichkeit mit künstlerischen Mitteln, ja ideologisch motivierte Klassenauseinandersetzung – musste (oder durfte) dabei die kritische Konfrontation mit der Realität auf der Strecke bleiben?
Das ehrliche Nachdenken über Probleme stand in unlösbarem Widerspruch zum „sozialistischen Realismus“ und erhielt zunehmend schneller ein staatsfeindliches Etikett. Seit der Biermann-Affäre und den nachfolgenden Protesten vieler DDR-Literaten musste die SED befürchten, dass ihr die Kontrolle über die Literatur-Szene entglitt. Damals begann die Partei, das ganze Arsenal staatlicher Repressionsmacht einzusetzen: Zensur, Publikationsverbot, Organisationsausschluss, ideologische Kampagnen, Ausbürgerung, Stasi-Verfolgung, Verhaftung – ein gestaffeltes, genau kalkuliertes Instrumentarium von Sanktionen. Die Folge: Viele Schriftsteller verließen notgedrungen das Land, darunter Reiner Kunze, Sarah Kirsch, Thomas Brasch oder Jürgen Fuchs.
Zur Abschreckung wurde auch das Devisengesetz strikter ausgelegt: Wer ohne Einwilligung des Büros für Urheberrechte im Ausland veröffentlichte, wurde wegen Devisenvergehens mit hohen Geldstrafen belegt, so Heym für den Roman „Collin“ mit 9.000 Mark – er wurde gar als „ehemaliger US-Bürger“ diffamiert. Ebenso wurde das Strafrecht verschärft: Der Paragraph 219 besagte unter anderem, dass zu bestrafen ist, „wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik Nachrichten, die geeignet sind den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden, im Ausland verbreitet oder verbreiten lässt.“ Damit konnte jede kritische Auslandsveröffentlichung sanktioniert werden.
Doch viele Autoren zeigten nach der Biermann-Ausbürgerung, dass sie nicht bereit waren, auf die Öffentlichkeit zu verzichten, die ihnen die westlichen Medien boten. Im Protestbrief vom Mai heißt es prompt: „Der öffentliche Meinungsstreit findet nicht statt. Durch die Kopplung von Zensur und Strafgesetzen soll das Erscheinen kritischer Werke verhindert werden.“ Da das Schreiben in der DDR totgeschwiegen wurde, unterrichteten die Briefunterzeichner Tage später die westdeutsche Presse darüber. Mit der Verzögerung wollten sie der DDR-Regierung Verhandlungsbereitschaft signalisieren und den Verdacht vermeiden, über die Westmedien mit der DDR-Regierung zu diskutieren.
Die Reaktion kam ebenso prompt. Zunächst versicherte Dieter Noll, der mit „Die Abenteuer des Werner Holt“ ein sofort kanonisiertes Kriegsopus geschrieben hatte, in einem offenen Brief an Erich Honecker, dass „die Schriftsteller“ voll hinter der Partei und der Kulturpolitik der Regierung stünden – mit der Ausnahme, dass es „einige wenige kaputte Typen wie die Heym, Seyppel oder Schneider“ gibt. Selbst der linksalternative Nobelpreisträger Heinrich Böll nannte den Noll-Text laut SPIEGEL eine „öffentliche Denunziation“.
Danach feuerte, wie Noll im SED-Blatt Neues Deutschland, SSV-Chef Hermann Kant eine volle Breitseite ab: „Wer die staatliche Lenkung und Planung auch des Verlagswesens Zensur nennt, macht sich nicht Sorge um unsere Kulturpolitik – er will sie nicht“, sagte er nur Stunden zuvor auf einer Tagung des SSV-Zentralvorstandes am 30. Mai 1979, auf der der Ausschluss der Aufmüpfigen vorbereitet wurde. So schnell waren Statements selten ins Blatt gehoben.
Der SSV spielte die tragende Rolle bei der indirekten „Lenkung und Planung“: Nur wer hier Mitglied war, bekam eine Steuernummer und konnte als freier Schriftsteller in der DDR arbeiten. Er musste sich allerdings zur „führenden Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei in der Kulturpolitik“ bekennen. Wer von dieser Linie abwich, wurde in der Öffentlichkeit diffamiert, verlor die Möglichkeit zu veröffentlichen und damit seine Existenzgrundlage. Ergo stand das Ergebnis des Tribunals eine Woche später schon vorher fest: Heym wird süffisant erklären, er habe Verständnis für alle, die den Ausschluss gutheißen, es stünden ja Existenz und Privilegien auf dem Spiel.
„kann für diese Leute kein Platz sein“
Joachim Seyppel erregte gleich beim Eintritt Aufsehen: Er erschien, fünf Minuten zu spät, mit einem riesigen Rucksack bepackt, da er gleich nach dem zu erwartenden Ausschluss ins Wochenende aufbrechen wollte. Berlins SSV-Bezirkschef Günter Görlich gab vor fast 400 Mitgliedern, darunter vielen Funktionären, die Tonlage vor: „Wer sich, egal wo er ist, bewusst oder unbewusst, dem Klassenfeind zur Verfügung stellt, dient der Reaktion.“ Sein Erster Sekretär Helmut Küchler ging ins Detail: Er zählte penibel das Sündenregister der neun auf und warf den Angeklagten vor, sie hätten „nicht in zeitweiliger Verwirrung, sondern aus prinzipieller Haltung“ die „führende Rolle der Partei der Arbeiterklasse“ missachtet. „In den Reihen des Verbandes kann für diese Leute kein Platz sein.“
Folgsam stießen die Genossen nach. Puhdys-Texter und Stasi-IM Wolfgang Tilgner hat „nicht die Absicht, auf der Seite der moralischen Verlierer zu sein.“ Harald Hauser, für den „der gute Stefan Heym kein Antifaschist mehr ist“, gibt vor, dass ihn mit „jenen nicht mal mehr die Tatsache verbinde, dass sie auch Bücher schreiben“. Der Literaturwissenschaftler und Stasi-IM Werner Neubert bescheinigte dem einst zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilten Loest: „Dieses Bautzen war das Resultat und die Konsequenz einer schon einmal sehr deutlich gegen uns gerichteten und organisierten Haltung.“
Doch die Angegriffenen gingen nicht zu der früher üblichen Übung der Selbstkritik über, sondern wehrten sich – auch wenn sie auf verlorenem Posten kämpften. Stefan Heym rief in den Saal: „Worum geht es? Nicht um Devisen oder ähnliches. Es geht um die Literatur. Der Schriftstellerverband, dafür ist er eigentlich da, müsste sich auf die Seite derer stellen, die sich bemühen, unsere Welt in ihrer Widersprüchlichkeit darzustellen und verständlich zu machen. Stattdessen lässt er Resolutionen drucken, die dem Apparat bescheinigen, wie Recht er hat, gerade diesen Teil der Literatur des Landes zu unterdrücken… wer die Kunst irgendwelchen taktischen Bedürfnissen unterwerfen will, vernichtet gerade die Kunst, die der Sozialismus braucht.“ Und er erinnerte mit einer biblischen Metapher daran, dass sich Menschen eines Tages erkundigen würden: „Wie habt ihr euch damals verhalten, Meister des Wortes, als es darauf ankam, sich zählen zu lassen?“
Während der Debatten bekam nur Stephan Hermlin großen Beifall – obwohl er schon ahnte, dass seine vermittelnde Position in der aufgeheizten Atmosphäre nicht mehr zeitgemäß war. Er kritisierte zwar Veröffentlichungen im Westen und den Hang einiger Schriftsteller, sich mehr mit Interviews und offenen Briefen zu beschäftigen als mit dem Schaffen von Literatur. Aber er sagte auch: „Wir haben eine lange Tradition im Nichtertragen anderer Meinungen und im Glauben daran, dass die eigene Meinung die Alleinseligmachende ist.“ Er plädierte für die Rückkehr zur Vernunft und die Unterbrechung des gegenseitigen Hochschaukelns dieses Konflikts: „Wenn Schriftsteller der DDR sich dort äußern, wo sie sich eigentlich nicht äußern sollten, so liegt es daran, dass sie sich oft nicht äußern können, wo ihnen das möglich sein müsste.“
Umsonst. Die Abstimmung war eine reine Formsache, öffentlich und nicht geheim, um später die Gegenstimmen zur Rechenschaft ziehen zu können: rund 50 waren es gerade mal, neben Hermlin auch Christa Wolf, Ulrich Plenzdorf und Günther de Bruyn. Enger und eindeutiger sollte die SED die Grenzen der Kritik in ihrer Kulturpolitik nie wieder definieren. Anschließend verabschiedete das Gremium mit „eindeutiger Mehrheit“ ohne Diskussion noch eine Ergebenheitsadresse an „die Genossen der Parteiführung“ zum 30. Jahr des DDR-Bestehens. Darin heißt es:
„An der Seite der Arbeiterklasse gehören wir zu den Siegern der Geschichte.“
National wie international galt der Ausschluss als Skandal, als schwerer Schlag für das Ansehen der DDR. Fünf der ausgeschlossenen Autoren verließen wenig später das Land. Die vier, die blieben, wie der nachmalige Bundestags-Alterspräsident Stefan Heym, mussten erhebliche Schikanen hinnehmen: Veröffentlichungen wurden verhindert, Bücher aus den Verlagsprogrammen gestrichen. Dieser Umgang mit den eigenen Autoren prägte das Bild von der DDR-Kulturpolitik bis zu ihrem Ende: selbst wer zum System stand, konnte in diesem Staat zum Feind werden. Das mutet heute makaber an.