„Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit“
23. Juli 2019 von Thomas Hartung
Gesegnet mit einem reichen genetischen Erbe kam er zur Welt: sein Großvater Thomas Henry Huxley, genannt „Bulldogge Darwins“, hatte seinen Landsleuten die revolutionären Theorien seines scheuen Freundes Charles über die „Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ so lange eingepaukt, bis auch der erste Herzog und der letzte Fabrikarbeiter im Affen ihren Urvater erkannten. Sein Bruder Julian, ein bedeutender Zoologe, sollte erster Generaldirektor der Unesco werden. Und sein Halbbruder Andrew, ein Physiologe, holte sich 1963 den Nobelpreis.
Und gesegnet mit einem bewusstseinserweiternden Trip verließ er die Welt wieder: seine Frau verabreichte dem Krebskranken im Endstadium auf seinen Wunsch hin LSD. Dazwischen publizierte er „im Glanz seines Witzes, seines eleganten Stils, seiner enzyklopädischen Gelehrsamkeit“ (SPIEGEL) ein Dutzend Romane, dazu Erzählungen, Reiseimpressionen, Biographien, Theaterstücke und Drehbücher sowie ein enormes essayistisches Werk von kunterbunter Thematik kreuz und quer durch die abendländische Kulturgeschichte. Am 26. Juli würde Aldous Huxley 125 Jahre alt.
„wie ein Dummkopf sich einen Klugen vorstellt“
Geboren als Sohn des Schriftstellers Leonard Huxley und dessen erster Frau Julia, soll sein Baby-Kopf so groß und gewichtig gewesen sein, dass er erst im Alter von zwei Jahren laufen konnte. Er besuchte die Hillside School in Malvern (Worcestershire), wurde aber auch von seiner eigenen Mutter unterrichtet, bis sie schwer erkrankte und 1908 starb. Er wechselte ans noble Eton College. 1911 litt er an einer Augenkrankheit und war danach drei Jahre lang fast blind. „Ogie“, das „Ungeheuer“, nannten seine Freunde den 1,93 Meter dürren Schüler mit der dicken Brille und dem beißenden Witz.
Von 1913 bis 1916 studierte er Literatur in Oxford, schloss mit der Bestnote ab und machte das Schreiben zu seinem Beruf: Sein erstes Buch „The Burning Wheel“ erschien bereits 1916. Ein Jahr lang unterrichtete er auch Französisch am Eton College, wo George Orwell zu seinen Schülern zählte. Als Lehrer sei er zwar unfähig gewesen, für Ordnung im Unterricht zu sorgen, aber wegen seiner brillanten sprachlichen Fähigkeiten bewundert worden.
1919 heiratete er die Belgierin Maria Nys, wurde 1920 Vater eines Sohnes und arbeitete als Journalist und Kunstkritiker. In den 1920er Jahren hielt er sich mit Frau und Sohn öfter in Südeuropa, zumal in Italien auf und besuchte dort seinen Freund D. H. Lawrence, für den Maria die zweite Hälfte der „Lady Chatterley“ ins Reine tippte. Währenddessen verhöhnte ihr Ehemann die Liebe als puren Sex, den wiederum als der Menschheit ekligste Seuche und karikierte seine Zeitgenossen als hässliche Parasiten, so in den Romanen „Crome“ (1921), „Parallelen der Liebe“ (1925) und „Kontrapunkt des Lebens“ (1928). Der „große Mahatma aller Misanthropen“ in einer gottverlassenen Nachkriegsgesellschaft wurde er genannt, heimgesucht von den Kollektivpsychosen der modernen Zivilisation.
Für den hemdsärmeligen Vollbluterzähler Ernest Hemingway war das bloß „intellektuelles Gegrübel“, „künstlich konstruierten Charakteren in den Mund gelegt“. Romangestalten, erklärte Huxley dagegen, seien für ihn „nichts als Marionetten mit Stimmen, um Ideen und die Parodie von Ideen zu äußern“. Was er erstrebe, sei die „vollkommene Verschmelzung von Roman und Essay“, so der lange, dünne Ästhet und pure Intellektuelle, der zwar eine „wandelnde Enzyklopädie“ (Bertrand Russel), in allen praktischen Dingen jedoch hoffnungslos unbeholfen gewesen sei. Huxley, bemerkte ein boshafter Kollege, sei „dieser Pedant, der lüstern der Paarung von Krebsen zusieht, ohne je fähig zu sein, einen zu fangen oder gar zu kochen“. Aldous, lobte die Literatin Elizabeth Bowen bissig, war genau so, „wie ein Dummkopf sich einen Klugen vorstellt“.
1932 folgte dann der Roman, der ihn berühmt machte, zu den einflussreichsten Romanen des 20. Jahrhunderts zählt und neben Orwells „1984“ als Musterbeispiel einer totalitären Diktatur in der Literatur gilt: „Schöne Neue Welt“, deren Menschenkinder genormt aus Retorten schlüpfen und ihr Dasein in glücklichem Schwachsinn verbringen, drogenselig kopulierend bis zum milden Ende durch Euthanasie. Der Text inspirierte Autoren aller Generationen zu eigenen Zukunftsvisionen und ist in einigen deutschen Ländern im Fach Englisch bis heute eine abiturrelevante Lektüre. 1998 wählte ihn die Modern Library auf Rang 5 der 100 besten englischsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts, in ähnlichen Listen der BBC und des Observer taucht er auch weit vorn auf.
„Klassiker der neuzeitlichen Zivilisationsmiesepeterei“
Die Geschichte ist in der Zukunft des Jahres 2540 angesiedelt, das nach der Zeitrechnung in der neuen Welt 632 nach Ford heißt. Statt Christi Geburt ist 1908 das Maß der Zeit, als mit Einführung der Fließbandarbeit der erste Ford T in Detroit vom Band rollte – und so ersetzt auch in der Symbolik des totalitären Staates der schönen neuen Welt ein T das christliche Kreuz. Dieser Weltstaat mit dem Wahlspruch „Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit“ wird von zehn Controllern gelenkt. Nach einem neunjährigen Krieg wurden Kunst, Wissenschaft und Religion abgeschafft. Kinder werden nicht mehr von Eltern gezeugt, sondern – planwirtschaftlich organisiert – künstlich hergestellt.
So entsteht eine Kasten-Gesellschaft, in der Menschen als Alpha- (in der obersten Schicht) bis Epsilon-Wesen (in der untersten Schicht) kategorisiert und im Labor mit mehr oder weniger Fähigkeiten ausgestattet werden: Zuerst als Embryonen manipuliert, als Babys konditioniert und je nach Kaste dann in ihren Bedürfnissen befriedigt, sodass Unzufriedenheit nicht aufkommen kann und sie so auch ihre Situation nicht infrage stellen. Grenzenloser Konsum und Geschlechtsverkehr mit häufig wechselnden Partnern ohne tiefe Beziehungen sollen für Ruhe und Stabilität im System sorgen. Dabei hilft auch die Droge Soma, die, sobald jemand von Situationen, die von der Norm abweichen, irritiert wird, beruhigt, ausgleicht und glücklich macht. Ein konsumistischer Kommunismus ist entstanden: Bildung wird auf pragmatische, für die Gemeinschaft nützliche Wissensvermittlung reduziert, „Geschichte ist Mumpitz“ (Henry Ford) und findet nicht mehr statt, Kulthandlungen ersetzen Religion.
Die eigentlich als Satire gedachte Utopie vom allmächtigen Wohlfahrtsstaat, dem ein Shakespeare-Zitat aus dem „Sturm“ den Titel gab („O schöne neue Welt, die solche Bürger trägt!“) lässt jedes Lachen im Halse steckenbleiben. Nach Ansicht der FAZ handele sich dagegen „bei diesem Klassiker der neuzeitlichen Zivilisationsmiesepeterei um eine Sorte Satire, wie sie schwerfälliger auch der Arbeitskreis Weihnachts-Laientheater der katholischen Landjugend von Nieder-Dossenbach nicht zuwege gebracht hätte.“ Der Roman wurde bis heute nicht als Kinofilm realisiert, liegt aber in mehreren Hörspieladaptionen und Dramatisierungen vor, die gern in Sachsen aufgeführt werden (!), und war Titelsong des 12. Albums der britischen Heavy-Metal-Band Iron Maiden.
Während sich Europas Himmel verdüsterte und in Spanien der Bürgerkrieg losbrach, träumte der Pazifist Huxley vom „Einssein der Menschheit“ und hielt auf Versammlungen Plädoyers für den Weltfrieden: der Mensch sei „kein kämpfendes Tier“. 1937 emigrierte dieser „kühle, leicht antiseptisch wirkende, aber humane und sanfte Mann“ (Virginia Woolf) mit Frau und Sohn nach Amerika und suchte in Kalifornien sein Heil auf den Wegen der Erleuchtung. Er versenkte sich in die Mystik des Ostens, fand geistigen Zuspruch in den Meditationszirkeln der Ramakrischna-Jünger von Hollywood und lebte dann fünf Jahre lang auf seiner Ranch am Rand der Mojave-Wüste im Angesicht der Unendlichkeit.
„gewissenloser ästhetischer Selbstgenuss“
In dieser Zeit lassen sich in seiner Publizistik zwei Themenkreise feststellen. Der eine überspitzt seinen Wandel vom philosophierenden Humanisten zum spirituellen Mystiker: Huxley spürte einem höheren, transzendentalen Bewusstseinszustand nach, den er im Meskalin- und LSD-Rausch zu erlangen suchte. Denn: „Nur durch die Verwandlung des individuellen Charakters kann Gottes Natur und Wille wirklich begriffen werden, kann es eine dauerhafte Verwandlung der Zivilisation oder Menschheit geben.“ Resultat war 1954 „Die Pforten der Wahrnehmung“, oft zusammen veröffentlicht mit dem Nachfolgeband „Himmel und Hölle“ 1956 – dem Jahr, in dem seine Frau Maria starb.
Darin beschreibt er nachgerade enthusiastisch die nach Selbstversuchen wahrgenommenen Auswirkungen des Psychedelikums Meskalin, das völlig unschädlich sei, keinerlei Katzenjammer hinterlasse und keine gefährlichen, enthemmenden Auswirkungen wie etwa Alkohol habe. „Christentum und Alkohol passen nicht zueinander und können es auch nicht. Christentum und Mescalin scheinen sich besser zu vertragen“, lautet sein verblüffendes Fazit. Das Mescalin-Erlebnis dürfte zu dem gehören, was katholische Theologen eine „wirksame Gnade“ nennen. Huxley definiert sie – im Widerspruch zu theologischer Lehre – als „nicht erforderlich für die Erlangung des Seelenheils, aber möglicherweise eine wertvolle Hilfe und dankbar anzunehmen, wenn sie geboten wird.“
Die Eloge auf die bewusstseinserweiternde Wirkung des im Übrigen „völlig unschädlichen“ Stoffes, von den Blumenkindern der späten sechziger Jahre zum Evangelium erhoben, trug ihm wilde Proteste ein. Für Thomas Mann, der einst die Kunst des Kollegen als „eine feinste Blüte westeuropäischen Geistes“ bewundert hatte, zeugte sie einzig und allein von „gewissenlosem ästhetischem Selbstgenuss“. Das Buch inspirierte den Harvard-Psychologen Timothy Leary und den „Doors“-Chef Jim Morrison. 1957 heiratete er seine zweite Frau Laura, eine italienische Geigerin und Psychotherapeutin.
Der andere Themenkreis gab seinem Skeptizismus, Existentialismus und Moralismus Ausdruck, so 1956 in der Novelle „Das Genie und die Göttin“ über einen Physik-Nobelpreisträger mit infantilem Gemüt und phänomenalem Superhirn und dessen Frau, einer gewaltigen, blonde Schönheit vom Typ einer germanischen Heroine. Der puritanisch erzogene, ahnungslose Assistent des Physikers, der die Geschichte im Alter erzählt, kommt in die paradoxe Lage, dass er das Leben des Professors nur retten kann, indem er ihn mit seiner Frau betrügt. Huxley, mit dem Vokabular und den interessantesten Ergebnissen der modernen Naturwissenschaften wohl vertraut, berichtet den erstaunlichen Vorfall mit beträchtlichem psychologischem Witz und vielen beiläufigen, bissig-zutreffenden Bemerkungen über den Zeitgeist.
In „Dreißig Jahre danach“ beleuchtet Huxley 1958 die Fortschritte seit „Brave New World“ in Richtung dieses Szenarios und erläutert die Bedingungen, die der Entstehung einer wissenschaftlichen Diktatur förderlich seien, darunter Überbevölkerung, Überorganisierung sowie Propaganda und Gehirnwäsche. Daneben kritisiert er die Tendenz zur Verflachung der politischen Meinungsbildung in den USA und warnt er vor einer Gesellschaft, in der die Wahrheit in einem Meer von Belanglosigkeit untergeht, ja warnt vor jenen, die uns täglich mit einem Wust von Einzelinformationen vollstopfen. Die Folgen solcher Völlereien seien gravierend, sie beseitigen die Demokratie und ließen eine Scheinwelt entstehen, weil die Menschen Informationen nur als Bruchstücke wahrnehmen.
„durch unseren Wunsch, glücklich zu sein“
1960 diagnostizierten die Ärzte bei ihm einen Zungentumor. Von einer Operation, die sein Sprechvermögen lädiert hätte, wollte Huxley nichts wissen, entschied sich für eine Strahlenbehandlung und nahm, unablässig schreibend, seine Arbeit wieder auf. So setzte er sich mehrfach mit Charles Percy Snows Klage über die Existenz zweier Kulturen auseinander, die sich nicht nur verständnislos, sondern sogar feindlich gegenüberstehen, zwischen denen es so gut wie keine Kommunikationsmöglichkeiten mehr gibt: die traditionelle humanistische Kultur – und die neue naturwissenschaftliche.
Huxley deutet die These um in das Phänomen zweier Sprachen: Die normale, für ihn unbrauchbare Alltagssprache wolle der Dichter zu einem Ausdrucksmittel von möglichst großer Vieldeutigkeit und Beschwörungskraft läutern – während der Wissenschaftler aus der für ihn nicht weniger unbrauchbaren Normalsprache sich ein Instrument der größtmöglichen Eindeutigkeit und Präzision zu schaffen sucht. Die Verfeinerung in beiden Richtungen sei nun so weit fortgeschritten, dass sozusagen Übersetzungen aus der einen Sprache in die andere nicht mehr möglich schienen.
1961 brannte sein Haus in Kalifornien mit seiner Bibliothek und allen Manuskripten nieder. „Für mich“, sagte Huxley, „war es ein Zeichen, dass der grimmige Schnitter mich ins Auge fasste.“ Doch der Stoff seines Lebens ließ den Sozial-Utopisten bis zum Ende seines Lebens nicht los: in seinem letzten Buch „Eiland“ (1962) lieferte er ein philanthropisches Gegenstück zur zynisch-pessimistischen Dystopie von 1932. Das Gemeinwesen Pala ist das Ergebnis eines Experiments, begonnen vor mehr als hundert Jahren von zwei Männern: Dem erst kalvinistischen, später atheistischen schottischen Arzt MacPhail und dem Inselfürsten Murugan. Diese Auslese – vom Westen wurden Elektrizität, Medizin und Biologie übernommen, der Osten steuerte buddhistische Religiosität und erotische Tradition bei – erwies sich nicht zuletzt wiederum durch eine Droge namens „Moksha“ als segensreich, berichtet ein zeitreisender Journalist.
Volkes Stimme gibt er so wieder: „Wir haben kein Bedürfnis nach euren Rennbooten oder eurem Fernsehen. Noch weniger nach euren Kriegen und Revolutionen, euren Renaissancen, euren politischen Schlagworten, eurem metaphysischen Unsinn aus Rom und Moskau“. Und: „Wir produzieren und importieren nur das, was wir uns leisten können. Und dieses Leistungsvermögen wird nicht nur begrenzt durch unseren Vorrat an Pfunden und Mark und Dollars, sondern auch … durch unseren Wunsch, glücklich zu sein, unseren Ehrgeiz, ganz und gar menschlich zu werden.“ Entstanden ist weniger ein Roman als eine Folge dramatisierter, oft langweiliger Essays über Gesetzesreformen, künstliche Befruchtung und Promiskuität wie auch über Erziehungs- und Industrialisierungsprobleme.
Im Folgejahr hatte sich der Krebs überall in seinem Organismus eingenistet. Am 22. November 1963 schob er, unfähig zu sprechen, seiner Frau einen Zettel zu: „Versuch es mit 100 Mikrogramm LSD intramuskulär.“ Von dem Trip kehrte er nicht mehr zurück. Es war derselbe Tag, an dem John F. Kennedy den Schüssen von Dallas zum Opfer fiel. Die Welt nahm die Nachricht vom Tod des Schriftstellers daher kaum zur Kenntnis. Bleiben werden nicht nur seine Romane und Essays, sondern auch seine kurzen Spitzen: „Wer so tut, als bringe er die Menschen zum Nachdenken, den lieben sie. Wer sie wirklich zum Nachdenken bringt, den hassen sie“, lautet eine, die nach wie vor sehr wahr ist.