„Pfadfinder unserer Republik“
6. Juli 2019 von Thomas Hartung
Er dürfte der einzige namhafte deutsche Politiker sein, der je einen Bären erlegte: 1996 in den rumänischen Karpaten. „Mit einem einzigen Schuss“, wie er der Deutschen Jagdzeitung stolz erzählte. Überhaupt spielten bei dem passionierten Jäger Tiere eine besondere Rolle: „Mein Hund ist als Hund eine Katastrophe, aber als Mensch unersetzlich“, beschrieb er augenzwinkernd seinen Dackel „Mücke“ in der Süddeutschen Zeitung. Und anlässlich seines Ägypten-Besuchs als Minister für Entwicklungshilfe textete der SPIEGEL bereits im April 1963 „Scheel konnte nur mit Mühe von dem Kamel ‚Bismarck‘ absitzen, das ihn um die Pyramiden von Gizeh getragen hatte, weil das Tier sich durch heftige Abwehrbewegungen dem Abstieg des Bonner Kreditverteilers widersetzte.“ Walter Scheel, der vierte deutsche Bundespräsident, würde am 8. Juli 100 Jahre alt.
Er habe „die undefinierbare Eigenschaft, sympathisch zu sein“, schrieb Walter Henkels 1974 in einer Anekdotensammlung: „Was Adenauer konnte, das kann auch Scheel: spielen.“ Es sei sein eigentliches Erfolgsrezept gewesen, „stets unterschätzt zu werden“, meinte Stefan Dietrich in der FAZ. „Erst im Rückblick entpuppte sich das Spielerische in Scheels Wesen als die hohe Kunst des Spiels um die politische Macht – und seine Bonhomie als perfekte Tarnung eines ans Draufgängerische grenzenden Wagemuts.“ Er bleibe als „sanguinische Frohnatur in Erinnerung“, so Dietrich weiter, als „singender Präsident, der sein Amt in schwieriger Zeit … mit rhetorischem Glanz und staatsmännischer Würde versah, auf unverkrampfte Weise volkstümlich sein konnte, im Ausland eine gute Figur und der Politik wenig Scherereien machte.“
„Wie kommst du hier heil raus?“
Geboren in Solingen als Sohn eines Stellmachers, absolviert er 1938/39 nach dem Abitur eine Ausbildung zum Bankkaufmann bei der örtlichen Volksbank. Sofort bei Kriegsbeginn wurde der 20-Jährige zur Luftwaffe eingezogen: Als einer der „Nachtjäger“, die über Berlin verlustreich gegen die alliierten Bomberflotten kämpften. Die wesentliche Frage, die ihn in den Jahren an der Front bewegt hat, war nach eigenem Bekunden: „Wie kommst du hier heil raus?“ Als frisch gebackener Leutnant hatte er 1942 seine Jugendfreundin Eva Kronenberg geheiratet, mit der er einen Sohn bekam – und war der NSDAP beigetreten, ein Schritt, den er niemals richtig erklärt und begründet hat.
Bereits 1946 war er der neu gegründeten FDP in Nordrhein-Westfalen beigetreten, später Stadtrat in Solingen geworden. Schon 1950 wurde Scheel Landtagsabgeordneter in Düsseldorf, während er zugleich als Geschäftsführer verschiedener Unternehmen, darunter der Stahlwarenfabrik seines Schwiegervaters, und schließlich als selbständiger Wirtschaftsberater tätig war. Erfolg und Aufstieg verdankte er seinem wachen Geist, seinem „behutsamen Umgang mit Menschen“ und einer aufs persönliche Fortkommen gerichteten Härte. 1953 wurde er in den Bundestag gewählt. Von 1958 bis 1961 saß er außerdem im Europaparlament.
In Nordrhein-Westfalen, wo Scheel seit 1954 Landesvorstand der FDP war, gehörte er zusammen mit Hans-Dietrich Genscher zu den sogenannten „Jungtürken“, wie jüngere und radikalere Parteimitglieder damals genannt wurden – heute würde man politisch korrekt von „Jungen Wilden“ sprechen. Sie arbeiteten daran, ihre Partei auch als Koalitionspartner für die SPD attraktiv zu machen, während die Liberalen zuvor in NRW und auf Bundesebene als Juniorpartner der Konservativen aufgetreten waren. Sie waren es 1956, die den Wechsel der FDP zur SPD betrieben, so das Ende der Landesregierung unter der CDU herbeiführten und auch die Unionsmehrheit im Bundesrat zu Fall brachten.
Konrad Adenauer hinderte das nicht, Scheel 1961 in sein Kabinett aufzunehmen. Für ihn wurde das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit geschaffen, das er auch noch im ersten und zweiten Kabinett Erhard führte – ein neues Feld, das die Bundespolitik im zu Ende gehenden Zeitalter des Kolonialismus entdeckt und beackert hat. Zugleich war er mit 42 der Benjamin im Kabinett. Schon ein Jahr danach trat er mit den vier Ministern der FDP vorübergehend zurück, um den von der „Spiegel“-Affäre belasteten Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß zum Rückzug zu zwingen. Das Manöver war erfolgreich. 1966 – dem Jahr, in dem Scheels Frau an Krebs starb – traten die FDP-Minister erneut zurück, da sie nicht einverstanden waren, das Haushaltsdefizit und die wachsende Staatsverschuldung im Bundeshaushalt 1967 mit einer Steuererhöhung zu bekämpfen. Der neue Kanzlerkandidat Kurt Georg Kiesinger konnte sich mit der FDP nicht einigen, wohl aber mit der SPD unter Willy Brandt.
„Ohne ihn einen anderen Weg gegangen“
In der folgenden Zeit der Großen Koalition war es wiederum Scheel, der aus der Opposition heraus die Annäherung der FDP an die SPD in drei Schritten vorbereitete. Der erste: er verdrängte Erich Mende, der auch öffentlich sein Ritterkreuz aus dem Zweiten Weltkrieg trug, von der Parteispitze und läutete den Wechsel vom National- zum Sozialliberalismus ein. Der zweite: Am Vorabend der Bundesversammlung schwor er die Wahlmänner und -frauen der FDP erfolgreich auf den SPD-Präsidentschaftskandidaten Gustav Heinemann ein; und, als dritter, legte er im Jahr darauf seine Partei schließlich auf eine Koalition mit der SPD fest.
Dass er die FDP und sich selbst als Vorsitzenden damit an den Rand des Abgrunds brachte, war ihm wohl bewusst: „Aber wer nur fasziniert der Wählermeinung nachläuft und nicht die Kraft zu einer politischen Entscheidung aufbringt, der wird auf Dauer eben kein stabiler und respektabler Faktor in der Politik sein“, sagte er eine Woche nach der Wahl Heinemanns. Eine Austrittswelle dezimierte und schwächte die kleine Partei, bei der folgenden Bundestagswahl kamen die Freien Demokraten nur knapp über die Fünf-Prozent-Hürde. Aber es reichte, um den Grund zu legen für eine 29 Jahre währende Regierungsbeteiligung seiner Partei.
Denn während Genscher noch bei Helmut Kohl die Bedingungen für ein Regierungsbündnis mit der CDU/CSU sondierte, Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger schon Glückwünsche von US-Präsident Nixon zur Wiederwahl bekam, hatte sich Scheel mit Brandt sich trotz hauchdünner Mehrheit noch in der Wahlnacht telefonisch auf ein SPD/FDP-Kabinett verständigt. Nicht nur, dass nach dieser nächtlichen Grundsatzentscheidung zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik die CDU/CSU nicht mehr den Kanzler stellte. Scheel war auch der erste Freie Demokrat, der das Auswärtige Amt für sich beanspruchte, das dann 28 Jahre lang eine Domäne der FDP war.
Als weitgereister ehemaliger Entwicklungshilfeminister brachte er dafür einige Erfahrungen mit. Ausschlaggebend für Brandt aber dürfte gewesen sein, dass er in Scheel einen überzeugten Verfechter der „neuen Ostpolitik“ an seiner Seite hatte, dem die Verständigung mit den Nachbarn ein ebenso politisches wie persönliches Anliegen war. In den Regierungsjahren 1969 bis 1974 gestaltete Scheel die deutsche Entspannungspolitik mit und rang – zum Beispiel – dem sowjetischen Außenminister Gromyko bei der Formulierung der Ostverträge ab, dass statt der „Unveränderbarkeit“ der Grenzen in Europa nur deren „Unverletzbarkeit“ festgeschrieben worden sei – das geschah, so Scheel, „am vierzehnten Loch des Golfplatzes in Kronberg“. Und mit dem von ihm verfassten „Brief zur deutschen Einheit“ erreichte er das Zugeständnis, dass die gegenwärtige und alle künftigen Bonner Regierungen die friedliche und freiwillige Vereinigung beider deutschen Staaten anstreben dürften, ohne damit vertragsbrüchig zu werden.
Der Kalte Krieg zwischen Ostblock und den Westmächten hielt die Menschen mit Wettrüsten und einem „Gleichgewicht des Schreckens“ gefangen. Mit ihrer Entspannungspolitik stellten Brandt und Scheel die Weiche in die Richtung, die letztlich zur Wiedervereinigung von West- und Ostdeutschland führen würde. „Ohne ihn wäre unsere Republik vermutlich einen anderen und schwereren Weg gegangen“, schrieb Klaus von Dohnanyi rückblickend im SPIEGEL. In dieser Zeit entwickelte Scheel mit anderen Partei-Intellektuellen auch die „Freiburger Thesen“, auf deren Grundlage die FDP 1971 die wirtschaftsliberale Ausrichtung ihres Parteiprogramms änderte hin zu einem Liberalismus, der stärker für Menschenwürde durch Selbstbestimmung und sogar eine Reform des Kapitalismus eintrat.
Scheel war 1971 der erste deutsche Außenminister, der Israel besuchte, und unterzeichnete 1972 den Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR. Ein wichtiger Erfolg war auch seine Reise in die Volksrepublik China, während der die Aufnahme diplomatischer Beziehungen beschlossen wurde, sowie die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die UN 1973 – dem Jahr, in dem er die Bevölkerung mit seiner Interpretation von „Hoch auf dem gelben Wagen“ beglückte. Die Platte zugunsten der „Aktion Sorgenkind“ mit dem Düsseldorfer Männergesangverein wurde bis zum Frühjahr 1974 über 300.000 Mal verkauft. Daneben publiziert er bis 2010 auch politische Bücher und Aufsätze.
Dass Bundespräsident Heinemann auf eine zweite Amtszeit verzichten und die SPD gleichzeitig durch den Rücktritt Brandts in der Guillaume-Affäre in eine schwere Führungskrise stürzen würde, hatte niemand voraussehen können. Scheel aber ergriff die Gelegenheit, sich selbst 1974 um das Amt des Bundespräsidenten zu bewerben. Nicht einmal sein eigener Parteivorstand war auf Anhieb begeistert von dieser Kandidatur. Er gewann schließlich gegen Richard von Weizsäcker und trat am 1. Juli 1974 sein Amt als vierter und bis heute jüngster deutscher Bundespräsident an.
„Hitler war kein Schicksal“
Noch als Außenminister hatte er seinen Witwer-Status geändert und die alleinerziehende Mutter Mildred Wirtz geheiratet, eine Röntgenärztin, die ihm nach einer Nierensteinoperation das Leben rettete. Somit hatte Deutschland die erste Patchwork-Familie im Bundespräsidentendomizil: Beide bekamen noch eine Tochter, Andrea, und adoptierten einen bolivianischen Indianerjungen. Mildred war unabhängig, lachte und feierte gern und wurde drei Mal zur Frau des Jahres gewählt, aber auch einmal zur schlechtangezogensten Frau des Jahres, sehr zu ihrem Amüsement. Sie gründete 1974 die deutsche Krebshilfe und starb 11 Jahre später, international hochgeschätzt, selbst an Darmkrebs.
Die Bilanz von Scheels Amtszeit ist ambivalent. Als oberflächlicher „Bruder Leichtfuß“ galt er, viele störten sich an seiner chronisch guten Laune, seinem steten Frohsinn, seiner konstanten Heiterkeit. Argwöhnisch beobachteten selbst viele Liberale, aber auch etliche Journalisten Scheels Hang zum Genuss, seine Vorliebe für weite Reisen, die Jagd, das Golfspiel, aber auch teure Zigarren, exquisite Küche, exklusive Mode: bereits 1969 wurde er als „Krawattenmann des Jahres“ ausgezeichnet, zum Dekorieren eines Empfangs in Moskau ließ er eine eigene Floristin einfliegen. Unvergessen, dass er als Bundespräsident bei einem Besuch in Mali statt mit der deutschen Nationalhymne mit seiner Version von „Hoch auf dem gelben Wagen“ empfangen wurde. 1976 weigerte er sich, die Wehrpflicht-Novelle zu unterzeichnen, mit der die Gewissensprüfung abgeschafft werden sollte, weil bei der Verabschiedung der Bundesrat übergangen worden war.
Vor allem aber gewann er als Redner Kontur. So wehrte er zum 30. Jahrestag des Kriegsendes 1975 mit dem Satz „Hitler war kein Schicksal, er wurde gewählt“ Versuche ab, das deutsche Volk als Opfer der Nationalsozialisten darzustellen. Und er gab den demokratischen Institutionen auf dem Höhepunkt des linksextremistischen Terrors im „Deutschen Herbst“ 1977 Rückhalt. In seiner bewegenden Rede auf der Trauerfeier für den ermordeten Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer bat er die Angehörigen „im Namen aller deutschen Bürger“ um Vergebung, plädierte aber auch dafür, die Feinde der Verfassung nicht rechtlos zu stellen.
Der „Mister Bundesrepublik“ (Arnulf Baring) ging 1979 in den Ruhestand. Der französische Politologe Alfred Grosser bilanzierte, Scheel habe die „Legende vom bösen Deutschen“ widerlegt. Günter Grass, der politische Barde der sozialliberalen Koalition, hatte, gar nicht angetan von der Personalie, beim Amtsantritt noch gewettert: Die Bundesrepublik brauche „einen unbequemen Präsidenten“, nicht einen, „der sich mit einer Schallplatte legitimiert und volkstümelt“. Fünf Jahre später sah er sich gezwungen, Scheel als „liberale Gegenkraft“ zu würdigen; ausersehen, „die Gesellschaft in eine neue Entwicklungsphase“ zu leiten. Für eine Wiederwahl hätte er die Stimmen der Union gebraucht, die ihm aber seinen Anteil am Machtwechsel 1969 nicht vergessen hatte. So kandidierte er nicht erneut.
Scheel wurde Ehrenvorsitzender der FDP, übernahm etliche Ämter vom Thyssen-Aufsichtsrat bis zum Kuratoriumsvorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung und meldete sich immer wieder auch zu politischen Entwicklungen zu Wort. So nutzte er 1986 seine Bundestags-Festrede zum 17. Juni nicht nur zu einem Verständnisplädoyer für die Sowjetunion, sondern auch zu einem Realismusplädoyer wider die deutsche Einheit. Auch als Fernseh-Talkmaster hat er sich versucht, fiel aber beim Publikum durch. Ab 1995 entwickelte sich Scheel dann zu einem Kritiker der Regierungskoalition seiner Partei mit der Union und empfahl, zur Not lieber in die Opposition zu gehen. Nicht ohne Stolz meinte er „Es gibt überhaupt keinen Draht in dieser Bundesrepublik, an dem ich nicht irgendwie gezupft hätte.“
Ende 2008 zog Scheel mit seiner dritten Frau Barbara – eine Physiotherapeutin, die er 1988 geheiratet hatte – aus der Hauptstadt, wo er ein eifriger Partygänger und gern gesehener Gast bei vielen kulturellen Events war, ins badische Bad Krozingen nahe der Schweizer Grenze. Seit 2012 lebte er – inzwischen an Demenz erkrankt – in einem Pflegeheim. Zuletzt sorgten Gerüchte um einen unehelichen Sohn sowie ein veritabler Familienstreit für Schlagzeilen. So beantragte Tochter Cornelia 2014 vor Gericht, ihrem demenzkranken Vater sollte ein Betreuer zur Seite gestellt werden. Sie befürchtete, dass ihre Stiefmutter Barbara dem Vater erheblich schaden könnte. Das Gericht folgte dem Antrag, es wurde ein zusätzlicher Betreuungskontrolleur verfügt. Auch sonst sorgte Barbara Scheel immer mal wieder für Wirbel. So nannte sie Philipp Rösler, einen von Scheels Nachfolgern als FDP-Chef, einen „grinsenden Chinesen“ und bezeichnete ihn gar als „die Rache des Vietcong an der deutschen Innenpolitik“. Im Sommer 2014 wurden Scheels Büro in Bad Krozingen und der Leasingvertrag für den Dienst-Phaeton aufgelöst, den Barbara eigentlich nicht ohne ihren Mann nutzen durfte.
Der letzte Minister, der noch in den Kabinetten von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard gedient hatte, und zugleich letzte Politiker aus der Gründergeneration der FDP starb im In- und Ausland hochgeehrt am 24. August 2016 im Alter von 97 Jahren und wurde nach einem Staatsakt auf dem Waldfriedhof Zehlendorf in Berlin beigesetzt. Sein Amtsnachfolger Joachim Gauck würdigte ihn als „lächelndes Gesicht der Entspannung“, als einen „Pfadfinder unserer Republik“, der es verstand, „in einem für unbegehbar gehaltenen Gelände Wege“ zu finden. So ein Pfadfinder täte der Republik heute gut.