„hineingestellt in düstere Tragödien“
22. Juni 2019 von Thomas Hartung
Allein ihre Herkunft bietet genug Stoff, diese Frau mit wilden, verbrecherischen und leidenschaftlichen Zügen zu malen. Im freizügigen Rom der Renaissance war es zwar keine Seltenheit, dass kirchliche Würdenträger Kinder zeugten. Man nannte sie beschönigend „nipoti“ (Neffen) – sie verkehrten im Vatikan und bereicherten die Sprache durch den neuen Terminus „Nepotismus“ (Günstlingswirtschaft): Die Geistlichen vergaben an sie Pfründe oder Kardinalstitel. Wie wild es aber Kardinal Rodrigo Borgia aus dem spanischen Valencia trieb, dessen Familie mit seinem Onkel Calixtus III. bereits einen Papst gestellt hatte, stellte alles in den Schatten, was der skandalträchtige Vatikan bislang erlebte: Er zeugte mit mehreren Frauen zehn Kinder und führte damit jedes Zölibat ad absurdum.
Seine Favoritin Vanozza de’ Cattanei, eine nicht mehr junge und durchaus vermögende Herbergswirtin, gebar ihm allein vier Nachkommen: Cesare, Juan, später noch Jofré – und am 18. April 1480 die Tochter Lucrezia. Anfangs von Nonnen eines dominikanischen Frauenklosters unterrichtet, verbrachte sie ihre frühe Kindheit vermutlich bei ihrer Mutter und wurde mit acht Jahren ins Haus von Adriana de Mila geschickt, einer Cousine ihres Vaters, um dort einen adligen Schliff zu bekommen. Sie wird von Privatlehrern in Latein, Griechisch, Malen, Musik, Tanz und im Schmieden von Versen unterrichtet und am Ende Italienisch, Spanisch und Französisch sprechen.
Rodrigo Borgia, der diese vier Kinder über alles liebte und oft besuchte, war vernarrt in seine überaus hübsche Tochter, die sich später als Erwachsene wie ihr Vater als charmant, hochintelligent, beredt und diplomatisch geschickt erwies. Gleichwohl verstand er unter ihrem Glück nur das, was der Familie nützte. Oder, wie Ferdinand Gregorovius, einer ihrer Biographen, schrieb: „Wenn sie nicht seine Tochter und die Schwester Cesares gewesen wäre, so würde sie kaum in der Geschichte ihrer Zeit bemerkt worden sein … Doch in den Händen ihres Vaters und Bruders wurde sie das Werkzeug und auch das Opfer von politischen Berechnungen, welchen sie Widerstand entgegenzusetzen kaum die Kraft besaß.“
„ihr Hals ist schlank und schön“
Denn bei aller Bildung lautet auch in der Renaissance die Faustregel: Frauen sollen mit ihrem Wissen niemals die Männer überflügeln und früh eine für ihre Familie politisch vorteilhafte Ehe eingehen. So wurde Lucrezia bereits mit 10 Jahren mit dem Grafen von Oliva, Don Cherubin de Centelles, verlobt. 1491 löste ihr Vater diese Verbindung jedoch, um seine Tochter im selben Jahr per procurationem mit dem Grafen Gasparo von Procida und Aversa zu verheiraten. Bevor diese Ehe aber körperlich vollzogen werden konnte, wurde sie schon im selben Jahr mit päpstlichem Dispens wieder gelöst.
Denn am 10. August 1492 hatte das Kardinalskollegium Borgia zum Papst gewählt – hohe Bestechungssummen sollen zuvor geflossen sein. Der neue Pontifex nannte sich Alexander VI. und erklärte seine unehelichen Kinder für legitim – ein Novum. Die blonde Lucrezia, schon halbwüchsig eine Schönheit, diente dem Papst als Lockmittel für seine politischen Pläne, in Italien ein Borgia-Reich zu errichten: Angeblich wird sie einem Kardinal als „Belohnung“ für seine Stimmabgabe überlassen. Bereits 1493 wird sie mit Giovanni Sforza aus der mächtigen Mailänder Herzogsfamilie verheiratet, die Alexanders Papstwahl unterstützt hatte. Der bei seinen Untertanen reichlich unbeliebte Sforza wollte angeblich nichts von einer Aufnahme der ehelichen Beziehungen mit seiner erst 13-jährigen zweiten Frau wissen; die Ehe wurde 1497 für ungültig erklärt, weil Sforza zeugungsunfähig sei.
Tatsächlich war er, der schon am Tod seiner ersten Frau durch Misshandlung nicht ganz unschuldig gewesen sein soll, in ein Mordkomplott gegen ihren zweiten Bruder Juan Borgia verwickelt. Gerüchte besagen, auch Lucrezia habe dabei mitgewirkt. Hintergrund war das äußerst innige Verhältnis zu ihrem Bruder Cesare, der Juan als Konkurrent um die Gunst des päpstlichen Vaters beseitigen ließ. Im Zuge der erzwungenen Scheidung erkennt Biograf Volker Reinhardt in Lucrezia eine ungewöhnliche Charakterstärke. Sie zog sich gegen den Willen ihres Clans in ein Kloster zurück: „Alle Indizien deuten darauf hin, dass ihr die stetig zunehmende Gewalt der Familie und die immer krasseren Normenübertretungen und Tabubrüche zuwider waren.“
Problematisch war allerdings Sforzas spätere Behauptung, seine Ehe wäre nur unter Druck und nur aufgelöst worden, damit ihr päpstlicher Vater und ihr Bruder Cesare ungestört Blutschande mit Lucrezia treiben könnten. Diese Behauptung, aufgestellt von einem im Stolz verletzten Manne, sollte Lucrezia bis zu ihrem Tode und weit darüber hinaus verfolgen. Nahrung erhielt sie noch im selben Jahr: Lucrezia soll eine Affäre mit Perotto, einem Kämmerer ihres Vaters, gehabt und im Geheimen ein Kind namens Giovanni zur Welt gebracht haben.
Prompt sprießen Gerüchte, dass das Kind aus einer Inzest-Verbindung mit ihrem Bruder Cesare oder gar ihrem Vater entstanden sei – zwei päpstliche Bullen legen das nahe, nicht aber ihre Mutterschaft. Lucrezias Biografin Maria Bellonci weist das zurück und erklärt das Geheimnis dieser Liebe sowie diese Geburt zum einschneidendsten Ereignis in ihrem Leben: „Es hat ihren Geist und Charakter wesentlich geformt“. Ihr Lieblingsbruder Cesare, den kein geringerer als Niccolo Machiavelli zum Inbegriff des grausamen Renaissance-Fürsten stilisiert hat, soll den Kindsvater erstochen haben.
Monatelang zurückgezogen
Legendenumwittert ist auch ihre 1498 geschlossene nächste Ehe mit dem 17-jährigen Don Alfonso, einem unehelichen Sohn von König Alfonso II. von Neapel. Lucrezia, die sich nun Herzogin von Bisceglia nennen durfte, war entzückt von ihrem mittlerweile dritten Gatten, der als einer der schönsten Männer Italiens galt. Und auch Alfonso soll sich sofort in seine schöne und charmante Gemahlin verliebt haben. Der Gesandte Niccolò Cagnolo aus Parma beschrieb sie: „Sie ist von mittlerer Größe und anmutiger Gestalt, ihr Gesicht ist eher lang, die Nase schön geschnitten, das Haar golden, die Augen haben keine besondere Farbe, ihr Mund ist ziemlich groß, die Zähne sind strahlend weiß, ihr Hals ist schlank und schön, ihr Busen bewundernswürdig geformt. Immer ist sie fröhlich und lächelt.“
Am 1. November 1499 gebar Lucrezia in Rom einen Sohn, der den Namen Rodrigo erhielt und nur dreizehn Jahre alt wurde. Das Glück endete, als Alexander VI. sich mit dem französischen König Ludwig XII. verbündete, einem Feind seines Schwiegersohns: Am 15. Juli 1500 wurde Alfonso auf der Straße überfallen und schwer verletzt. Lucrezia und seine Schwester Sancia pflegten ihn gesund. Als er wieder aufstehen konnte, schoss er mit Pfeil und Bogen auf seinen Schwager Cesare, den er als Anstifter des Anschlags verdächtigte. Er verfehlte ihn, und der Angegriffene ließ ihn daraufhin erwürgen. Der Kurien-Zeremonienmeister Johannes Burckard notierte trocken: „Da Alfonso sich weigerte, seinen Wunden zu erliegen, wurde er um vier Uhr nachmittags erdrosselt.“
Die Botschafter verbreiten diesen ungeheuerlichen Skandal in ganz Europa. Nun ist auch der Papstpalast entweiht, der Vatikan zum blutbesudelten Tatort geworden. Nichts unterscheidet ihn mehr von einem weltlichen Fürstenhof. Lucrezia soll den Mord mehr oder weniger miterlebt haben. Völlig verzweifelt, da sie Vater und Bruder ebenso liebte wie ihren Mann, zog sie sich monatelang in den Palast von Nepi zurück. Vor Weihnachten kehrte sie jedoch wieder zu ihrer Familie zurück, die ihr über ihren Kummer hinweghelfen wollte, indem sie unzählige aufwendige Spiele und Tanzveranstaltungen arrangierte.
Eine davon, das von Cesare veranstaltete „Kastanienbankett“ vom 31. Oktober 1501 im Apostolischen Palast, goss wiederum Wasser auf die Mühlen der „femme fatale“-Verfechter. Nach Burckards Schilderung sollen „50 ehrbare Dirnen“ nach dem Mahl zuerst mit den Dienern und den anderen Anwesenden nackt getanzt und dann auf den Boden gestreute Kastanien „auf Händen und Füßen zwischen den Leuchtern durchkriechend“ aufgesammelt haben, wobei der Papst, Cesare und seine Schwester anwesend waren. Schließlich seien Preise ausgesetzt worden „für die, welche mit den Dirnen am öftesten den Akt vollziehen könnten“. Von einer Beteiligung Lucrezias an der Orgie ist nirgends zu lesen, dennoch steht diese Szene im Mittelpunkt vieler Pornoadaptionen ihres Lebens.
Die einundzwanzigjährige mehrfach geschiedene Witwe soll sich nun ihren vierten Gatten angeblich selbst ausgesucht haben – ihr Vater, in dessen Blick sie inzwischen ihren höchsten Marktwert erreicht hat, wollte ihr nach der Ermordung Alfonsos jeden Wunsch erfüllen, und aus politischen Gründen konnte das Geschlecht des Erwählten zur Sicherung der Romagna, einem bedeutenden Kirchenlehen, das für Cesar in ein Herzogtum umgewandelt werden sollte, sehr wichtig werden. Warum ihre Wahl auf den arroganten und kaltherzigen, vier Jahre älteren Alfonso d’Este fiel, ist nicht bekannt.
Während alle Zeitgenossen von ihrer Schönheit, Klugheit und ihren angenehmen Umgangsformen schwärmten, hielten sie Alfonso für undurchsichtig, rachsüchtig und gefühlskalt. Er galt als sachverständiger Kenner allen Militärwesens, zumal des ballistischen, besonders des Geschützgusses. Vielleicht war Lucrezia von seiner großen, stattlichen Erscheinung beeindruckt. Ihr Ruf war durch das Wüten des Cesare und die Ausschweifungen des Papstes aber schon so geschädigt, dass der deutsche Kaiser Maximilian I. Einspruch gegen diese Eheschließung erhob.
Als Unternehmerin tüchtig
Nach einem monatelangen Kampf um den Ehekontrakt und der Heirat am 30. Dezember 1501 verabschiedete sich Lucrezia endlich am 6. Januar 1502 von ihrem vom Abschiedsschmerz gezeichneten Vater und ihrem erst 14 Monate alten Sohn Rodrigo, den sie nicht mit in ihre neue Ehe nehmen durfte und nie wieder sehen sollte. Ihr Zug nach Ferrara soll aus insgesamt 660 Pferden und Maultieren und 753 Personen bestanden haben, darunter Köche, Sattler, Kellermeister, Schneider und ein Goldschmied. Ihr Vater zwang alle Kardinäle zum Ehrengeleit bis ans Stadttor.
Die Ehe erwies sich als Glücksfall. Der Herzog erlaubte ihr weitgehende Freiheiten. Sie betätigte sich als Kunstmäzenin, förderte den jungen Maler Tizian und den Gelehrten Aldus Manutius. Als erste europäische Stadt erhielt Ferrara einen festen Theaterbau. Der Dichter Ludovico Ariosto („Orlando furioso“) besang die neue Herrin Ferraras in schwelgerischen Versen: „Alle anderen Frauen gleichen Lucrezia wie das Zinn dem Silber, das Kupfer dem Gold, die Mohnblume der Rose, die bleiche Weide dem immergrünen Lorbeer“. Ihr dichtes blondes Haar soll bis kurz vor ihrem Tod bis zu den Knien gereicht, ihre haselnussbraunen Augen oft die Farbnuancen geändert haben.
Überdies war Lucrezia jetzt auch als Unternehmerin tüchtig, erwarb in Norditalien scheinbar wertloses Sumpfland, das sie mithilfe von Entwässerungsgräben und Kanälen trockenlegen ließ, um bis zu 20.000 Hektar kostbares Weide- und Ackerland zu erlangen, mit dem große Gewinne erwirtschaftet wurden. Zudem betraute sie ihr Vater mehrmals mit den Geschäften des Vatikans. Berthold Seewald seufzt in der WELT: „Tiefer, so wird es wohl den Kirchenfürsten erschienen sein, konnte der Vatikan nicht mehr sinken. Eine strahlend schöne Frau und Mutter, von der es hieß, sie feiere mit ihrer Familie Orgien, und deren Bruder eine einzige Blutspur hinterließ, leitete das Konsistorium der Kardinäle. Aus frivolen Fantasien und abgrundtiefem Hass wurden Gerüchte mit dem Segen der Kirche.“
Derweil begann der Stern der Borgias zu sinken: 1503 starb Alexander VI., sein Nachfolger Julius II. war ein vehementer Gegner der Familie. Lucrezia gebar nach siebenjähriger Ehe endlich den ersehnten Stammhalter, den späteren Herzog Ercole II., ein Vorfahr von Marie Antoinette. Ihr Verhältnis zu Männern blieb weiter tragisch. Als der Florentiner Humanist Ercole Strozzi Lucrezia 1508 ein freizügiges Gedicht widmete, wurde er wenig später ermordet aufgefunden. Wieder kursierten wilde Gerüchte über den verderblichen Einfluss der Dame Borgia. 1513 nahm sie der neue Papst Leo X. unter seinen persönlichen Schutz, quasi eine Ehrenerklärung. Auch Ehemann Alfonso d’Este stellte sich hinter sie. Doch ihr schlechter Ruf blieb haften, obwohl die nächsten Jahre ohne Skandal verstrichen.
Während ihrer Ehe mit Alfonso gebar sie insgesamt acht Kinder, von denen vier das Erwachsenenalter erreichten. Der amerikanische Bürgerkriegsgeneral P.G.T. Beauregard und die Schauspielerin Brooke Shields verzeichnen sie in ihrer Ahnentafel. Lucrezia erlitt, zunehmend religiöser und vergeistigter geworden, noch mehrere Fehlgeburten, bringt am 24. Juni 1519 als 39-Jährige wieder eine nicht lebensfähige Siebenmonatstochter zur Welt und erkrankt am Kindbettfieber. In der Nacht halten ihr die Ärzte ein letztes Mal eine Kerze vor den Mund. Die Flamme bleibt still.
„Frau von unergründlicher Schwermut“
Als Herzogin von Ferrara war Lucrezia von ihrem Volk sehr geliebt worden. Auch das Herz ihres Gatten hatte sie im Laufe ihrer Ehe erobert. So schrieb Alfonso seinem Neffen nach ihrem Tod „Und nicht ohne Tränen kann ich dies schreiben, so schwer wird es mir, mich einer so lieben und süßen Gefährtin beraubt zu sehen, denn das war sie mir durch ihre guten Sitten und die zärtliche Liebe, die zwischen uns bestand.“
Weil Lucrezia aber ebenso schön wie mächtig war, blühten Fantasien von einer betörenden Hexe, einer Giftmischerin, Intrigantin und zügellosen Nymphomanin. Im Laufe der Jahrhunderte verzerrte sich ihr Bild zum Inbegriff der skrupellosen Femme fatale, die splitternackt vor ihrem Vater und dem vatikanischen Hof tanzt, stets einen vergifteten Ring am Finger trägt, um sich aller Feinde rasch entledigen zu können, und die an ihrem Hof wüste Orgien feiert. Es ist ein Ruf, der bis dato über sie verbreitet wird. Schon Victor Hugo widmete der Papsttochter 1833 ein Drama, das Gaetano Donizetti zu einer Oper verarbeitete, in der Lucrezia als lustvoll-tragische Giftmischerin bis heute die Bühnen der Welt beherrscht – in „Assassin’s Creed: Brotherhood“ selbst die virtuelle Bühne eines Computerspiels.
Bellonci meint zwar 1939 nach Auswertung aller überlieferten Quellen, die wahre Persönlichkeit der Lucrezia Borgia herausgearbeitet zu haben – als eine Frau „von unergründlicher Schwermut, hineingestellt in düstere Tragödien ihrer eigenen Familie, aber von hoher Intelligenz und mit einer kraftvollen Natur versehen“. Umsonst. Hollywood hat ihr Schicksal zahlreich verfilmt – bis zu Francis Ford Coppolas „Pate“-Trilogie, die die Geschichte des Hauses Borgia zum Vorbild genommen hat, wie Mario Puzo sie aufschrieb. Und 2011 konkurrierten in Deutschland gleich zwei Fernsehserien um die Deutungshoheit in Sachen Borgia. Die zeitlich erste, eine ZDF-Produktion, die sich mit einem Etat von 25 Millionen Euro brüstete, brachte es auf sage und schreibe 157 Liter Filmblut.