„unterstreicht den deutschen Volkscharakter“
31. August 2019 von Thomas Hartung
Es trägt teils profane Namen wie Kommissbrot, teils klangvolle wie Pumpernickel, gilt als gesund, sättigend und ursprünglich: Vollkornbrot. Dennoch betrug 1936 sein Anteil am deutschen Gesamtbrotaufkommen gerade sechs Prozent. Zu wenig, befand Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti: „Der Kampf um das Vollkornbrot ist ein Kampf um die Volksgesundheit“. Um diesen Anteil auf 30 % zu erhöhen, wurde am 1. September vor 80 Jahren in Berlin der Reichsvollkornbrotausschuss RVBA gebildet.
Untergebracht in der Charité, waren darin Vertreter von über 40 Institutionen versammelt, darunter der Reichsnährstand und das Reichsministerium für Ernährung, aber auch die Vierjahresplanbehörde und das Oberkommando der Wehrmacht. Organisatorisch dem Hauptamt für Volksgesundheit der NSDAP und somit auch dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund unterstellt, war der Mediziner Franz Wirz erster und bis zum Ende einziger Vorsitzender.
Der Hintergedanke war zunächst ein wirtschaftlicher: Der Devisenmangel und das Streben nach wirtschaftlicher Autarkie führten dazu, dass der Verbrauch importierter Fette, vor allem pflanzlicher Öle, planmäßig zurückgedrängt werden sollte, womit notwendigerweise eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten verbunden war. Setzte man bei der Ernährung auf Vollkorn, war man unabhängig von ausländischen Importen und bekam die Bevölkerung satt.
Daneben sollte der Konsum von Rindfleisch, Speck, Butter und Schmalz verringert werden, um die gesamtwirtschaftliche „Fettlücke“ zu schließen, was andererseits die Förderung des Verzehrs von (Vollkorn-)Brot, Kartoffeln und Haferflocken bedeutete. Der Ertrag konnte zudem durch die Nutzung der Kleie vergrößert werden, denn im Gegensatz zum Vollkorn, bei dem nach der Ernte nur Grannen und Spelzen entfernt werden und Ballast- sowie Mineralstoffe, Vitamine und Öle in der Schale (der Kleie) und dem Keimling erhalten bleiben, wird bei Weißbrot nur ein Teil des Getreides verwendet.
Aber auch handfeste gesundheitspolitische Interessen standen hinter dem Vollkorn-Hype: Neben großangelegten Kampagnen gegen Alkoholismus, Tabak-Konsum und Süßwarenverzehr wurden ebensolche für Bewegung und Sport auf allen Ebenen gefördert. Dahinter stand die nationalsozialistische Vorstellung, der „Volkskörper“ müsse gestärkt werden, um größere Arbeitsleistung, höhere Fruchtbarkeit (auch im Sinne der Eugenik) und eine höhere Kampfkraft im Krieg zu erzielen. Und genau dazu sollte das gesunde Lebensmittel beitragen.
„Hebung des Vollkornbrotverzehrs“
Dabei standen sich historisch „Gesundheit“ und „soziale Lage“ konträr gegenüber: Eine „On-Off-Beziehung“ des Menschen mit Vollkorn erkennen Tanja Fieber und Christiane Streckfuß auf planet-wissen. Brot aus Weißmehl wurde im 17. Jahrhundert ein Statussymbol der Oberschicht, während grobes Vollkornbrot als ländlich und rückständig galt. So herrschte bis ins frühe 19. Jahrhundert in deutschen Krankenhäusern eine kulinarische Zweiklassengesellschaft: Patienten der Oberschicht bekamen feines Brot aus Weißmehl, da auch ihr Verdauungsapparat verfeinert sei, die anderen Patienten mussten sich mit Schwarzbrot zufrieden geben.
Der Gegentrend begann mit Jean-Jacques Rousseaus Schlachtruf „Zurück zur Natur“ im 18. Jahrhundert: Das Landleben wurde als gesünder bewertet als das Leben in der Stadt, das zu „Zivilisationsschäden“ führe. In Folge galt dunkles, unbehandeltes Mehl als natürlich und gesund im Gegensatz zum menschengemachten Weißmehl. Verstärkt wurde der Trend durch die Lebensreform-Bewegungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts, die natürliche Lebensmittel, alternative Lebensweisen, körperliche Ertüchtigung und Abhärtung bevorzugten: Maximilian Bircher-Brenner als Müsli-Erfinder zählt ebenso dazu wie der Vollwertkost-„Papst“ Werner Kollath.
Die Lebensreformer hatten einen starken Einfluss auf den Nationalsozialismus, der in den 1930er Jahren eine umfangreiche Gesundheitspropaganda zu betreiben begann: Verkauft wurde das über das Bild des „gesunden Volkskörpers“, der gestärkt werden muss. Zudem waren einige führende Nationalsozialisten auch Anhänger von völkisch-romantischen Vorstellungen eines einfachen bäuerlichen Lebens und wollten die „undeutsche“ städtische Lebens- und Ernährungsweise durch eine „arteigene“ Nahrung ersetzen.
Der Chefideologe des Reichsnährstands ist Richard Walther Darré, Reichsbauernführer und Landwirtschaftsminister zugleich, der Deutschland zu einem Bauernvolk machen will. Die Historikerin Anna Bramwell von der Universität Oxford nennt ihn später den ersten „grünen Nazi“. In Darrés Welt ist der deutsche Bauer, mythisch überhöht, dessen Wurzel und „Blutsquell“. Die Idee vom neuheidnischen Bauernvolk ist ihm der Gegenentwurf zur „Entartung“ der Städte. Die phantasierte Vergangenheit und Darrés Blut-und-Boden-Okkultismus passen zu Hitlers Kriegspropaganda – auch, weil es im Deutschen Reich, das „überbevölkert“ (Hitler) scheint, für ein remittelalterisiertes Bauerntum unbestreitbar zu wenige Äcker gibt.
Die Historikerin Ulrike Thoms hält fest, „dass die Ernährungsforscher politische Wissenschaft betrieben, indem sie einen Beitrag zur Ernährung des ‚Volks ohne Raum‘ leisteten“. Diesem Zweck dienten auch andere Institutionen wie die Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung, aber eben erst recht der Reichsvollkornbrotausschuss mit mehreren hundert Mitarbeitern. Laut Reichsgesundheitsführer Conti passe Vollkornbrot gut zur arischen Ideologie, weil dieses natürlich und gesund sei, gegen Karies helfe und somit den deutschen Volkscharakter in besonderem Maße unterstreiche. Getreu diesem Credo initiierte der RVBA im ganzen Land die „Reichsaktion für die Hebung des Vollkornbrotverzehrs“.
„Das Brot ist ein heiliger Begriff“
Die Propagandamaschinerie hatte mehrere Komponenten. Zum ersten eine administrative: Im gesamten Reich wurden Gausachbearbeiter für die Vollkornbrotaktion ernannt, in Franken etwa übernahm der prominente Naturheilkundler Karl Kötschau diese Funktion. „Das Brot ist ein heiliger Begriff, in ihm lebt der Geist vom Urquell der Kultur und der Urkraft unserer Rasse“, ist in einer der RVBA-Schriften zu lesen.
Zum zweiten eine werbliche: Pressetexte unterstrichen insbesondere die gesundheitsfördernde Wirkung des überdies kostengünstigen Vollkornbrots, stellten Weißbrot als unnatürliches, „chemisches“ Produkt dar und brachten den übermäßigen Verzehr von Fleisch und Fett mit Adipositas und Krebserkrankungen in Zusammenhang. Auch mit Briefmarken, Plakaten, Kurzfilmen in Kinos und Rezeptbüchern wurde für Vollkornbrot geworben. So erschien 1941 der Band „Getreidegerichte aus vollem Korn – gesund, kräftig, billig! Mit 150 Rezepten. Auf Veranlassung des Reichsvollkornbrotausschusses herausgegeben“ von Prof. Sigwald Bommer, dem Leiter des Instituts für Ernährungslehre Berlin, und seiner Frau Lisa. Er ist heute noch antiquarisch erhältlich.
Und zum dritten eine lebensmitteltechnologische: So wurden einheitliche Richtlinien für Vollkornbrot erarbeitet und im gesamten Reich Vollkornbrot-Schulungen abgehalten. Bäcker, deren Produkte einer Überprüfung durch den RVBA genügten, durften sich als „Vollkornbrotbäcker“ bezeichnen und ihr Vollkornbrot mit dem offiziellen Gütezeichen in Form einer Lebensrune kennzeichnen. 1941 existierten schon 22.903 Vollkornbrot-Bäckereien, 1943 waren bereits 23 % aller Bäckereien anerkannte Vollkornbrotbetriebe.
Im April 1945 stellt der RVBA wie viele andere Organe seine Aktivitäten ein. Manche seiner Aktivisten dagegen fassten nach dem Krieg problemlos Fuß. Etwa Kollath, einst bekennender Freund von Zwangssterilisierungen als „edle Form der Humanität“, der nach 1945 populäre Ratgeber von der „Lebensgemeinschaft“ von Volk und Getreide schrieb, aus seinen Lehrbüchern das Wort „Rassenhygiene“ strich und den Namen Goebbels einfach durch Goethe ersetzte, wie der Historiker Jörg Melzer zürnt. Bis heute fördert die Kollath-Stiftung die Erforschung von Vollwertkost, Ökolandbau und Ganzheitsmedizin.
Oder gar Franz Wirz, der 1948 im Entnazifizierungsverfahren in die Kategorie III als „Minderbelasteter“ eingestuft wurde, sich als Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in München niederließ und in der 1953 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Ernährung DGE engagierte, wo er zum ersten Vorstand gehörte. In ihren Broschüren warb die DGE für das Vollkornbrot aufgrund des hohen Vitamingehalts und seiner günstigeren Herstellungskosten und pries es besonders im Hinblick auf die Ernährung Heranwachsender an.
Vollkornbrot bleibt das beliebteste Brot
Allerdings kam es in den 50er Jahren zur sogenannten „Fresswelle“, und das schnöde Vollkornbrot verlor zunehmend an Attraktivität: 1958 war der Verbrauch gegenüber 1938 um ein Sechstel zurückgegangen. Wie sehr der Leistungsgedanke noch 1970 mit dem Verzehr von Vollkornbrot assoziiert wurde, zeigt die Forderung des Münchner Schulpsychologen Robert Burger: Ein deutscher Gymnasiast brauche neben „Mutters Zärtlichkeit“ vor allem viel Vollkornbrot. Doch das erlebte erst im Rahmen der Öko- und Umweltbewegung der 80er Jahre ein Comeback.
Mit 300 verschiedenen Brotsorten und einem jährlichen Verzehr von ca. 80 Kilo pro Person verweist Deutschland heute gerne auf seinen weltweiten Spitzenplatz. Vollkornbrot bleibt dabei unangefochten das beliebteste Brot und besetzt mit 28 % den größten Marktanteil. 2011 bezeichnete der Spiegel Brot als eines der letzten großen deutschen Heiligtümer: „Wenn man den Deutschen ernährungstechnisch beschreiben müsste, wäre die Kartoffel sein Leib und Bier der Geist. Das Vollkornbrot mit seiner dunklen, kräftigen Schwere aber wäre seine Seele.“